Abb. 2. Durch die Schälwunde am Stamm hat das Holz massive Qualitätsverluste erlitten. Daher gilt sie im Kanton Fribourg als Schaden. Foto: Oswald Odermatt (WSL)
Die Rinde einer jungen Ulme im Wald bei Broc (Kanton Fribourg) ist bis auf Augenhöhe geschält. Da hat sich ein Hirsch betätigt. "Dieser Schaden ist hier wenig gravierend", sagt Forstingenieur Robert Jenni. Die Ulme sei in diesem Bestand ein Begleitbaum und wachse im Unterwuchs.
Gleich daneben jedoch steht eine Fichte. Auch sie weist Schälspuren auf. "Dieser Baum hingegen sollte unbeschädigt aufkommen, gross, stark und später geerntet werden", erklärt Jenni.
Die Fichte wird absterben oder zumindest wird ihr Holz massive Qualitätsverluste erleiden. Die Schälwunde wird deshalb als Schaden erfasst.
Lebensraum ist Lebensrecht
Wo der König der Wälder in sein Reich zurückkehrt, klagen Waldbesitzer über Ertragsverluste, und die Förster fürchten um den Schutzwald. "Wo Lebensraum, da Lebensrecht", meint dagegen Reinhard Schnidrig, Chef der Sektion Wildtiere und Waldbiodiversität im Bundesamt für Umwelt (BAFU). "Wo der Hirsch einen Lebensraum findet, in dem die naturräumlichen Bedingungen und die Ökologie sein Überleben erlauben, soll er auch bleiben dürfen." Schnidrig plädiert deshalb dafür, die Schadensproblematik im Wald auch unter dem Gesichtspunkt des Lebensraumes der Wildtiere zu betrachten. Ganz so, wie dies der Kanton Fribourg mit der Definition von Toleranzgrenzen vormacht: Schälwunden, die der Hirsch an jungen Bäumen verursacht, werden nicht gezählt. Erfasst werden nur die Schäden an Zukunftsbäumen, an jenen Bäumen also, die das Grundgerüst der Wälder von morgen bilden und daher wichtig sind.
Der Verbiss zeigt, wie der Pflanzenfresser auf den Wald einwirkt: eine beliebte Nahrung bilden die Knospen von Esche, Ulme, Linde und Fichte. Fressen die Hirsche zu viele davon, kann sich der Wald nicht mehr verjüngen. "Der Verbiss im Wald ist ein Fiebermesser", erklärt Schnidrig, "und ein Indikator für das Wald-Wild-Gleichgewicht".
Ist der Hirschbestand einmal gesichert, braucht es die Jäger, die ihn dem Lebensraum anpassen. Dabei soll die Jagd die Hirschpopulation regulieren, aber nicht gefährden. Aber genau das liegt das Problem im Fall von Broc: 253 Hirsche zählten die Wildhüter im Winter 2014/15 im engeren Umkreis der Gemeinde. Das ist ein hoher Bestand, entsprechend hoch sind die Schäden im Wald. Zur gleichen Zeit wurden in den Voralpen der angrenzenden Kantone Bern und Waadt vergleichsweise wenig Hirsche beobachtet. Wie hoch der Bestand im weiteren Umkreis von Broc ist, wissen die Wildhüter nicht. Das macht es schwer, eine Abschussquote festzulegen.
Über politische Grenzen hinweg
Anders als Gämse oder Reh wechselt der Hirsch gerne saisonal sein Einstandsgebiet und wandert grossräumig. Politische oder administrative Grenzen kennt er dabei nicht. Wie die Wildtiere generell: Wale durchkreuzen die Weltmeere, Zugvögel brüten im frischen Norden und überwintern im warmen Süden, Wölfe können bei ihren Wanderungen mehrere hundert Kilometer zurücklegen. Dass sie dabei zuweilen Landesgrenzen überschreiten, interessiert sie nicht. Daher gibt es weder eine Schweizer noch eine italienische Population, sondern einfach eine in den Alpen.
Angesichts der Probleme in den Wäldern bei Broc untersuchte ein Ökobüro im Auftrag der Kantone und des BAFU das Raumverhalten der Hirsche in den westlichen Voralpen der Kantone Bern, Freiburg und Waadt. Acht Hirsche – sechs Kühe und zwei Stiere – wurden in den Jahren 2009 bis 2011 gefangen, besendert und erhielten einen Namen. Danach wurden ihre Wege per GPS verfolgt.
Die Population und ihr Lebensraum
Schliesslich standen Daten zu sieben Tieren und ihren Aufenthaltsorten während mindestens eines Jahres zur Verfügung. Sie bestätigten, was die Wildhüter aufgrund ihrer Beobachtungen vermutet hatten: Der Lebensraum des ansässigen Hirschvorkommens erstreckt sich über die Freiburger Kantonsgrenze hinweg in die Kantone Waadt und Bern. Er umfasst ein zusammenhängendes Gebiet, das von Spiez (BE) über Broc (FR) bis nach Villeneuve (VD) am Genfer See reicht.
