Die Beobachtungen verteilen sich auf drei Gebiete in unterschiedlicher Höhenlage und mit unterschiedlichen Wilddichten (Abb. 2). An den Untersuchungsorten Wandfluh (800–900 m ü. M.), Gemeinde Wolfenschiessen, Kanton Nidwalden, und Niderental (900–1250 m. ü. M.), Gemeinde Schwanden, Kanton Glarus, kommt Rot-, Gams- und Rehwild vor; am Uetliberg (550–700 m ü. M.), Stadt Zürich, als einzige Schalenwildart das Reh.
Abb. 2 - Lage der Untersuchungsorte mit den vorkommenden Schalenwildarten. R = Reh, H = Hirsch, G = Gämse. Karte: Wikipedia, GNU Free Documentation License
Die ausgewählten Jungbäume wurden im Durchschnitt über 3,1 Jahre beobachtet. Einige der Bäume sind in dieser Zeit ausgefallen, andere sind neu hinzugekommen. Wir haben die Bäume mehrere Male pro Jahr aufgesucht und fotografiert. Durch Vergleich der Fotos (Abb. 3 und 4) konnten Art und Zeitpunkt der Verbissereignisse bestimmt werden. Aussagen zur Beliebtheit der verschiedenen Baumarten oder zur Verbisssituation in den Untersuchungsgebieten lässt die gewählte Versuchsanordnung jedoch nicht zu.
Fünf Perioden des Verbisses
Verbiss tritt in den einzelnen Jahreszeiten mit unterschiedlicher Intensität auf. Generell unterscheidet man zwischen Sommer- und Winterverbiss. Manche Baumarten werden hauptsächlich im Sommer verbissen, andere mehrheitlich oder überhaupt nur im Winter.
Im Verlaufe der Untersuchungen stellte es sich heraus, dass auch innerhalb dieser zwei Hauptperioden Verbiss zu bestimmten Zeiten häufiger vorkommt als zu andern. Viele Laubbäume etwa werden in den ersten Wochen nach dem Frühjahresaustrieb besonders stark konsumiert, während im Spätsommer Triebe und Blätter von Bäumen im Nahrungsspektrum des Wildes an Bedeutung verlieren. Auch über den Winter ist der Verbiss nicht gleichmässig verteilt: Er tritt in der zweiten Winterhälfte häufiger auf als in der ersten.
Aufgrund dieser Feststellungen haben wir für die Einordnung der Verbissereignisse fünf Perioden definiert. Die Abgrenzung dieser Perioden erfolgte soweit möglich anhand phänologischer Erscheinungen: Austrieb, Blattfall, Vitalitätsverluste der Blattorgane. Wo sich zur Abgrenzung kein eindeutiges phänologisches Merkmal anbot, wählten wir die Abgrenzung willkürlich, etwa für den Abschluss derjenigen Periode direkt nach dem Austrieb. Für die Trennung des Winters in zwei Hälften wurde durchgehend der 15. Januar gewählt, denn etwa um diese Zeit setzt bei den Bäumen das Wachstum wieder ein.
- Periode 1, Frühwinter: beginnender Blattfall bis 15. Januar (durchschnittlich 75 Tage)
- Periode 2, Spätwinter: vom 15. Januar bis zum Austrieb (durchschnittlich 105 Tage)
- Periode 3, erste 20 Tage nach dem Austrieb
- Periode 4, Frühsommer: bis zum Auftreten von Vitalitätseinbussen an den Blattorganen (durchschnittlich 100 Tage)
- Periode 5, Spätsommer: bis zum Blattfall (durchschnittlich 65 Tage)
Der Austrieb im Frühjahr trennt den Winterverbiss vom Sommerverbiss. Je nach Baumart, Standort und Witterungsverlauf findet dieser allerdings zu ganz verschiedenen Zeitpunkten statt. So haben wir im Rahmen dieser Untersuchung den frühesten Austrieb im Jahr 2011 an Kirschen und Ulmen in Zürich festgestellt: Diese Baumarten trieben auf dem tiefstgelegenen der drei Standorte schon in den letzten Märztagen aus. Von allen beobachteten Austrieben erfolgte derjenige der Fichte in Schwanden auf 1250 m. ü. M. im Jahr 2010 am spätesten, nämlich erst Anfang Juni. Auch der Blattfall kann schon Anfang Oktober stattfinden – oder aber erst Ende November.
