Forstwirtschaft ist zweifellos die Landbewirtschaftungsform mit der größten Naturnähe. Dennoch gibt es zumindest in Mitteleuropa kaum noch Wälder, die nicht vom Menschen geprägt sind. Trotz der hohen Qualität unserer Forstwirtschaft, intensiver Forschung und einer langjährigen naturnahen Waldbehandlung sind uns Forstleuten häufig immer noch manche natürlichen Abläufe in dem komplexen Ökosystem nicht oder zu wenig bekannt. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf den zu beobachtenden Klimawandel, durch den sich die Rahmenbedingungen für das waldbauliche Handeln zunehmend ändern. Mehr denn je kommt es heute darauf an, die Entwicklung geeigneter, unbeeinflusster Vergleichsflächen zu beobachten und wissenschaftlich zu untersuchen. Nur bei Kenntnis der natürlich ablaufenden Prozesse in den verschiedenen Waldgesellschaften können wir unsere Zielvorstellungen für einen naturnahen Waldbau weiterentwickeln und in die Praxis umsetzen. Naturwaldreservate bieten die einmalige Gelegenheit, die natürliche Dynamik in unseren Wäldern besser zu verstehen und für eine nachhaltige und zukunftsfähige Forstwirtschaft nutzbar zu machen.
Ausweisung und Flächenstand
Bayern verfügt seit langem über ein repräsentatives Netz an Naturwaldreservaten. Am 20. Februar 1978, vor über 30 Jahren, wurden insgesamt 135 Naturwaldreservate mit einer Fläche von 4.400 Hektar offiziell ausgewiesen und ihrer natürlichen Entwicklung überlassen. Derzeit gibt es in Bayern 154 Naturwaldreservate mit einer Fläche von insgesamt circa 6.600 Hektar und einer durchschnittlichen Größe von 42 Hektar. Davon liegen 151 im Staatswald und drei im Körperschaftswald.
Bei der Ausweisung von Naturwaldreservaten werden nach dem Motto "Klasse statt Masse" hohe Maßstäbe angesetzt. So sollen Naturwaldreservate möglichst alle in Bayern vorkommenden natürlichen Waldgesellschaften mit ihren typischen Standorten und Lebensgemeinschaften repräsentieren, also sowohl seltene Waldtypen auf Extremstandorten als auch flächig verbreitete Waldgesellschaften auf mittleren und guten Standorten. Voraussetzung für eine Ausweisung ist ein möglichst naturnaher Zustand hinsichtlich Baumartenzusammensetzung und Waldstruktur.
Im Jahr 2007 wurde die Bekanntmachung "Naturwaldreservate in Bayern" neu gefasst und im Allgemeinen Ministerialblatt Nr. 6 veröffentlicht. Die neue Bekanntmachung enthält wichtige Informationen für Waldbesitzer und regelt die Zuständigkeiten für die Naturwaldreservate.
Lernobjekte für eine naturnahe Forstwirtschaft
In Naturwaldreservaten findet – abgesehen von notwendigen Maßnahmen des Waldschutzes gegenüber angrenzenden Wäldern und der Verkehrssicherung – keine Bewirtschaftung statt. So können sich diese Waldflächen frei von jeder menschlichen Einflussnahme natürlich entwickeln.
Die Ausweisung von Naturwaldreservaten dient vor allem der Erfassung und Erforschung der ökologischen Zusammenhänge und der natürlichen Entwicklung, daneben aber auch der Sicherung repräsentativer Waldlebensräume und dem Erhalt der biologischen Vielfalt. Diese "waldökologische Forschung" in Naturwaldreservaten stützt sich auf Erhebungen der Böden, der Vegetation, der Waldstruktur und der Fauna unter den lokal gegebenen Standortsverhältnissen. Zur Optimierung der naturnahen Forstwirtschaft werden die Naturwaldreservate mit Wirtschaftswäldern verglichen. Aus den gefundenen Gemeinsamkeiten und Unterschieden ergeben sich wichtige Hinweise für die Waldbewirtschaftung. Beispielsweise wurde auf dieser Grundlage die Rolle der Buche in Bayern neu bewertet und die Karte der "Regionalen natürlichen Waldzusammensetzung" überarbeitet. Außerdem ergeben sich aus den Erkenntnissen in Naturwaldreservaten wichtige Hinweise für die Baumartenwahl im Zuge des notwendigen Waldumbaus zur Anpassung der Bayerischen Wälder an den Klimawandel. Nicht zuletzt stellen die umfangreichen Untersuchungen zur Abhängigkeit von Artengemeinschaften von bestimmten Waldstrukturen eine wichtige Grundlage für Naturschutzstrategien (z.B. Managementpläne für FFH-Gebiete) in Wirtschaftswäldern dar.
Die natürliche Dynamik in Naturwaldreservaten, das Reifen, Absterben und Verjüngen der Waldbäume, führt langfristig zu Waldstrukturen, die urwaldähnlich aufgebaut sind. Sie haben daher eine besondere Bedeutung für den Erhalt der Biodiversität in unseren Wäldern. Solche Waldbilder bieten ferner ein besonderes Naturerlebnis für die Waldbesucher. Naturwaldreservate eignen sich daher auch hervorragend zur Darstellung natürlicher Kreisläufe und Wirkungszusammenhänge in Wäldern und damit für die forstliche Umweltbildung.