Viele Amerikareisende schwärmen von den riesigen Waldreservaten wie Redwood, Sequoia oder Yellowstone in den gleichnamigen Nationalpärken der USA. Mit Ausnahme der naturbelassenen Bergwälder im Engadiner Nationalpark finden sie in der Schweiz nichts Vergleichbares. Die Idee, grosse Waldschutzgebiete zu schaffen, setzt sich bei uns nur zögerlich durch. Noch in den 1990er Jahren waren erst magere 1,5 Prozent der Schweizer Waldfläche als Reservate ausgewiesen. Mehr sei nicht nötig, fanden damals viele Waldbesitzende und Politiker. Allgemein herrschte die Meinung vor, mit den Jagdbanngebieten und der Erholung der Wildbestände sei eines der Hauptziele im Naturschutz bereits erreicht. Im Vergleich zu den oft naturfremden Forstbeständen im Ausland erachtete man den Schweizer Wald dank seiner naturnahen Bewirtschaftung ohnehin als ein einziges Grossreservat.

Umso überraschter reagierten Waldeigentümer und Behörden, als Forderungen nach zusätzlichen Waldschutzgebieten laut wurden: 10 Prozent verlangte der WWF, 18 Prozent die Schutzorganisation Pro Natura und gar 50 Prozent ein junger Umweltaktivist vor dem Bundeshaus. Den Anstoss dazu hatte der erste Erdgipfel in Rio von 1992 gegeben. Damals verpflichteten sich die Unterzeichnerstaaten der Biodiversitätskonvention, zu denen auch die Schweiz gehört, grosszügig bemessene Waldreservate einzurichten.

In diesen Schutzgebieten soll die Biodiversität Vorrang haben vor anderen Waldfunktionen wie Holznutzung oder Erholung. In den Reservaten will man auch die wirtschaftlich uninteressanten, aber ökologisch wertvollen Zerfalls- und Pionierphasen zulassen und so vielfältige Lebensräume für seltene Tier- und Pflanzenarten schaffen.

Konzept Waldreservate Schweiz

Der Bund lässt in der Folge ein Basispapier für eine schweizerische Waldreservatspolitik erarbeiten, deren Gestaltung und Umsetzung dann den Kantonen überlassen bleibt. Das 1998 publizierte "Konzept Waldreservate Schweiz" zeigt das Potenzial auf und gibt Hinweise für die Planung und Einrichtung von Waldreservaten. Im Anhang enthält es Karten, auf denen die potenziell geeigneten Gebiete eingezeichnet sind.

Sie bieten den Betroffenen reichlich Diskussionsstoff. 2001 einigten sich das Bundesamt für Umwelt und die kantonalen Forstdirektoren in den "Leitsätzen einer schweizerischen Waldreservatspolitik" auf konkrete nationale Ziele. Demnach sollen bis zum Jahr 2030 10 Prozent der Schweizer Waldfläche als Reservate ausgewiesen sein. Auf etwa der Hälfte aller geplanten Reservatsgebiete will man die natürliche Waldentwicklung wieder zulassen. In solchen Naturwaldreservaten (NWR) wird ganz oder weitgehend auf Eingriffe verzichtet. Je nach Status sind eine Regulation der Wildtierbestände mittels Jagd sowie Sicherheitsschläge an Strassen und die Waldbrandbekämpfung möglich. Ansonsten lässt man der natürlichen Entwicklung freien Lauf und stärkt damit vor allem Organismen, die im Wirtschaftswald zu kurz kommen, wie beispielsweise im Holz lebende Insekten und Pilze. Etwa ein Fünftel aller Tiere und Pflanzen im Wald – also über 6000 Arten – sind auf Totholz als Lebensraum und Nahrungsquelle angewiesen.

Die restlichen 5 Prozent der gesamten Waldfläche sollen als Sonderwaldreservate (SWR) dienen. Um die ökologische Qualität bestimmter Biotope zu erhalten sowie ausgewählte Pflanzen- und Tierarten zu fördern, sind hier gezielte Eingriffe möglich und oft sogar nötig. Dazu zählen etwa die Entbuschung von Felsen und Geröllhalden mit Reptilienpopulationen oder die Freihaltung von Waldlichtungen für Tagfalter, Orchideen oder das Auerwild.

Ein weiteres Beispiel sind die vom BAFU unterstützten Eichenförderungsprogramme. Damit will der Bund unter anderem den Mittelspecht sowie den Hirschkäfer erhalten und deren Ausbreitung fördern.

Zudem besteht die Absicht, innerhalb der geplanten Reservatsfläche 30 Grossreservate von mindestens 500 Hektaren einzurichten – und zwar bei einer angemessenen Verteilung auf die Regionen.

Neben diesem quantitativen Ziel formuliert das Konzept auch qualitative Ziele: Angestrebt werden eine repräsentative Vertretung der über 120 bei uns vorkommenden Waldgesellschaften sowie die besondere Berücksichtigung der seltenen und gefährdeten Waldtypen, für die unser Land auch eine internationale Verantwortung trägt – beispielsweise die Lärchen-Arvenwälder der Zentralalpen oder die Alpenrosen und Torfmoos-Bergföhrenwälder.

Zwischenbilanz des BAFU

Nach den ersten 10 von 30 Jahren haben die Kantone bei allen quantitativen Zielen bereits gut die Hälfte der Vorgaben erreicht, wie eine erste Zwischenbilanz des BAFU zeigt. Insgesamt sind heute auf 4,6 Prozent der Waldflächen Reservate ausgeschieden, davon 2,5 Prozent als NWR und 2,1 Prozent als SWR. Allerdings variiert der Wert in den verschiedenen Regionen. "Die vorliegenden Zahlen aus den Kantonen stimmen uns insofern optimistisch, als wir das quantitative Ziel bereits fast zur Hälfte erreicht haben", stellt Markus Bolliger von der BAFU-Sektion Jagd, Wildtiere und Waldbiodiversität fest.

