Wildlebende Huftiere wie Reh, Rothirsch und Gämse sind auf pflanzliche Nahrung angewiesen, dazu gehören Blätter, Triebe und Rinde von Bäumchen. Diese Wildtiere fressen die Pflanzen jedoch nicht gleichmässig, sondern sie wählen selektiv einzelne Baumarten und sogar einzelne Individuen aus. Auch vermögen nicht alle Baumarten gleich schnell und effektiv auf Verbiss zu reagieren. Das Wild beeinflusst das Wachstum der Baumverjüngung deshalb je nach Baumart unterschiedlich.
In weiten Gebieten Europas hat die Dichte wildlebender Huftiere in den letzten Jahrzenten stark zugenommen. Mit der Wilddichte steigt meist auch der Anteil verbissener Bäumchen, und somit nehmen in der Regel auch Waldschäden zu, wenn auch nicht linear. Doch welche Faktoren bestimmen eigentlich den Einfluss des Verbisses auf die Baumverjüngung?
Das Verbissprozent
Wie häufig der Verbiss in einem Gebiet ist, lässt sich zum Beispiel objektiv und gut reproduzierbar mit der Verbissintensität, einer spezifischen Form des Verbissprozents, messen. Die Verbissintensität ist die Anzahl Bäumchen mit einem verbissenen Endtrieb im Erhebungsjahr oder im Vorjahr (am letzten abgeschlossenen Endtrieb), ausgedrückt in Prozent aller vorhandenen Bäumchen. Üblicherweise wird sie baumartenspezifisch bei Bäumchen zwischen 10 und 130 cm Baumhöhe angesprochen. Die Verbissintensität kann mit verschiedenen Erhebungsverfahren bestimmt werden, wobei meistens systematisch angelegte Probeflächen zum Einsatz kommen. Erfasst wird dabei die Präsenz bzw. die Absenz des Endtriebverbisses an jungen Bäumen.
Da wildlebende Huftiere sich im Raum bewegen, ihre Nahrung selektiv aussuchen und verjüngungsgünstige Flächen unregelmässig verteilt sind, hängt die gemessene Verbissintensität von der räumlichen Verteilung der Probeflächen ab. Die Fläche, für die eine Aussage zum Verbiss gemacht werden soll – Gesamtwald, Verjüngungsflächen, Problemflächen, usw. – muss deshalb bewusst gewählt und auch entsprechend kommuniziert werden. Die Resultate einzelner Aufnahmeverfahren sind aus diesem Grund nicht direkt vergleichbar.
Verbissprozent ist nicht gleich Verbisseinfluss
Die Verbissintensität als relative Anzahl verbissener Endtriebe sagt zudem wenig über die langfristigen Auswirkungen des Verbisses auf die Baumverjüngung aus. Damit dieser Einfluss abgeschätzt werden kann, sind nebst dem Verbissprozent Informationen zu den folgenden vier Faktoren (Abb. 2) nötig:
1. Stärke des Endtriebverbisses
Die wildlebenden Huftiere in Mitteleuropa wählen nicht nur die Pflanzenarten, sondern auch die Baumindividuen und Pflanzenteile selektiv aus. Besonders bei dichter Baumverjüngung fressen sie nur die (End-)Knospen oder obersten Teile des Endtriebes der vitalsten und dominantesten Bäumchen.
Die Stärke des Endtriebverbisses gibt an, ob nur die Endknospe(n), grosse Teile des letztjährigen Endtriebes oder noch ältere Endtriebe abgefressen worden sind (Abb. 3 und 4). Für das einzelne Baumindividuum entscheidet die Stärke des Endtriebverbisses über i) den durch das Abfressen sofort verursachten Höhenverlust und den späteren Höhenzuwachsverlust, ii) den Verlust an Reservestoffen, die für einen erneuten Austrieb notwendig sind und iii) die Anzahl der am Endtrieb verbleibenden Bildungsgewebe (Meristeme), also die Anzahl regulär gebildeter und schlafender Knospen, aus denen ein neuer Endtrieb auswachsen kann.
Abb. 3 - Leichter Endtriebverbiss an Weisstanne (a und b), Vogelbeere (c) und Bergahorn (d). Nur die Endtriebknospen wurden abgefressen, der Hauptteil des letzten Höhenzuwachses inklusive der seitlichen Knospen am Endtrieb ist noch vorhanden. Diese Bäumchen erlitten deshalb fast keine Reduktion der Baumhöhe und können in der Regel unverzüglich einen Ersatzendtrieb bilden. Fotos: Andrea D. Kupferschmid (WSL)
Die bisher übliche Erfassung der Präsenz bzw. Absenz von Endtriebverbiss kann problemlos und ohne grossen Zusatzaufwand verfeinert werden, indem die Stärke desEndtriebverbisses in Kategorien beurteilt wird:
- Endtrieb nicht verbissen
- Endtrieb leicht verbissen (Endtriebknospe abgefressen, aber Grossteil des letzten Höhenzuwachses inkl. seitlicher Knospen noch vorhanden; Abb. 3)
- Endtrieb mittel bis stark verbissen (Abb. 4) oder auch noch ältere Endtriebe abgefressen
- kein Endtrieb vorhanden (z.B. infolge eines nach Vorjahresverbiss nicht gebildeten Triebs (Abb. 5) oder infolge Frostschadens, Insektenfrasses an Knospen usw.)