Der Übergang vom Früh- zum Spätsommer wurde zu dem Zeitpunkt angesetzt, an dem Vitalitätsverluste an den Blattorganen auftreten. Vitalitätseinbussen sind häufig, und sie schmälern offensichtlich die Attraktivität des Laubes für das Wild. Die Ursache kann im Befall durch Insekten (Gallen, Läuse) oder Pilze (Mehltau) liegen, oder allenfalls in Schadstoffimmissionen oder Nährstoffmangel. Ob und wann derartige Beeinträchtigungen eintreten, ist je nach Situation sehr verschieden. Die Phase 5 (Spätsommer) kann deshalb sehr unterschiedlich lange dauern.
Im Spätsommer und Frühwinter stehen dem Wild Früchte und Pilze als Alternativäsung zur Verfügung, während die Blätter der Laubbäume an Attraktivität verlieren. Mit der Zeit auftretende Defekte wie Gallen oder Teerflecken tragen dazu bei. Ob im Winter ein Verbiss erfolgt, hängt weniger von der Verfassung der Pflanze ab als von der Höhe und Beschaffenheit der Schneedecke.
Ergebnisse
Insgesamt wurden in der Beobachtungszeit an allen drei Beobachtungsstandorten zusammen 397 Verbissereeignisse festgestellt (Tab. 1). Für die einzelnen Baumarten liegen unterschiedlich viele Verbissereignisse vor. An Bergahornen wurden über die ganze Untersuchungszeit und an allen Standorten zusammen 93 Verbissereignisse registriert, an Fichten nur deren 7.
Ulme und Bergahorn wurden in der Beobachtungsdauer am häufigsten verbissen (1,20 bzw. 1,11 Verbissereignisse pro Baum und Jahr), vor Vogelbeere (0,83) und Eiche (0,64). Das ist einerseits auf die Beliebtheit der Baumart als Nahrungspflanze zurückzuführen, andererseits aber auch auf das Untersuchungsgebiet. Die vielen Verbissereignisse bei Bergahorn und Vogelbeere rühren auch daher, dass sich von diesen Baumarten ein grosser Teil der beobachteten Bäume in Schwanden befinden, einem Wildschongebiet mit hohem Wildbestand.
Der Schwerpunkt des Verbisses fällt bei den einzelnen Baumarten in ganz verschiedene Perioden des Jahres (Abb. 5). Als einzige Laubbaumart hat die Buche ihren Verbissschwerpunkt im Spätwinter. Generell ist diese Baumart (0,33 Verbissereignisse pro Baum und Beobachtungsjahr) wie die Fichte (0,22) vom Wildverbiss weniger betroffen als die andern Baumarten. Buchen wurden nur in den Gebieten mit Rotwild verbissen. Inwieweit die Buchen auch von Gämsen beäst werden, ist Gegenstand laufender Abklärungen mittels Fotofallen.
Für Tanne, Fichte und Buche wurde Verbiss zum überwiegenden Teil im Spätwinter festgestellt, bei allen andern Baumarten in den ersten 20 Tagen nach dem Austrieb und im Frühsommer. Angesichts der vergleichsweise kurzen Dauer ist der Anteil an Verbissereignissen in den ersten 20 Tagen nach Austrieb bemerkenswert hoch. Obwohl die Periode 4 (Frühsommer) mit rund 100 Tagen fünfmal so lange dauert wie die Periode 3 (erste 20 Tage nach Austrieb), traten in diesem Zeitabschnitt bei der Ulme nur 1,6 mal so viele Verbissereignisse auf.
Auch bei Linde und Eiche ist die Periode direkt nach dem Austreiben für das Wild besonders attraktiv. Ausser beim Spitzahorn ist bei allen untersuchten Laubbaumarten an einem der ersten 20 Tage nach dem Austreiben die Wahrscheinlichkeit am grössten, verbissen zu werden. Bei Fichte und Tanne ist das in der zweiten Winterhälfte der Fall.
