Altersbestimmung der lebenden Gämse
Die weidgerechte Jagd auf Gämsen erfordert ein sicheres Ansprechen bezüglich Geschlecht, Altersklasse und Gesundheit der Tiere. Darüber hinaus ist es wichtig, ob eine Geiss ein Kitz führt oder nicht. Am lebenden Tier wird dazu die Gesamterscheinung beurteilt, wobei die folgenden Merkmale eine Rolle spielen:
- Krucken (Länge/Höhe, Durchmesser/Stärke, Hakelung)
- Körperbau (Vorschlag, Rückenlinie, Bauchlinie, Knochigkeit, Gesäuge, Kurzwildbret)
- Haarkleid (Pinsel, Schwanzhaare, Barthaare, Fellfarben, Fellqualität, Haarwechsel)
- Verhalten (Sozialverhalten, Rudelverhalten)
- Gesundheit (Husten, Durchfall, Abmagerung, Augenveränderungen, auffälliges Verhalten, ....)
Das sichere Ansprechen von lebenden Gämsen beherrscht nur derjenige wirklich, der die Möglichkeit zum ständigen Üben im Gelände und auf der Jagd hat. Die Krucken sind beim lebenden wie beim erlegten Tier aber auch für ihn ein wesentlicher Bestandteil zum Ansprechen des Alters und des Geschlechtes. Das Ansprechen der Krucken von erlegtem Gämswild stellt somit einen idealen Startpunkt für denjenigen dar, der sich die Fähigkeit zum korrekten Ansprechen des lebenden Gämswildes aneignen will. Nicht zuletzt ist für den Revierpächter eine korrekte Altersansprache auch aus jagdplanerischen und jagdstatistischen Gründen wichtig. Die folgende Zusammenstellung behandelt die Altersansprache beim Gämswild.
Altersbestimmung der erlegten Gämse
Bei der erlegten Gämse kann das Alter in Jahren (und Monaten) meistens relativ präzise geschätzt werden, sobald die folgenden Bedingungen erfüllt sind:
- Krucken vorhanden
- Schneidezähne vorhanden
- Todesdatum bekannt
Kruckenentwicklung
Die Krucken des Gämswildes wachsen jährlich schubweise im Sommerhalbjahr. Das Kruckenwachstum beginnt beim jungen Tier bereits im Vorfrühling (Februar/März) und hört im Herbst (November/Dezember) wieder auf. Im Winterhalbjahr stagniert das Wachstum vollständig. Durch dieses Wachstum entstehen Absätze im Kruckenverlauf, die sogenannten Jahrringe - vergleichbar mit denen im Baumstamm. Speziell beim jungen und schnell wachsenden Horn können aber überzählige Absätze entstehen, die als Schmuckringe bezeichnet werden. Aufgrund solcher Schmuckringe stellt sich dem Jäger häufig die Frage: Schmuckring oder Jahrring?
Da diese Schmuckringe meist in den Wachstumsschüben des 2. bis 4. Lebensjahres entstehen, werden gerade junge Gämsen im Alter eher überschätzt. Ein wichtiges Hilfsmittel zum Erkennen und Aussondern von Schmuckringen ist die Kenntnis über den normalen Wachstumsverlauf der Krucke bei der gesunden Gämse. Wenn die normale (=durchschnittliche) Länge der Wachstumsschübe bekannt ist, kann die Altersansprache eindeutiger erfolgen.
Wie schliesst man auf das Alter der Gämse?
Wie beim Menschen wird das korrekte Alter der Gämse mit ihren vollendeten Altersjahren angegeben. Bei der Gämse nimmt man an, dass der Wechsel des Gämsenjahres (quasi der Geburtstag der Gämse) jeweils am 1. Juni stattfindet. Eine Gämse die im September erlegt wird, hat somit das Alter ihres letzten Geburtstages plus 4 Monate. Dadurch besitzt eine Gämse. die im Herbst erlegt wird immer einen Jahrring mehr als sie alt ist, weil der letzte Wachstumsring dem Wachstumsschub des vergangenen letzten Sommers darstellt. Beispielsweise zeigt ein Kitz einen Wachstumsring, ist aber erst 4 Monate alt; ein Jährling besitzt zwei Wachstumsringe, ist aber erst 1 Jahr und 4 Monate alt; ein 3-jähriges Tier weist vier Wachstumsringe auf, ist aber erst 3 Jahre und 4 Monate alt usw. Diese wichtige Regel gilt es ganz besonders zu beherzigen, da sonst alle Gämsen ein Jahr zu alt bestimmt werden.