Eine Unterteilung in leichten und starken Verbiss ermöglicht eine bessere Abgrenzung der Fälle, in denen der Verbiss sich ökologisch oder forstlich relevant auf die Bäumchen auswirkt.
Abb. 5 - Weisstannen ohne Endtrieb (Kategorie "kein Endtrieb vorhanden"), vermutlich als Folge von früherem starkem Endtriebverbiss. Die Bäume sind mittels ihrer Seitentriebe nur in die Breite gewachsen, weisen also eine zeitliche Verzögerung der Endtriebbildung von bisher einem Jahr aus. Fotos: Andrea D. Kupferschmid (WSL)
2. Höhenzuwachs der Bäumchen
Durchwuchszeit
Die Standortbedingungen beeinflussen den Höhenzuwachs der Baumarten stark und sind somit auch für die Auswirkungen des Verbisses auf die Bäumchen entscheidend. Ist der jährliche Höhenzuwachs in verschiedenen Höhenklassen bekannt, so lässt sich einschätzen, wie lange die Baumverjüngung der Äsung durch wildlebende Huftiere ausgesetzt ist. Es kann also approximativ eine "Durchwuchszeit" oder ein "Gefährdungszeitraum" berechnet werden. Ist der Höhenzuwachs – wie in vielen Gebirgswäldern – klein, werden die Bäumchen länger verbissen als bei grossem Höhenzuwachs. Dies ist wichtig für die Abschätzung der Wirkung von Verbiss.
Dauert es zum Beispiel zehn Jahre, bis die Bäumchen dem Verbiss entwachsen sind, und werden pro Jahr durchschnittlich 10% der Bäumchen am Endtrieb angefressen, so wird ein Bäumchen während dieser Phase im Durchschnitt einmal verbissen (unter Annahme einer zeitlichen Gleichverteilung des Verbisses). Falls die Durchwuchszeit bei derselben Verbissintensität aber 50 Jahre dauert, dann wird ein Bäumchen durchschnittlich fünfmal verbissen. Daraus lässt sich leicht errechnen, wie es sich auswirkt, wenn jährlich nicht 10%, sondern 20% oder mehr der Bäumchen verbissen werden.
Höhenzuwachsverlust muss massgeblich sein
Die Stärke des Endtriebverbisses kann zwar auf Verschiebungen im Höhenzuwachs zwischen verschiedenen Baumarten an einem Standort hindeuten, doch erst das Messen des effektiven jährlichen Höhenzuwachses ermöglicht Vergleiche unterschiedlicher Baumkollektive.
Ein verbissbedingter Wachstumsunterschied muss mit Messungen nachgewiesen werden, damit wir von einer "wesentlichen" Auswirkung des Verbisses auf die Baumverjüngung sprechen können. Bei Verwendung des Verbissprozentes als einziger Messgrösse für die Auswirkung von Verbiss auf die Baumverjüngung wird implizit immer ein solcher Einfluss angenommen, da nur die Präsenz des Endtriebverbisses berücksichtigt wird. Somit wird mit der Verbissintensität die Auswirkung des Verbisses auf die Baumverjüngung auf Flächen mit leichtem Endtriebverbiss und gutem Höhenzuwachs deutlich überschätzt (Abb. 6).
Erst bei stark vermindertem Höhenzuwachs ist damit zu rechnen, dass sich Verbiss langfristig wesentlich auf das Aufwachsen der jungen Bäume auswirkt. Das Beispiel in Abbildung 6 zeigt, dass die leicht verbissenen Weisstannen trotz des Verbisses besser in die Höhe wachsen als die Fichten. Die kleinen Tannen werden durch den Verbiss also nicht massgeblich beeinträchtigt.
Abb. 6 - Leichter Verbiss ist kein entscheidender Einflussfaktor, falls die leicht verbissene Art (im Bild die Weisstanne) trotz mehrmaligem Verbiss mindestens gleich gut oder gar besser wächst als eine am gleichen Ort vorkommende unverbissene Art (im Bild die Fichte). Foto: Andrea D. Kupferschmid (WSL)
3. Dichte der Baumverjüngung
Nicht jede Verjüngungspflanze ist für eine ausreichende Walderneuerung notwendig. Bei 10’000 Bäumchen zwischen 10 und 130 cm Höhe pro Hektare Wald ist die Chance grösser, dass einige zu grossen Bäumen heranwachsen, als bei 1000 oder nur 100 Individuen und denselben Verbiss- und Standortbedingungen (Abb. 7). Bei einer grossen Anzahl junger Bäumchen gibt es absolut gesehen mehr Individuen, die nie oder mindestens seltener verbissen werden und damit "unbehindert" aufwachsen können.
