Gestern…
Naturnahe Forstwirtschaft und Schutz der Biodiversität waren in der Gründungszeit der Naturwaldreservate noch keine Selbstverständlichkeit. Dem Zeitgeist der sechziger und beginnenden siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts entsprachen starke Rationalisierungsbemühungen im Waldbau und in der Holzernte. Erst in den Siebzigern begann mit dem wachsenden Umweltbewusstsein auch ein Wandel in der Einstellung zum Wald. Schutz- und Erholungsfunktionen unserer Wälder wurden der Nutzfunktion gleichgestellt. Daher wurde 1975 das "Waldgesetz für Bayern" auf den Weg gebracht. Es bildet heute noch die Grundlage für die naturnahe Forstwirtschaft in Bayern.
In dieser Zeit wurden die ersten Naturwaldreservate eingerichtet, angestoßen vom ersten europäischen Naturschutzjahr 1970. In den Folgejahren wurden auf Meldung der damaligen Forstämter 674 Einzelflächen mit insgesamt 12.700 Hektar vorausgewählt. Diese Vorschläge wurden auf die Kriterien Naturnähe, Repräsentanz und Eignung für die Forschung hin überprüft. Anhand der Ergebnisse hat die Bayerische Staatsforstverwaltung im Jahr 1978 die ersten 135 Naturwaldreservate mit einer Gesamtfläche von 4.400 Hektar eingerichtet. Schon damals hieß es "Klasse statt Masse", so dass wir heute auf ein Netz echter "Waldjuwelen" stolz sein können.
… heute…
Wald ist bei uns zwar von Menschen geprägt, aber dennoch die natürlichste Vegetationsform. Naturwaldreservate bieten die einmalige Gelegenheit, die natürliche Dynamik in unseren Wäldern besser zu verstehen. Sie sind gleichzeitig Horte der biologischen Vielfalt sowie Freiland-Versuchslabore, um natürliche Prozesse sinnvoll in die Waldbewirtschaftung einzubeziehen.
Neben einer naturnahen Bewirtschaftung auf ganzer Fläche werden ausgewählte Bestände bewusst der natürlichen Entwicklung überlassen. Neben den Nationalparken Bayerischer Wald und Berchtesgaden ist Bayern mit 154 Naturwaldreservaten und einer Gesamtfläche von 6.600 Hektar führend in Deutschland.
In den Naturwaldreservaten finden, abgesehen von notwendigen Maßnahmen der Verkehrssicherung und des Waldschutzes, keine forstlichen Eingriffe mehr statt. Langsam entstehen auf diese Weise kleine Urwälder von morgen. Neben dem Naturschutz dienen die Naturwaldreservate wesentlich der Erforschung der Biodiversität und der natürlichen Abläufe in den Wäldern und sind wertvolle Objekte für die Umweltbildung.
Forschung
Mit der wissenschaftlichen Erforschung der Prozesse in Naturwaldreservaten beschäftigt sich in erster Linie die Bayerische Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft (LWF) in Weihenstephan. Schwerpunkte dabei sind:
Waldökologie: Die Waldökologie widmet sich vor allem den Indikatorarten und Schlüsselstrukturen. Ein Beispiel für eine Schlüsselstruktur wäre das tote Holz im Wald. Davon können sich unzählige Insekten ernähren, sie finden ein Habitat zum Überleben und dienen anderen Insekten oder Vögeln als Nahrung. Mit Hilfe von "Schwellenwertanalysen" kann ermittelt werden, wie viel stehendes und liegendes Totholz bestimmte Arten brauchen.
Von Totholz gehen mit Ausnahme der Fichte in der Regel keine Waldschutzprobleme aus. Falls allerdings durch Borkenkäferbefall Wälder, die an das Naturwaldreservat angrenzen, gefährdet sind, müssen ausnahmsweise Bekämpfungsmaßnahmen durchgeführt werden.
Naturnaher Waldbau: Naturwaldreservate sind bedeutende Objekte für die waldbauliche bzw. waldkundliche Forschung. Dort können wir die ungestörte natürliche Dynamik der Wälder verfolgen. Über Vergleichsflächenforschungen in Wirtschaftswäldern lassen sich wertvolle Hinweise für eine naturnahe Forstwirtschaft ableiten. Darüber hinaus offenbaren sie uns das Potential verschiedener Baumarten auf verschiedenen Standorten. Gerade unter dem Aspekt des Klimawandels erwarten wir uns dabei wertvolle Erkenntnisse für die künftige Baumartenzusammensetzung und die Behandlung des Waldes.
Sicherung der biologischen Vielfalt
In den Naturwaldreservaten, die nunmehr seit über 30 Jahren bestehen, finden wir heute eine Reihe seltener und artenschutzrechtlich wertvoller Tiere und Pflanzen. Allein das Totholz bietet etwa 1.350 Käferarten Lebensraum. Hervorragende Lebensbedingungen finden dort auch die Pilze, so dass die bayerischen Naturwaldreservate fast 500 Pilzarten beherbergen. Außerdem kommen dort 70 Prozent der bayerischen Schmetterlingsarten vor.
Abb. 2: Der Eremit (Osmoderma eremita), ein sehr seltener Mulmhöhlenbewohner (Foto: H. Bußler)
Bildung
Die dritte wichtige Aufgabe der Naturwaldreservate ist die Umweltbildung. Obwohl ein Drittel unseres Landes mit Wald bedeckt ist, waren manche Stadtkinder noch nie im Wald. Ihnen fehlen echte Naturerlebnisse. Diese Tendenz belegt auch die "Vogel-Pisa-Studie" der Fachhochschule in Weihenstephan. Danach kennen Schüler heute nur noch durchschnittlich vier der zwölf häufigsten Vogelarten in Bayern. Der Forstverwaltung ist es daher ein großes Anliegen, Naturerlebnisse verbunden mit Informationen zum Wald zu vermitteln. Diese sind nirgends so unmittelbar zu spüren wie in den Nationalparken und Naturwaldreservaten.
… und in Zukunft
Mit dem 2005 neu gefassten Waldgesetz für Bayern können erstmals auch im Privatwald Naturwaldreservate ausgewiesen werden. Derzeit liegen 151 der 154 Naturwaldreservate im Staatswald. Sie werden von den Bayerischen Staatsforsten (BaySF) und der Forstverwaltung gemeinschaftlich betreut.
Naturwaldreservate sind Mosaiksteine ursprünglicher Landschaften, die auch für unsere Kinder und Kindeskinder zum Staunen und Erleben ungestörter Natur erhalten bleiben. Die vorhandenen Reservate sollen in Fläche und Zahl ergänzt werden. Allerdings sollen dabei nicht einfach möglichst viele Waldflächen aus der Nutzung genommen werden. Es kommt darauf an, den Zielsetzungen der Naturwaldreservate noch besser gerecht zu werden.