Abb. 5 - Verbissverlauf bei einigen Baumarten. Verteilung der beobachteten Verbissereignisse auf die einzelnen Perioden in Prozent
Die Verbisswahrscheinlichkeit pro Tag ist bei den untersuchten Baumarten und in den verschiedenen Perioden sehr unterschiedlich (Abb. 6). Aufgrund des vorliegenden Datenmaterials beträgt beispielsweise das Verbissrisiko beim Bergahorn an jedem der ersten 20 Tage nach dem Austrieb ein Prozent, bei der Tanne liegt es im Sommer dagegen bei Null Prozent.
Aus der Abbildung ist ersichtlich, wie die Verbissattraktivität der einzelnen Baumarten über das Jahr verläuft. Die Verbisswahrscheinlichkeiten von zwei verschiedenen Baumarten lassen sich hingegen nur bedingt miteinander vergleichen; denn die Unterschiede sind nicht nur auf die unterschiedliche Verbissattraktivität zurückzuführen, sondern auch auf die unterschiedlich starke Präsenz der Baumarten auf den drei Standorten.
Abb. 6 - Verbissrisiko pro Tag nach Baumart und Periode
Nutzen für die Praxis?
Wer den Verbisszeitpunkt kennt, der kann Verhütungsmassnahmen gezielter einsetzen! In der zweiten Winterhälfte und mit der beginnenden Vegetationszeit sind junge Waldbäume als Nahrungsquelle für das Schalenwild besonders bedeutungsvoll. Dagegen fällt der Verbiss im Spätsommer und Frühwinter deutlich geringer aus.
Auffallend ist, dass die Tanne auch an Orten mit grossen Schalenwildbeständen ausschliesslich im Winter verbissen wurde: An 33 Tannen, die im Durchschnitt fast vier Jahre lang beobachtet wurden, trat nicht ein einziger Verbiss im Sommerhalbjahr auf (Abb. 7). Das legt nahe, dass Weisstannen im Allgemeinen nicht vor Sommerverbiss geschützt werden müssen. Es scheint, dass die Tannennadeln im Sommer Geschmacksstoffe enthalten, die dem Schalenwild nicht zusagen. Videos von Fotofallen zeigen Gämsen, die Tannentriebe mit ihrem Riechorgan prüfen und dann unbehelligt lassen. Das dürfte ihnen umso leichter fallen, als sie im Sommer genügend Alternativäsung zur Verfügung haben.
Abb. 7 - Die frischen Triebe der Tanne werden vom Wild nicht konsumiert. Foto: Oswald Odermatt (WSL)
Kenntnisse zum Verbisszeitpunkt sind auch erforderlich, um den richtigen Zeitraum für Verbisserhebungen zu wählen. Dass die Tanne vor dem Austreiben besonders intensiv verbissen wird, ist für die vielerorts praktizierte Verbisserhebung im Frühjahr von Bedeutung. Soll hingegen der Verbiss des abgeschlossenen Winters im ganzen Umfang erfasst werden, muss man mit der Erhebung bis kurz vor dem Austreiben der Bäume zuwarten. Dieser Zeitpunkt liegt bei der Tanne je nach Höhenlage und Frühjahrstemperaturen zwischen Ende April und Mitte Mai.
Nützlich sind die gewonnenen Erkenntnisse ausserdem für Fotofallenuntersuchungen. Fotofallen kommen heute vermehrt zum Einsatz, um detaillierte Informationen zum Ablauf von Verbissereignissen zu beschaffen. Die Geräte können effizienter eingesetzt werden, wenn mehr darüber bekannt ist, wann mit Verbiss zu rechnen ist. Schliesslich ist aus den Ergebnissen der Detailstudie ein Qualitätsgewinn bei Triebschnitt-Experimenten und Computersimulationen zu erwarten. Um Wildtierverbiss im Experiment naturgetreu simulieren zu können, sind Kenntnisse zu Art, Zeitpunkt und Auswirkung der Verbissereignisse vorausgesetzt.
(TR)