Die Daten zeigten auch, dass es innerhalb dieser Population stationäre und migrierende Individuen gibt. Drei Hirschkühe verhielten sich standorttreu: Hota blieb in den Waadtländer Alpen am Col de la Croix, Rowa im Simmental bei Boltigen (BE) und Luna in den Wäldern südlich der Rochers de Naye (VD). Die Hirschkühe Kata, Zaja und Lola sowie der Stier Scotch hingegen migrierten.
"Von März bis Mai erweiterten diese vier Hirsche ihren Sommerlebensraum Richtung Süden", sagt Projektleiter Christian Willisch. Kata etablierte sich südlich von Rossinière (VD), Zaja und Scotch liessen sich in der Region Château d’Œx (VD) – Rougemont (VD) – Saanen (BE) nieder, und Lola zog in den Raum Feutersoey – Lauenen (BE). Hier blieben sie bis Ende August. Ab September bis November zogen sie in die Wälder von Broc, wo sie zusammen mit 150 anderen Hirschen die Wintermonate Dezember bis Februar verbrachten.
Die unaufhaltsame Rückkehr
Die Konzentration des Hirschs in diesem Waldgebiet ist eine Episode in einer Entwicklung, die vor mehr als 150 Jahren ihren Anfang nahm. Mitte des 19. Jahrhunderts war die Tierart aus der ganzen Schweiz verschwunden. Um 1870 wanderten die ersten Tiere aus dem österreichischen Montafon wieder ein. Vom Prättigau (GR) und vom Schanfigg (GR) her breitete sich der Hirsch Richtung Westen aus. 1919 erreichte er das Tessin, 1925 wurde er erstmals wieder im Kanton Schwyz gesichtet. 1961 überschritt er den Brünig und begann, den Kanton Bern und das Oberwallis zu besiedeln. Seit den 1990er-Jahren wandern Hirsche auch aus Frankreich in den Jura ein, und seit 2006 ist die Art sogar im Fricktal (AG) wieder heimisch.
Inzwischen leben mehr als 30'000 Individuen in der Schweiz. Im Kanton Freiburg tauchten die ersten Tiere 1978 auf. Sie fanden im Greyerzerland einen geeigneten Lebensraum. Saftige Alpweiden grünen hier bis unter die Gipfel der Freiburger Voralpen, ausserdem ist die Gegend vergleichsweise einsam. Der eher ängstliche Hirsch weiss das zu schätzen. Die Frage aber, warum genau er sich die Wälder bei Broc als Wintereinstandsgebiet aussucht, kann Willisch nicht beantworten.
In Wildräumen denken
Die Studie beweist jedoch: Der Kanton Freiburg vermag das Problem in Broc nicht im Alleingang zu lösen. Denn während der Jagdzeit leben die Tiere, die im Winter die Schäden im Wald anrichten, über die Kantone Freiburg, Bern und Waadt verteilt. "Die Population", so Walter Schwab, "lässt sich nur über die Kantonsgrenzen hinweg steuern."
Auf der Basis koordinierter und am gleichen Tag durchgeführter Hirschzählungen sollen in Zukunft die Abschusszahlen kantonsübergreifend bestimmt werden. Schwab setzt dabei grosse Hoffnungen auf den Dialog mit allen betroffenen Parteien aus den drei Kantonen. Gleichzeitig gibt er sich vorsichtig. Es gehe in einem ersten Schritt darum, dass sämtliche Beteiligten den Willen bekunden, die Sache gemeinsam anzugehen, sagt er. "Wir haben zwar eine Population, jedoch drei Kantone, je drei Jagd- und Waldgesetze und drei Jagdkulturen."
An den Treffen am Runden Tisch wird auch Schnidrig teilnehmen. Als Vertreter des Bundes will er dazu beitragen, die Diskussion zu versachlichen und die Lehren aus anderen Regionen der Schweiz einzubringen. "Wir müssen lernen, in Lebensräumen der Wildtiere zu denken und zu handeln", ist er überzeugt. Er kann sich dabei auf seine Erfahrungen stützen, die er mit den weiträumig herumstreifenden Tierarten Luchs und Wolf gewonnen hat. Die Populationen dieser Grossraubtiere werden heute gemäss den Konzepten Luchs und Wolf des Bundes in fünf Wildräumen betrachtet, die sich teils über mehrere Kantone erstrecken. Man wolle die Erfahrungen mit dem wildraumbasierten Ansatz für den Schutz und das Management von geschützten Wildtieren, wo sinnvoll, auf die weit wandernden jagdbaren Tiere übertragen, meint Schnidrig.
Wildtiere mitten unter uns
Bei seiner Expansion beginnt auch der Hirsch, zunehmend stark vom Menschen geprägte Landschaften zu besiedeln. Dabei erweist er sich als sehr dynamisch und anpassungsfähig. Er ist sogar mittlerweile ins Mittelland vorgedrungen, was lange Zeit als unmöglich galt. "Manche Wildtiere kommen gut mit den von Menschen geprägten Lebensräumen zurecht", stellt Schnidrig fest, "die Frage ist nur, wie kommen wir Menschen mit ihnen zurecht?