Abb. 2 - Dicke Weisstannen im Naturwaldreservat Leihubelwald bei Giswil/OW. Hier wurde der Wald seit 90 Jahren nicht mehr bewirtschaftet. Foto: Caroline Heiri (WSL)
Abb. 3 - Liegendes Totholz hat im Ökosystem Wald eine grosse Bedeutung. Naturwaldreservate sind prädestiniert dafür, die natürliche Totholzdynamik zu erforschen. Foto: Reinhard Lässig (WSL)
Abb. 3 - Liegendes Totholz hat im Ökosystem Wald eine grosse Bedeutung. Naturwaldreservate sind prädestiniert dafür, die natürliche Totholzdynamik zu erforschen. Foto: Reinhard Lässig (WSL)
Abb. 5 - Mitautorin Caroline Heiri kluppiert einen Bergahorn: Die langjährigen Datenreihen sind für die Forschung besonders wertvoll. Foto: Reinhard Lässig (WSL)
Abb. 6 - Waldreservate interessieren nicht nur Wissenschaftler. Erstautor Peter Brang erläutert Forschungsergebnisse im Reservat Josenwald am Walensee. Foto: Kathrin Brugger (WSL)
Abb. 7 - Das reich bebilderte Buch "Waldreservate" dokumentiert nicht nur, es zeigt anhand von 14 Reservaten vor allem auf, wie sich diese im Laufe der vergangenen Jahrzehnte verändert haben.
Interview mit Koautor Harald Bugmann
Wo würden Sie hingehen, wenn Sie von Zürich aus einen Naturwald sehen möchten?
Da komme ich in Konflikt zwischen der Natur, die ich sich selbst überlassen möchte, und dem Anliegen, die Schönheiten dieser Natur anderen Menschen zugänglich zu machen. Wir möchten mit dem Buch keinen Massentourismus in die Reservate auslösen. Deshalb bin ich mit einer Empfehlung zögerlich; aber zu jedem der 14 Waldreservate, die wir im Buch vorstellen, gibt es eine detaillierte Karte, so dass man die Reservate leicht finden kann. Die meisten Reservate sind weglos und deshalb auch nicht ungefährlich zu begehen. Da kann man plötzlich an einem Grat stehen und nicht mehr vorwärts und rückwärts wissen. Das ist uns bei unserer Feldarbeit selbst schon passiert.
Der Sihlwald wurde durch das Label "Naturerlebniswald" zum Naturwaldreservat. Würden Sie selbst diesen für die Zürcher nicht empfehlen wollen?
Der Sihlwald ist relativ frisch in unserem Beobachtungsnetzwerk. Er ist erst auf dem Weg zu einem natürlichen, nicht vom Menschen beeinflussten Wald. Für einen Waldspaziergang ist der Sihlwald sehr schön, aber wenn es um Naturwald-Eigenschaften geht, würde ich eher den Josenwald am Walensee nennen. Das ist ein sehr vielfältiger Laubmischwald mit Linden, Eichen, Buchen und vielen anderen Arten, durch den ein Wanderweg von Quinten nach Walenstadt führt. Den kann ich ohne Hemmungen empfehlen. Aber er ist keines meiner persönlichen Highlights (lacht verschmitzt).
Was unterscheidet ein Naturwaldreservat von einem Waldreservat?
Naturwaldreservate sind Reservate, die spätestens von dem Moment an, in dem sie zu diesem erklärt wurden, keinerlei Eingriffen durch den Menschen mehr unterliegen. Das Label sagt aber nichts über den Zustand des Waldes, sondern nur über den Status seines Schutzes. Naturwaldreservat heisst nicht, dass es ein vom Menschen völlig unberührter Wald ist; das kann früher ein stark bewirtschafteter Bestand gewesen sein. Wir unterscheiden bei den Waldreservaten zwischen Naturwaldreservaten, bei denen keine Eingriffe vorgenommen werden, und Sonderwaldreservaten, in denen Eingriffe gemacht werden dürfen, um bestimmte Prozesse zu fördern, etwa um die Biodiversität zu erhalten. Ein Beispiel sind die vom Bundesamt für Umwelt (BAFU) unterstützten Eichenförderungsprogramme. In Beständen mit vielen Eichen beispielsweise soll ein lichtdurchfluteter Wald geschaffen werden, so dass eine grosse Vielfalt an teils seltenen Krautpflanzen (z.B. Orchideen) erhalten bleibt. Da Buchen schattentoleranter sind als Eichen, würden die Eichen im Buchenwald verdrängt werden, deswegen müssen die Buchen im Eichenwald in Schranken gehalten werden.
