Ob Verbiss durch frei lebende Huftiere für die Waldverjüngung zum Problem wird, ist eine Frage des Verhältnisses. Überschreitet das Verhältnis von abgefressenen zu vorhandenen Jungbäumen ein gewisses Mass, kommt es zu einer Stammzahlabnahme und auf die Dauer zu einem Stammzahldefizit, was aus waldbaulicher Sicht einem Schaden entspricht. Verbissprozente sind ein Mass für dieses Verhältnis und zeigen eine unerwünschte Entwicklung frühzeitig an. Mit der Stammzahlanalyse wird abgeklärt ob bereits ein Schaden vorliegt.

Freilebende Huftiere wie Reh, Gämse und Hirsch fressen junge Bäume und können das Aufkommen besonders anfälliger Baumarten und im Extremfall das Aufwachsen des Jungwaldes überhaupt verhindern. Aus Sicht des Waldeigentümers ist das in der Regel unerwünscht. Es ist Aufgabe des Wald-Wild-Managements unzumutbaren Wildverbiss an der Waldverjüngung abzuwenden. Massnahmen, die dabei zur Anwendung kommen, sind zum Beispiel Wildbestandesregulierung, qualitative und quantitative Aufwertung des Nahrungsangebotes, Lebensraumgestaltung oder raumplanerische Massnahmen. Mit systematischen Messungen wird festgestellt, ob Handlungsbedarf besteht, ob durchgeführte Massnahmen Wirkung zeigen und ob gesetzte Ziele erfüllt sind.

Nahrungsbedarf und Nahrungsangebot im richtigen Verhältnis

Wenn mehr Tiere den Wald zur Nahrungsaufnahme nutzen, als dieser verträgt, kommt es zu einer übermässigen Beanspruchung der Waldvegetation. Es handelt sich um eine Frage des Verhältnisses. Eine Kontrollgrösse für dieses Verhältnis ist das Verbissprozent. Das ist der prozentuale Anteil von Bäumen, die in einem bestimmten Zeitabschnitt verbissen werden. Wenn das Verbissprozent ein gewisses Mass nicht überschreitet, sind keine nachteiligen Auswirkungen für die Waldverjüngung zu erwarten.

Trotz dieses einleuchtenden Sachverhalts hören die Bedenken zur Anwendung von Verbissprozenten nicht auf. In der Regel stehen aber nicht Verbissprozente an sich im Fokus der Kritik, sondern ihre fachlich unkorrekte Anwendung.

Wald-Wild-ManagementDie Gesamtheit der Massnahmen, die darauf ausgerichtet sind, das Beziehungsgefüge von Wald und Wildtieren im Hinblick auf bestimmte Zielvorstellungen zu gestalten.
VerbissprozentProzentualer Anteil verbissener Jungbäume. Welche Höhenklassen von Bäumen, welche Verbissperiode und welche Art von Verbiss erfasst werden, lässt dieser allgemein gehaltene Begriff offen.
VerbissintensitätDie Verbissintensität ist eine Form des Verbissprozents. Sie ist definiert als der Anteil verbissener Endtriebe pro Jahr in Prozent der Gesamtpflanzenzahl (Eiberle & Nigg 1987). Meist werden alle Bäume zwischen 10 und 130 cm Höhe gemeinsam ausgewertet. Wenn die Zahl der Jungbäume dazu ausreicht, werden für die Auswertung manchmal auch vier Höhenklassen zu je 30 cm gebildet.
StammzahlabnahmeWenn in vorliegendem Artikel von Stammzahlabnahme die Rede ist, so ist damit der Rückgang an Individuen einer Alters- oder Grössenklasse über ein grösseres Waldgebiet hinweg gemeint (z.B. von Tannen im Grössenbereich 40–70 cm). Es geht nicht um die Stammzahlabnahme bei Bäumen eines bestimmten Jahrgangs. Eine solche findet mit fortschreitendem Alter immer statt. Sie ist Teil der Entwicklungsdynamik eines Waldes und verändert seine Altersstruktur nicht. Ein Vergleich mit der menschlichen Gesellschaft macht den Unterschied deutlich: Dass sich bei Personen eines Jahrgangs die Reihen im Laufe der Zeit lichten, bringt die Altersstruktur einer Gesellschaft nicht aus dem Gleichgewicht. Dagegen wäre das sehr wohl der Fall, wenn die Zahl der Schüler in der ersten Klasse Jahr für Jahr zurückgehen würde.
Erklärun einiger Begriffe