Um das effektive Alter besser schätzen zu können ist es wichtig zu wissen, wie alt Gämsen in der Natur werden können. Die folgenden Angaben gelten für Gämsen, die das Jährlingsalter erreichen:
- Maximalalter: Das maximale Alter für frei lebende Gämsen liegt bei Geissen bei ca. 24 Jahren und bei Böcken bei ca. 20 Jahren.
- Durchschnittsalter: Das Durchschnittsalter hingegen liegt bei einer bejagten Population im Bereich von zwischen ca. 3-6 Jahren, je nach Stärke der Bejagung.
- Hohes Alter: Wenige Gämsen werden alt. Schätzungsweise werden bloss ca. 10% der Böcke älter als 8 jährig und ca. 10% der Geissen älter als 12 jährig.
- Sehr hohes Alter: Noch seltener sind wirklich alte Tiere: weniger als ca. 1% der Böcke einer Population werden älter als 12 jährig oder bei Geissen 17 jährig.
Abb. 2a - Krucke eines dreijährigen Bockes im September seines vierten Lebensjahres (exakt 3 Jahre und 4 Monate alt). Der Kitzjahrring ist kaum mehr zu erkennen, dafür sind einige Schmuckringe im letzten Wachstumsschub offensichtlich. Trotz vier Wachstumsringen zählen wir nur die vollständigen Lebensjahre, der Bock ist also 3-jährig, weil der letzte Ring das Wachstum während dem vergangenen letzten Sommer der Gämse darstellt.
Abb. 2b - Krucke eines 15 jährigen Bockes im September seines sechzehnten Lebensjahres (exakt 15 Jahre und 4 Monate alt), ca. natürliche Grösse. Der Kitzwachstumsschub ist nicht mehr zu sehen. Die Millimeterringe sind hier weit leichter erkennbar als die andern Jahresabschnitte. Nur durch unsere Kenntnis von den Wachstumsschüben in den ersten 4 Lebensjahren wissen wir exakt Bescheid über das Alter des Bockes.
Zahnwechsel
1. Zahnwechsel der Schneidezähne
Gämsen wechseln in ziemlich vorhersagbarer Abfolge ihre Schneidezähne. In den ersten drei Lebensjahren ist dieser Schneidezahnwechsel eine wichtige Ergänzung zur Altersbestimmung anhand der Krucken, um junge Gämsen (unter vierjährig) sicher von älteren Gämsen zu unterscheiden.
Gämsen wechseln in ziemlich vorhersagbarer Abfolge ihre Schneidezähne. In den ersten drei Lebensjahren ist dieser Schneidezahnwechsel eine wichtige Ergänzung zur Altersbestimmung anhand der Krucken, um junge Gämsen (unter vierjährig) sicher von älteren Gämsen zu unterscheiden.Die Milchschneidezähne brechen unmittelbar vor oder nach der Geburt durch, so dass Kitze im Alter von 1-2 Monaten bereits alle Milchschneidezähne besitzen. Diese paarweisen Schneidezähne werden von innen nach aussen mit I1, I2, I3 und C bezeichnet. I steht dabei für Incisivi (=Schneidezähne) und C für Canini (=Eckzähne). Die Incisivi bezeichnet man dabei jagdlich oftmals als "Zangen". Beim Schneidezahnwechsel hin zum Dauergebiss werden von innen nach aussen zuerst die beiden I1 gewechselt, dann die I2, die I3 und zuletzt die beiden C. Verschiedene Autoren geben unterschiedliche Schemata des Zahnwechsels an. Der Schneidezahnwechsel scheint von der Kondition der Gämse abhängig zu sein. Zusammenfassend gilt annäherungsweise der folgende Zahnwechsel (siehe Abbildung 3).