Untersuchungen haben gezeigt, dass die Stärke des Endtriebverbisses und somit der Höhenzuwachsverlust bei zunehmender Verjüngungsdichte von jungen Weisstannen abgenommen hat. Anders gesagt: Die Dichte junger Weisstannen war an Standorten mit leichter Endtriebverbiss-Stärke höher. Diese Zusammenhänge sind noch ungenügend erforscht. Es liegt aber nahe, dass Reh, Rothirsch und Gämse bei wenig Baumverjüngung weniger auswählen können und damit mehr und öfter die gleichen Bäumchen abfressen und diese Bäumchen daher einen grösseren Höhen(zuwachs)verlust erleiden. Umgekehrt können wildlebende Huftiere bei grosser Verjüngungsdichte zwischen mehr Bäumchen auswählen
Abb. 7 - Ist die Verjüngungsdichte gering (wie im Ausschnitt vorne im Bild), ist jedes Bäumchen für die spätere Stammzahl im Bestand wichtig. Ist die Verjüngungsdichte hingegen gross (wie in der Lücke hinten im Bild), spielt Verbiss an einzelnen Bäumchen keine Rolle, solange nicht ein erheblicher Teil der Bäumchen einer Zielart stark verbissen wird und diese deshalb im Höhenwachstum gegenüber anderen Baumarten zurückbleiben. Foto: Andrea D. Kupferschmid (WSL)
4. Durch wildlebende Huftiere bedingte Mortalität
Um Aussagen zur Auswirkung des Verbisses auf die Baumverjüngung zu treffen, braucht es Informationen zum Totverbiss. Wie viele Bäumchen wurden von wildlebenden Huftieren komplett gefressen und wie viele so stark und/oder so häufig verbissen, dass sie daran zugrunde gegangen sind? Dies kann durch die experimentelle Untersuchung der verbissbedingten Mortalität abgeschätzt werden.
Weil der verbissbedingte Höhenzuwachsverlust vom Standort und von der Stärke des Endtriebverbisses abhängt, dürfte auch die verbissbedingte Mortalität vom Standort und von der Stärke des Endtriebverbisses abhängen. Werden sehr kleine Bäumchen nicht nur leicht an den Endtrieben verbissen (Abb. 8), sondern vollständig gefressen (Abb. 9), so bleiben sie in der Berechnung der Verbissintensität unberücksichtigt. Damit ist die vermeintlich moderate Verbissintensität an einigen schlechtwüchsigen Standorten eventuell das Resultat einer hohen verbissbedingten Mortalität. Dies führt bei der Beurteilung nur anhand der Verbissintensität zu einer Unterschätzung des tatsächlichen Verbisseinflusses.
Daten zum Höhenzuwachs und zur Stärke des Endtriebverbisses erlauben, den Einfluss besser einzuordnen. Damit verbissbedingte Mortalität eindeutig identifiziert werden kann, sollten entweder Kontrollzäune erstellt oder einzelne Verjüngungspflanzen auf der Probefläche individuell markiert und/oder exakt eingemessen werden.
Fazit
Die langfristigen Auswirkungen des Verbisses durch wildlebende Huftiere auf die Baumverjüngung lassen sich nur objektiv einschätzen, wenn die Verjüngungsdichte, die Stärke des Endtriebverbisses, der Höhenzuwachs mindestens der Hauptbaumarten (und damit die Durchwuchszeit und der verbissbedingte Höhenzuwachsverlust) sowie die verbissbedingte Mortalität bekannt sind. Mindestens die ersten drei Faktoren lassen sich leicht erfassen und sollten deshalb in Zukunft Eingang in Verbissinventuren finden. Die Kombination dieser Faktoren liefert aussagekräftige Informationen zur Frage, wie sich Wildtierverbiss auf die Baumverjüngung auswirkt.
Ziel der hier gemachten Vorschläge ist, die heute angewendeten Methoden zur Erfassung des Einflusses des Verbisses auf die Baumverjüngung aussagekräftiger zu machen. Es geht darum, die bestehenden, teils langjährigen Datenreihen zur Verbissintensität mit weiteren Merkmalen so zu ergänzen, dass nicht nur die Häufigkeit, sondern auch die Auswirkung des Verbisses besser abgeschätzt werden kann.
Ein grossflächiger Pilotversuch wurde 2018 im Kanton St. Gallen durchgeführt. Mittels einer systematischen Aufnahme in zwei Wildräumen – das sind Gebiete, für die ein einheitliches Wildmanagement besteht – haben Andrea D. Kupferschmid von der WSL und das Kantonsforstamt St. Gallen den Verbisseinfluss in der Tannenwaldstufe abgeschätzt. Weitere Informationen:
Verbisseinfluss in der Tannenwaldstufe (PDF)
Verjüngungskontrolle St. Gallen: Auswertungen zur Piloterhebung 2018 (PDF)
(TR)