Sind die Waldreservate unsere Garanten für eine intakte Biodiversität in den Wäldern?
Sie sind ein wichtiger Bestandteil der Biodiversitätsstrategie der Schweiz; aber unberührte Wälder sind nicht immer top für die Biodiversität, das müsste für jeden Fall separat angeschaut werden, beispielsweise für Blütenpflanzen, Weichtiere, Moose, Insekten, Pilze oder Bodenbakterien. Es gibt bewirtschaftete Waldtypen, die eine sehr viel höhere Biodiversität haben als Naturwaldreservate. Ein Naturwaldreservat muss per Definition nicht "besser" sein als ein Sonderwaldreservat.
Wofür sind Waldreservate zudem wichtig?
Die Waldbewirtschaftung bei uns und in weiten Teilen von Mitteleuropa verpflichtet sich zunehmend dem naturnahen Waldbau. Was heisst das aber wirklich, wie naturnah ist "naturnah"? Hierfür brauchen wir die Beobachtungen aus dem unbewirtschafteten Wald, um die Dynamik des Waldes zu verstehen. Über sie können wir ableiten, was die Natur gratis leistet und wo man eingreifen muss. Es geht darum, Ziele natürlich zu erreichen, anstatt sie formen zu müssen. Ein weiteres Ziel ist, Forschungsfragen bezüglich der Walddynamik zu beantworten. Da gibt es noch viele offene Fragen zu klären, etwa wie die Walddynamik abläuft und funktioniert. Dies beispielsweise, um die Walddynamik unter dem sich ändernden Klima vorhersagen zu können. Waldreservate sind unter anderem ein wichtiges Hilfsmittel, um dynamische Modelle von Ökosystemen und deren Eigenschaften zu testen.
Heute sind von den rund 14'000 Quadratkilometern Schweizer Wald etwa 3,5 Prozent Waldreservate. Das vom BAFU anvisierte Ziel ist, bis 2030 mindestens 10 Prozent Waldreservate in der Schweiz zu haben. Ist das realistisch?
Das ist eine politische Frage, die ich nicht wirklich beurteilen kann. Grosse, zusammenhängende Flächen aus der Nutzung zu entlassen, ist schwierig. Ich stütze das Ziel des BAFU, halte es aber für eher ambitioniert – doch was wäre die Welt ohne Ambitionen und Optimismus?
Das erste Waldreservat Scatlè in Graubünden wurde 1910 unter Schutz gestellt. Heute umfasst das Waldreservat-Netzwerk von ETH und WSL (Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft) 49 Reservate. Wie haben diese die Forschung bereichert?
Ein Schlüsselergebnis ist, dass die Bedeutung von liegendem Totholz für das Aufkommen von neuen Bäumen aus Beobachtungen in Naturwaldreservaten klar wurde. Diese sogenannte Moderholzverjüngung ist heute ein wichtiges Thema beim Gebirgswaldmanagement. Mit steigender Totholzmenge in den Naturwaldreservaten kommen diese dem Urwald, also dem nicht einmal indirekt durch den Menschen beeinflussten Wald, näher. Im Vergleich zu Urwäldern in Osteuropa haben wir in unseren Reservaten teilweise bereits etwa halb so viel Totholz und ein Mehrfaches dessen, was im Wirtschaftswald zu finden ist. Aus den Beobachtungen wissen wir auch, dass gewisse Veränderungen sehr schnell gehen. Der wichtigste Motor für die Walddynamik ist dabei der Wind. Stürme bringen die schnellsten Veränderungen.
Wie haben sich die Reservate in den 50 Jahren entwickelt, in denen die ETH Zürich diese beobachtet – seit 2007 zusammen mit der WSL?