Dieser Schneidezahnwechsel vom Milch- zum Dauergebiss bedeutet deshalb, dass Gämsen zur Jagdzeit im Herbst in der Regel die folgende Zahnentwicklung zeigen, (Prozentsätze sind auf persönlicher Erfahrung beruhende Schätzwerte):
Kitze besitzen stets Milchschneidezähne; Jährlinge sind zu 90 % zweischaufelig, selten Milchgebiss; zweijährige Gämsen sind zu 90 % vierschaufelig , ganz selten sechs- oder zweischauflig; dreijährige Gämsen sind zu 50 % sechsschaufelig und zu 45% ausgeschaufelt; vierjährige Gämsen sind zu 95% ausgeschaufelt; fünfjährig und ältere Gämsen sind zu 100% ausgeschaufelt; sehr alte Gämsen (14+ jährig) besitzen mehr oder weniger abgewetzte Schneidezähne.
Abb. 3 - Schneidezahnwechsel beim Gamswild vom Milchgebiss zum Dauergebiss. Dunkle Bereiche markieren den Hauptzeitpunkt des Wechsels, helle Bereiche hingegen zeigen in etwa den Schwankungsbereich auf. Zur Jagdzeit im Herbst existieren wesentliche Überschneidungsbereiche der Zahnfolge.
2. Wechsel der Backenzähne
Der Wechsel der Backenzähne erfolgt erst im vierten Lebensjahr und ist eine weitere Möglichkeit, das Alter einer Gämse zu bestimmen. Auch dieser Zahnwechsel ist von Person zu Person unterschiedlich. Bei verendetem Wild werden oft nur die Backenzähne gefunden, so dass die Kenntnis dieser Veränderungen nützlich sein kann, um das Alter des verendeten Tieres zu schätzen.
Die Milchmolaren entwickeln sich unmittelbar nach der Geburt. Das abschließende Zahnen der Backenzähne erfolgt in der Regel in dieser zeitlichen Abfolge
- M1-Molaren mit etwa 6 Monaten;
- M2-Molaren mit 15 Monaten;
- M3-Molaren mit etwa 27 Monaten;
- Prämolaren P2/P3/P4 im Alter von etwa 27 bis 36 Monaten.
Abb. 4 - Schädel eines 9-jährigen männlichen Exemplars mit farblicher Kennzeichnung der verschiedenen Zahntypen. Hellblau = Prämolaren P2, P3, P4; Rot = Molaren M1; Gelb = Molaren M2; Hellgrün = Molaren M3. M steht für Molarenzähne und P für Prämolaren. Die Schneidezähne I1-3 und die Eckzähne C sind ebenfalls rot markiert. Beachten Sie, dass der Prämolar P4 im Unterkiefer in 2 Teile geteilt ist. In der Milchzahnphase war sie noch in 3 Teile geteilt. Ähnlich verhält es sich mit den Prämolaren P3 und P4 des Oberkiefers, die im Milchzahnstadium noch in zwei Teile geteilt waren, während sie hier in einem Teil erscheinen.
Bedeutung des Backenzahnes P4
Wie beim Rehwild ist bei der Gämse der hinterste Prämolar (P4) des Unterkiefers als Milchzahn dreiteilig, als definitiver Zahn hingegen zweiteilig. Sobald der P4 zweiteilig vorhanden ist, ist die Gämse mindestens 2 Jahre und 3 Monate (27 Monate) alt. Ähnliches gilt für P3 und P4 im Oberkiefer, die als Milchzähne zweiteilig, im Dauergebiss aber einteilig erscheinen.
Geschlechterunterschied beim Gämswild
Der Kruckenumfang an der Hornbasis ist bei Böcken grösser als bei Geissen. Bei den Böcken fällt die Hackelung meist stärker aus als bei Geissen. Sie zeigen oft nur ein leicht gebogenes Horn.