Ungünstige Entwicklung frühzeitig erkennen

Ein oft gehörter Einwand ist der: "Es interessiert mich nicht, wie viele Bäume verbissen werden. Ich will wissen, wie viele Bäume aufkommen". Damit ist das ausgedrückt, worauf es letztlich ankommt: eine ausreichende Stammzahl in der gewünschten Artenzusammensetzung, die aus dem verbissgefährdeten Höhenbereich herauswächst. Ein Schaden besteht erst wenn das nicht mehr der Fall ist.

Man muss jedoch nicht warten bis der Schaden eintritt. Der Prozess, der zu einem Verjüngungsdefizit führt, kann frühzeitig anhand des Verbisses festgestellt und mit geeigneten Massnahmen korrigiert werden. Dazu wird das Verbissprozent erhoben. Die Herausforderung besteht darin, abzuschätzen, welche Auswirkung ein festgestellter Verbiss hat.

Wuchsbedingungen eines Wildraums in die Betrachtungen einbeziehen

Je nach Wuchsbedingungen ist unterschiedlich viel Verbiss tragbar. Zu Recht werden deshalb unterschiedliche Richtwerte für die verschiedenen Wildräume gefordert.

Welcher Wert für einen Wildraum gilt, muss empirisch ermittelt werden. Der Vergleich mit anderen Regionen, aber auch theoretisch ermittelte Richtwerte geben einen ersten Anhaltspunkt. Wenn nicht ausserordentliche Ereignisse (z.B. Sturmwürfe) die Wuchsbedingungen auf grosser Fläche erheblich verändern, behalten die Richtwerte in einem Wildraum ihre Gültigkeit.

Auch innerhalb eines Wildraumes bestehen grosse Unterschiede hinsichtlich der Wuchsbedingungen. Man kann Wald-Wild-Management aber nicht kleinräumig differenziert betreiben und auf die Bedingungen jedes einzelnen Teilgebietes abstimmen. Nur Richtwerte für den durchschnittlichen Verbiss über ganze Wildräume sind deshalb von praktischem Wert. Eingehaltene Verbissgrenzwerte bedeuten nicht, dass nirgendwo Beeinträchtigungen an der Verjüngung auftreten, wohl aber, dass die Anzahl und der Umfang der auftretenden Beeinträchtigungen in einem vertretbaren Rahmen bleiben.

Wildeinwirkung regional – Auswirkung lokal

Wildtierbestände sind nicht gleichmässig wie ein Kuchenteig über den ganzen Wildraum verteilt. Das Wild hat bevorzugte Einstände und Äsungsplätze. Vielfältige Störungen tragen das ihre dazu bei. Entsprechend ist Verbiss heterogen über den Wildraum verteilt. Diese Tatsache wird gelegentlich ins Feld geführt, um die Durchschnittsbildung bei stichprobenweise erhobenen Verbisszahlen in Frage zu stellen. Der Kritik liegt ein nicht zutreffendes Verständnis der Bedeutung von Verbissprozenten zugrunde. Mit der Durchschnittsbildung wird nicht auf den Verbiss irgendwo im Wildraum geschlossen, sondern auf das Verhältnis von aufgenommener Nahrung zu verfügbarer Nahrung über den ganzen Wildraum hinweg.

Eine Übernutzung des Gesamtangebots wirkt sich unbestritten lokal sehr unterschiedlich aus. Das hängt von Wuchsbedingungen, Standort, Baumarten an der betreffenden Stelle und der Raumnutzung des Wildes ab. Entsprechend wird ein verbissbedingtes Verjüngungsdefizit nicht über den ganzen Wildraum hinweg das gleiche Ausmass haben, sondern zunächst an besonders stark vom Wild genutzten, beziehungsweise verbissanfälligen Stellen auftreten. Die Idee hinter einem Grenzwert ist die, dass Zahl und Umfang dieser Fälle umso grösser ist, je höher das durchschnittliche Verbissprozent über den ganzen Wildraum hinweg ist und dass ab einem bestimmten Punkt eine Stammzahlabnahme einsetzt.