Für eine tiefere Analyse der qualitativen Aspekte benötigt der Bund aber die genauen geografischen Daten jedes einzelnen Reservats. Dazu erarbeitet das BAFU eine umfassende Statistik, die Ende 2012 vorliegen sollte. Laut Markus Bolliger "wird es in den nächsten Jahren wohl schwieriger, weitere und vor allem grössere zusammenhängende Flächen als Reservate auszuweisen. Es sind nämlich immer weniger Waldbesitzer bereit, langfristig auf die Holznutzung in ihrem Wald zu verzichten." Dafür gibt es vermutlich unterschiedliche Gründe. Zum Beispiel sind die Eigentümer emotional an ihren Wald gebunden, wollen sich für die Zukunft nichts vergeben oder empfinden die finanzielle Unterstützung durch die öffentliche Hand als ungenügend.

Es braucht mehr Grossreservate

Schwachpunkte sieht Markus Bolliger auch bei der regionalen Verteilung der Reservate, bei ihrer Grösse und hinsichtlich der Repräsentativität der Waldtypen. Untervertreten seien beispielsweise die landschaftsprägenden Buchenwälder, Ahorn- und Tannen-Buchenwälder, Fichten-Tannenwälder sowie Föhren und Auenwälder. Immerhin gibt es inzwischen schon 18 Grossreservate mit einer Waldfläche von je mindestens 500 Hektaren, die sich allerdings vorwiegend auf wenige Gebiete konzentrieren. "Die Schaffung von weiteren Grossreservaten in allen Regionen ist nur möglich, wenn die Kantone eng zusammenarbeiten", stellt die ETHForscherin Jasmin Bernasconi fest.

Ihre im Rahmen einer Bachelorarbeit vorgenommene Zwischenbilanz über 10 Jahre gemeinsame Waldreservatspolitik von Bund und Kantonen zeigt auf, dass mehr als die Hälfte der Stände noch nicht mit den Nachbarkantonen zusammengearbeitet haben, um Grossreservate auszuscheiden. Die Forstämter müssten dafür unbedingt mehr investieren, denn die Grösse sei sehr wohl wichtig. "Viele Naturwaldreservate sind zu klein, um die gewünschten ökologischen Funktionen erfüllen zu können", sagt Markus Bolliger. "Damit sich alle Entwicklungsphasen auf einer Fläche ausbilden können, muss ein Reservat eine gewisse Mindestfläche haben – das heisst im Minimum 40, aber besser 100 Hektaren und mehr."

Relikte eines Mittelwaldes

Nicht immer ist die Baumartenvielfalt in Reservaten reicher als in naturnah bewirtschafteten Wäldern. Im NWR "Bois de Chênes" bei Nyon (VD) beispielsweise stehen viele Eichenbäume, wie der Name erraten lässt. Allerdings sind sie nicht das Resultat einer natürlichen Walddynamik, sondern ein Produkt der früheren Waldbewirtschaftung, deren Spuren noch heute gut sichtbar sind. Abgeschnittene Eichenstrünke und Bestände mit hohem Eichenanteil weisen darauf hin, dass der "Bois de Chênes" früher als Mittelwald bewirtschaftet wurde. Man liess einzelne Eichenbäume älter werden und fällte sie erst, wenn sie einen nutzholzfähigen Durchmesser erreicht hatten. Derweil wurde aus der Unterschicht alle 30 Jahre flächig das Brennholz geerntet.

Auch andere Gehölzarten im "Bois de Chênes" sind wohl Kulturrelikte, darunter Sträucher wie Goldregen und Kornelkirsche sowie Nadelbäume wie Fichten, Tannen, Lärchen und Douglasien. Für eine nahe gelegene Streichholzfabrik wurden sogar nordamerikanische Pappeln angepflanzt.

Mehr Totholz und Baumriesen

Im Jahr 1961 trat die Waadtländer Gemeinde Grenolier die Nutzungsrechte für den "Bois de Chênes" an den Kanton ab, der 1966 eine Schutzverordnung für eine Fläche von 160 Hektaren Wald und Waldwiesen erliess. Seitdem sind im "Bois de Chênes" die Buchen auf dem Vormarsch, wie überall in den tieferen Lagen der Schweiz. Peter Brang, Mitarbeiter der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) und Co-Autor des Buchs Waldreservate. 50 Jahre natürliche Waldentwicklung in der Schweiz (Haupt Verlag, 2011), weist auf die langfristige Entwicklung hin: "Da die Buche eine dichte Krone hat und sehr viel Schatten wirft, kommen viele andere Baumarten unter Druck, weshalb die Baumartenvielfalt langsam zurückgeht. Dafür nimmt die Menge an Totholz und damit die Zahl an Insekten-, Vogel- und Pilzarten, die auf abgestorbenes Holz angewiesen sind, stark zu. Längerfristig, wenn die derzeit heranwachsende und älter werdende Buchengeneration abgelöst wird, dürfte die Baumartendiversität wieder zunehmen, ganz besonders nach Störungsereignissen wie Windwurf."

Die zu einem bestimmten Zeitpunkt beobachtete Artenvielfalt in einem Naturwald ist also nur eine Momentaufnahme aus einem endlosen Film, der lange ein Zeitlupentempo einhält, um plötzlich wie im Zeitraffer abzulaufen, wenn sich die Ereignisse nach einem Sturm oder Waldbrand überstürzen. Anders ist es im Wirtschaftswald – hier endet der Film, noch bevor alle Protagonisten auftreten konnten.