Seit langer Zeit wird die Diskussion um Ausmaß und Folgen der Belastung unserer Wälder durch Wildverbiss kontrovers geführt. Dabei geht es insbesondere um die Frage, ob die Waldbewirtschaftung Vorrang vor jagdlichen Interessen genießt. Angesichts der Unversöhnlichkeit, mit der sich in dieser Diskussion die Vertreter/innen der Jägerschaft und viele Forstleute sowie auch Waldbesitzer/innen gegenüberstehen, wurde vom Deutschen Forstwirtschaftsrat, der Arbeitsgemeinschaft naturgemäße Waldwirtschaft und dem Bundesamt für Naturschutz ein Gutachten in Auftrag gegeben, in dem die Wald-Wild-Problematik analysiert werden sollte.
Das Gutachten beschreibt unter anderem die durch Wildverbiss entstehenden ökologischen, vor allem aber auch die ökonomischen Folgen für die Waldbesitzer/innen. Einige Aspekte daraus werden anhand der folgenden 10 Thesen diskutiert:
1. Wildtiere werden nicht gleich bewertet
In der jagdlichen Praxis genießen nicht alle Wildtiere die gleiche Wertschätzung. Dies wird zum Beispiel daraus deutlich, dass man in Notzeiten keineswegs alle Arten z. B. durch Fütterung begünstigt. Es ist eine verständliche Reaktion, die von den hochgeschätzten Wildarten ausgehenden Schäden eher zu relativieren, als diejenigen, die von den sogenannten Schädlingen (wie zum Beispiel Mäusen) herrühren. Eine objektive Bewertung der Schäden und der Schadursachen (z. B. hohe Dichte) wird dadurch nicht erleichtert.
2. Das Wissen der Beteiligten zum Wildverbiss ist begrenzt
In einer Untersuchung der Bayerischen Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft zeigte sich, dass der rechtliche und fachliche Kenntnisstand der Akteure und Akteurinnen im Bereich Jagd auch bei grundlegenden Fragen in erheblichem Maß Defizite aufweist. So war es nur 20 % der Eigenjagdbesitzer/inen, 31 % der Jagdpächter/innen und 36 % der Jagdvorsteher/innen bekannt, dass selektiver Verbiss bei hoher Wilddichte zur Entmischung von Beständen führt.
Gleichwohl stimmten 95 % der Jagdpächter/innen und 100 % der Eigenjagdbesitzer/innen darin überein, dass die Hauptbaumarten ohne Schutzmaßnahmen aufwachsen können müssen. Interessanterweise vertraten aber 80 % der Jagdpächter/innen die Position, dass Verbiss kein finanzielles Problem darstellt. Für 48 % der befragten Jagdpächter/innen wird Verbiss durch die Beunruhigung des Wildes durch Erholungssuchende verursacht, während dafür nur 10 % den Jagddruck verantwortlich machen
3. Auswirkungen von Wildverbiss sind nicht bewertbar
Ökosysteme setzen sich aus vielen Organismen zusammen, die in Wechselwirkung zueinander und zur abiotischen Umwelt leben. Die vielgestaltigen Interaktionen innerhalb und zwischen den Organismengruppen sind der Grund dafür, dass sich Störungen nicht nur auf die unmittelbar betroffenen Gruppen auswirken, sondern kaskadengleich fortwirken. Dies ist beim Wildverbiss nicht anders. So konnte man in vielen Studien zeigen, dass Arten je nach Anspruch an den Lebensraum durch Wildverbiss leiden bzw. verschwinden oder profitieren. Diese Prozesse kann man erfassen und darstellen, eine Bewertung der Situation hängt aber von der betrachteten Art und der Vorstellung des Bewertenden zusammen.
4. Die Einheit von Wald und Wild hat den Verbiss nicht verbessert
Die anhand von Verbiss- und Verjüngungsinventuren unterschiedlicher Intensität festgestellten Schäden durch Wildverbiss befinden sich seit Jahren auf unverändert hohem Niveau. Selbst auf gezäunten Flächen wurden zum Teil massive Schäden festgestellt. Die Probleme, die 112 Forstwissenschaftler/innen in einem Aufruf zur Reduzierung überhöhter Schalenwildbestände im Jahr 1974 formuliert haben, sind auch nach beinahe 40 Jahren vielerorts Realität.
5. Bei hohen Wilddichten kaum Spielraum
Auch wenn unbestritten ist, dass das Äsungsangebot und die Einstandsmöglichkeiten nicht unabhängig von der Art des Waldbaus sind, und insbesondere die Kahlschlagswirtschaft hohe Wilddichten und damit Wildschäden provoziert, überschätzt man die waldbaulichen Möglichkeiten zur Vermeidung von Verbiss bei hohen Wilddichten häufig. Aus verschiedenen nordamerikanischen Studien mit definierten Wilddichten ist bekannt, dass die Wechselbeziehung zwischen habitatbezogenen Aspekten, die mit der Waldstruktur zu tun haben (Deckung, Klima), und dem Nahrungsangebot nur bei geringen bis mittleren Wilddichten zum Tragen kommt; das heißt, dass nur dann die Waldstruktur und -behandlung das Ausmaß des Verbisses beeinflussen, bei hohen Dichten jedoch nicht.
Abb. 2: Wildverbiss an einer Tanne.