Vorsicht bei abnehmender Stammzahl

Auch unter Fachleuten wird gelegentlich die Meinung vertreten, dass Verbissprozente ohne Angaben zur Gesamtpflanzenzahl keinen Informationswert haben. Diese Position scheint beim ersten Zusehen unverdächtig, da bei einer grossen Stammzahl mehr Ausfälle tragbar sind als bei einer kleinen.

Auch bei grossen Stammzahlen sollte man jedoch keine verbissbedingte Reduktion dieser Stammzahlen zulassen. Das Verbissprozent, bei dem die Stammzahlabnahme einsetzt, müsste in diesem Fall als kritische Schwelle gelten. Zumindest im Falle der Weisstanne muss vermutet werden, dass eine derartige Schwelle existiert. Aus vielen Beispielen ist bekannt, dass Wildverbiss zum gänzlichen Ausfall dieser Baumart führen kann. Das verbissbedingte Verschwinden der Tanne in der Jungwaldstufe kann man sich dabei nur so vorstellen, dass die Tannenverjüngung über eine längere Phase intensivem Verbiss ausgesetzt ist. In dieser Zeit nimmt die Stammzahl allmählich ab. Mit abnehmender Stammzahl erhöht sich der Verbissdruck auf die verbleibenden Bäume und der Prozess beschleunigt sich. In einem solchen Prozess wäre die kritische Schwelle dort zu suchen, wo die Stammzahlabnahme einsetzt, unabhängig davon, wie gross diese Stammzahl am Anfang ist. Je länger man mit Massnahmen zuwartet, desto aufwendiger werden diese.

Stammzahlen sagen fast nichts aus zur Verbisssituation

Gegen Verbissinventuren werden immer wieder zahlreiche Einwände vorgebracht. Gleichzeitig wird dann jeweils gefordert, dass statt des Verbisses Stammzahlen erhoben werden sollen. Anhand von Stammzahlen kann entschieden werden, ob ein Verjüngungsziel erreicht wurde. Die erforderliche Stammzahl wird aufgrund von Waldstandort und Verjüngungsfortschritt in Anzahl und Artenzusammensetzung für jede Teilfläche separat festgelegt. Der Sollwert wird mit der vorhandenen Verjüngung verglichen. Erfüllte Verjüngungssollwerte lassen den Schluss zu, dass die Beeinträchtigung durch Wildverbiss in den vorangehenden Jahren nicht zu hoch war.

Das ist aber auch die einzige Information, die sich zur Verbissbelastung von Stammzahlen ableiten lässt. So ist aufgrund einer vorgefundenen Stammzahl beispielsweise keine Aussage möglich, welchem Verbiss die Verjüngung im gegenwärtigen Augenblick ausgesetzt ist.

Das Defizit als Kontrollgrösse wird aber besonders deutlich, wenn die Stammzahl den festgelegten Sollwert nicht erreicht. Wenn keine aussagekräftige Kontrollzäune vorhanden sind, lässt sich das festgestellte Verjüngungsmanko nicht einwandfrei auf Wildverbiss zurückführen. Aber auch wenn Verbiss als Ursache feststeht, ist der offensichtlich bereits eingetretene Schaden nicht die optimale Eingangsgrösse für ein qualifiziertes Wald-Wild-Management. Von einem solchen würde man erwarten, dass es die ungünstige Entwicklung früher erkennt und ihr entgegenwirkt. Diese ist insbesondere im Gebirgswald ein Jahrzehnte langer Vorgang, der nicht unbemerkt bleiben kann (Abb. 4).

Ausserdem erlauben Stammzahlen praktisch keine Wirkungskontrolle. Es dauert zu lange bis sich eingeleitete Massnahmen in der Stammzahl niederschlagen.

(TR)