In den Buchenwäldern erkennen wir beispielsweise einen starken Verlust von Baumarten. Die Diversität geht zurück, die schattentoleranten Buchen setzen sich, auf Kosten von Pflanzen, die mehr Licht brauchen, durch. Wenn die Bäume nach hundert Jahren absterben, wird der Wald wieder lichter und die Diversität wieder entsprechend breiter. Diese Trends konnten wir bereits aus zwanzigjährigen Zeitreihen ablesen. Dagegen gibt es Reservate, bei denen wir vermutlich noch lange warten müssen, um Veränderungen in der Entwicklungsdynamik zu sehen. Die naturbelassenen Wälder verhalten sich je nach Klimazone in der Schweiz extrem unterschiedlich.
Die Waldforschung hat sich in den vergangenen 50 Jahren aber auch grundlegend geändert. Die Feldarbeit wird durch Computersimulationen unterstützt und ergänzt. Das ermöglicht Zukunftsprognosen. Wie wird sich der Schweizer Wald durch den Klimawandel verändern?
Es gibt bestimmt nicht eine einzige Antwort für die Veränderung des Schweizer Waldes durch die Klimaänderung, denn unsere Wald-Ökosysteme sind extrem divers: von Wäldern auf 200 Höhenmetern im Tessin bis hin zur Baumgrenze in den Alpen. Wir müssen die verschiedenen Waldtypen getrennt anschauen: Bei den Buchenwäldern im schweizerischen Mittelland etwa scheint die Klimasensitivität sehr niedrig. Andererseits weist der Lärchen-Arvenwaldgürtel knapp unterhalb der Waldgrenze im Engadin oder Wallis eine starke Sensitivität auf. Diese könnten durch Klimaveränderungen absterben. Damit gingen natürliche Vorrichtungen zum Schutz vor Lawinen und Steinschlag verloren. Nun schauen wir, wie wir aufgrund der Waldbewirtschaftung solche negativen Trends verhindern könnten. Etwa durch aktives Eingreifen wie Durchforstungen und bewusste Baumartenwahl. Das solide Systemverständnis, das wir aus der Grundlagenforschung in den Waldreservaten gewinnen, kommt hier wieder zum Einsatz.
Ihr nun erschienenes Buch "Waldreservate" ist eine ausgewogene Mischung aus allgemeinverständlichen vielfältigen Informationen rund um den Wald, untermauert mit wissenschaftlichen Erkenntnissen, Fakten, Analysen und Diskussionen. Welche Zielgruppe hatten Sie beim Schreiben vor Augen?
Das Buch soll sowohl für ein Fachpublikum als auch für einen naturinteressierten Leser sein. Wir wollten ein leicht verständliches Buch schreiben, das aber für Spezialisten genügend spannendes "Futter" und Details enthält. Unser Waldreservat-Netzwerk ist meines Wissens in Bezug auf die Breite der abgebildeten Waldtypen und der Länge der Zeitreihen weltweit einzigartig. Bisher wurde wenig publiziert, denn es braucht 30 bis 50 Jahre, um gute Datenreihen zu haben. Mit diesem Buch wollen wir diese Daten der Forstpraxis der Schweiz und der deutschsprachigen Länder bekannt machen.
Das Buch "Waldreservate" entstand unter der Redaktion der WSL-Wissenschaftler Peter Brang und Caroline Heiri und dem ETH-Professor Harald Bugmann. Das im Haupt Verlag Bern erschienene Buch hat in der aktuellen Diskussion um mehr Naturreservate in der Schweiz (und in Europa) eine besondere Bedeutung. Mit dem allgemein gehaltenen Teil werden umfassend die Geschichte der Schweizer Waldreservate und die seither gesammelten wissenschaftlichen Erkenntnisse und Entwicklungen beleuchtet. Ergänzt mit 14 ausgewählten Porträts von Reservaten, soll das Buch den Weg bereiten für weitere Diskussionen im Hinblick auf das Ziel des Bundes, 2030 mindestens 10 Prozent der Waldfläche als Reservat ausgewiesen zu haben.
Peter Bang, Caroline Heiri und Harald Bugmann (Redaktion). Waldreservate. 50 Jahre natürliche Waldentwicklung in der Schweiz. 272 Seiten. Haupt Verlag. 1. Auflage 2011. ISBN 978-3-258-07725-3