6. Die ökonomischen Folgen werden unterschätzt
Die tatsächlichen Konsequenzen der Schalenwildschäden für die Waldbesitzer/innen und insbesondere für die Folgegenerationen werden bei konventionellen Schadensbewertungen nicht deutlich, weil man die ökologischen, insbesondere aber die ökonomischen Nachteile einer Entmischung nicht berücksichtigt. Mit dem Verlust von Mischbaumarten durch Wildverbiss muss der Waldbesitzer bzw. die Waldbesitzerin mit seinem/ihrem an Baumarten ärmeren Wald höhere Risiken in Kauf nehmen. Wie im Falle gemischter Vermögensanlagen, für die man eine möglichst breite Diversifikation empfiehlt ("Wer streut, rutscht nicht"), profitieren gemischte Wälder von beträchtlichen Risikokompensationen. Dieser Vorteil geht durch homogenisierenden Wildverbiss verloren, wodurch das Risiko des an Baumarten verarmten Waldes erheblich steigt. Beim Risiko infolge des überhöhten Wildverbisses handelt es sich nicht um ein bewusst in Kauf genommenes, sondern um ein aufgezwungenes Risiko – einen unerwünschten Effekt, für den Waldbesitzer/innen eine angemessene Kompensation verlangen müssten. Hohe Ausgaben für Zäune oder Kulturen, die aufgrund zu hoher Wilddichten notwendig werden, sind aus ökonomischer Sicht nicht akzeptabel. Mit einer nicht oder schlecht funktionierenden Naturverjüngung sowie notwendig werdenden Zäunungsmaßnahmen kann man enorme finanzielle Verlustquellen auf der Betriebsebene identifizieren. Trotz verhältnismäßig moderater Annahmen für Kulturausgaben und Zäune ergeben sich jährliche Verluste von bis zu 60 Euro/ha.
7. Jagdpacht ist kein Entgelt für entstandene Schäden
Im Gegensatz zur Landwirtschaft, wo der Grundeigentümer bzw. die Grundeigentümerin Wildschäden in der Regel sofort zusätzlich zur Jagdpacht geltend macht, besteht im Wald oftmals die Vorstellung, dass ein gewisses Maß an Schäden durch die Jagdpacht abgegolten sei. Trotz seines öffentlich-rechtlichen Bezuges ist das Jagdrecht im Verhältnis Grundeigentümer/in – Jagdpächter/in durchweg auf Vertragsfreiheit ausgerichtet, sodass die Waldbesitzer/innen es grundsätzlich selbst in der Hand hätten, im Wege einer sachgerechten Vertragsgestaltung auf Regelungen hinzuwirken, die ihr durch überhöhten Wildverbiss ausgelöstes betriebswirtschaftliches Risiko in angemessener Weise berücksichtigen. Ebenso könnten die Vertragsparteien in diesem Rahmen Monitoring- und Risikomanagementmechanismen festlegen, mit denen die Auswirkungen des Wildbestandes auf die Waldvegetation gemessen und auf dieser Basis sachgerechte Anpassungen der zunächst getroffenen Vereinbarungen ermöglicht werden, sofern dies während der Laufzeit des Pachtvertrags erforderlich erscheint. Hiervon macht man nach hiesiger Kenntnis bislang noch in viel zu geringem Maße Gebrauch, obwohl Musterpachtverträge, die dies berücksichtigen, vielerorts erhältlich sind.
8. Jagd als Dienstleistung verstehen
Eine den Vorrang der land- und forstwirtschaftlichen Interessen der Grundeigentümer/innen anerkennende Jagd sollte sich als essenziellen Teil des Waldbaus begreifen. Eine so ausgeübte Jagd stellt eine gewöhnliche waldbauliche Maßnahme dar, die wie Astung und Durchforstung dazu dient, die Ziele der Waldbesitzer/innen bei der Bewirtschaftung ihrer Wälder zu erreichen. Ein solches Verständnis von Jagd würde das Verhältnis zwischen Waldbesitzer/in und Jagdpächter/in auf eine geschäftliche Basis stellen. Man kann einwenden, dass man Jagden unter solchen Vorgaben eventuell nicht mehr verpachtet kann. Dies ist erstens zu prüfen und sollte zweitens im Ergebnis dem freien Spiel der Kräfte überlassen bleiben. Letztlich wäre es sogar denkbar, dass ein/e Waldbesitzer/in für die Erfüllung des Abschusses auf eine Pacht verzichtet oder sogar Geld aufwendet. Angebot und Nachfrage würden die Preise bestimmen.
9. Effektive Bejagung vermeidet Verbiss erfolgreich
Tatsächlich lässt sich, auch wenn es sich nicht um eine monokausale Beziehung handelt, die enge Beziehung zwischen Jagdstrecke und Verbisssituation in der Verjüngung zumindest für die Hauptbaumarten sowohl in wissenschaftlichen Untersuchungen als auch in der forstlichen Praxis belegen. So liegen eindeutige Befunde vor, dass sich verstärkte jagdliche Eingriffe in die Wildpopulation positiv auf die Verjüngung der Gehölze auswirken. Es ist unbestreitbar, dass zusätzliche Maßnahmen (Lebensraumgestaltung, Beruhigung z. B. durch Verkürzung der Jagdzeiten, Lenkung von Tourismus usw.) sinnvoll sind. Ohne eine wirkungsvolle Absenkung von hohen die waldbaulichen Ziele der Waldbesitzer/innen gefährdenden Schalenwilddichten sind solche Aktivitäten allerdings wenig aussichtsreich.
10. Die Akzeptanz der Jagd hängt an ihrer Begründung
Würde man die Jagd als Teil des Waldbaus verstehen, würde schließlich auch ersichtlich, welche Tiere man aus forstlichen und welche aus anderen Gründen jagd. Die Jagenden müssten sich klar werden, aus welchem Motiv sie zur Jagd gehen. Dies wäre schon deshalb erforderlich, weil große Teile der Öffentlichkeit der Jagd kritisch gegenüberstehen und überzeugende Begründungen dafür verlangen.