Hinter dem Campingplatz von Sur En steht die Talstation der Valtellina-Seil­bahn. Sie liegt auf 1124 m ü. M. zwischen hoch aufragenden Fichten und Föhren. Sanft, beinahe liebevoll, wie auf die Schulter eines guten Freundes, tätschelt Mario Riatsch, Revierförster der Adminis­traziun forestala Sent, auf das rostige Laufrad der Seilbahn und sagt: "Diese Bahn war ein geniales Transport­mittel. Ausser dem Rauch der Brems­klötze und dem Zigarrenrauch des Maschinisten konnte sie völlig CO2-neutral betrieben werden. Zudem ist sie robust, resistent gegen Regen und Schnee und auch heute noch funktioniert sie tadellos."

Eine Seilbahn über den Wildbach

Zum Beweis, dass mit dieser Seilbahn tatsächlich einst grosse Mengen Holz transportiert wurden, zeigt Mario Riatsch eine Infotafel hinter der Talstation. Neben einigen Schwarzweiss-Fotos, auf denen bärtige Männer beim Be- und Ent­laden zu erken­nen sind, ist auch ein Plan des Längen­profils der ursprünglich im Val d’Assa, auf dem Gemeindegebiet von Ramosch be­triebenen Seilbahn zu sehen. Auf dem Plan von 1935 steigt das Gelände zuerst mässig an, wird dann von einem Bach und einer steilaufragen­den, rund 200 m hohen Felswand unter­brochen, um schliesslich nach rund 1200 m Seillänge und einer Höhendifferenz von 330 m bei der Bergstation zu enden. "Für diese Art von Gelände war die Valtellina-Seilbahn eine optimale Lösung", sagt Mario Riatsch.

Aus seinem Rucksack holt er weitere Kopien der umfangreichen Projektunter­lagen. Im technischen Bericht "Drahtseil­rieseprojekt Val d’Assa" ist zu lesen, warum das Holz in dieser Gegend nur mit einer Seilbahn effizient und kostengüns­tig abgeführt werden kann:

  • "Die Auf­schliessung obig genannter Waldungen durch einen Weg, welchen man ohne weiteres vorgezogen hätte, wurde wie­derholt probiert. Die Steilheit des Terrains und das horizontal verlaufende hohe Felsband gestatten keine befriedigende Lösung der Aufschliessung durch einen Weg, sofern dieselbe im Rahmen der Wirtschaftlichkeit bleiben soll. Durch den Wildbach Val d’Assa wird das aufzuschliessende Gebiet in zwei Teile geteilt. Der Wildbach hat sich tief eingefressen und zudem ist die Bachsohle ziemlich breit. Die Überbrückung derselben würde eine hohe Brücke von 40 bis 50 m Spann­weite erfordern, was sehr kostspielig wäre. Durch das Anschwellen des Wild­baches bei Gewittern und besonders durch Lawinen (die diesjährige Lawine hätte die Brücke ohne Zweifel zerstört) wäre die Brücke stets gefährdet. Um die Waldungen aufzuschliessen, erscheint daher die Anlage einer ständigen Draht­seilriese das einzig Mögliche und Emp­fehlenswerte."

1936 wurde die Seilbahn schliesslich gebaut. Die Gesamtkosten beliefen sich auf Fr. 24'000.–, wobei der Posten "Pläne und Projektaufnahme" nur Fr. 150.– betrug! Der Bund und der Kanton Graubünden subventionierten das Projekt. Noch bis Ende der 70er-Jahre wurde die Seilbahn im Val d’Assa rege benutzt.

Aus dem Dornröschenschlaf geweckt

Der vom Bund geförderte Bau von Forststrassen, die fortschreitende Mechani­sierung der Holzernte und der Einsatz von modernen Seilkrananlagen, von Gebirgs­harvestern sowie von Helikoptern führten dazu, dass die Valtellina-Seilbahn in Ramosch immer seltener in Gang gesetzt und schliesslich aufgegeben wurde. Mit der Zeit umwucherte Gestrüpp die Stüt­zen der Seilbahn, die Drahtseile sprangen vom Sattel und verschwanden allmählich unter einer Schicht von Nadeln und Ästen.

Dort rosteten sie vor sich hin, bis Mario Riatsch im Jahr 2007 auf die Idee kam, die stillgelegte Seilbahn aus dem Dornröschenschlaf zu wecken und in seinem Revier zu Demonstrationszwecken neu aufzu­bauen. "Meine Freude am Experimentieren mit Umlenkrollen und Drahtseilen habe ich wohl von meinen Grossvater geerbt. Er war Forstunternehmer und hatte immer wieder mit Seilbahnen zu tun. Während des Zweiten Weltkriegs betrieb er bei­spielsweise eine 2 km lange Drahtseil­bahn, um Legföhren für den Betrieb von Holzvergaser-Autos ins Tal transportieren zu können. Zahlreiche Teile, die an der Valtellina-Bahn ersetzt werden mussten, fand ich in seinem Geräteschuppen."

Die Gemeinde Ramosch war mit Riatschs Vorhaben einverstanden. "Die waren froh, dass endlich jemand die Seilbahn abräumte – oder besser gesagt entsorgte", sagt Mario Riatsch. Verpackt in grosse Säcke wurden die Einzelteile mit dem Helikopter vom Val d’Assa nach Sur En transportiert. Die Mitarbeiter des Forstbetriebs schlugen im Wald oberhalb des Campingplatzes eine Schneise und bauten zusammen mit Frei­willigen die Seilbahn in einer auf 320 m reduzierten Länge mit 45m Höhendifferenz wieder auf.
 

Besichtigung der Valtellina-Bahn bei Sur En

Gruppen, die Interesse haben die Val­tellina-Seilbahn zu besichtigen, können sich mit Mario Riatsch in Verbindung setzen (siehe unter Kontakt).

Die Valtellina-Seilbahn

...ist eine Umlauf-Seilbahn. Sie besteht aus zwei Tragseilen (Last- und Leertragseil) und einem umlaufenden Zugseil. Ein endloses, ver­spleisstes Zugseil wird an der Berg- und an der Talstation über eine Umlenkrolle geführt und normalerweise an der Tal­station vorgespannt. Die Schwerkraft der angehängten Lasten ermöglicht einen motorlosen Antrieb. Die Lasten hängen parallel zum Tragseil an zwei Laufwagen beziehungsweise Laufkatzen (ein- oder zweirädrig).

Wie der Name schon sagt, ist die Seilbahn nach dem italienischen Tal Veltlin benannt. Dort soll sie angeblich zuerst gebaut und in den Hochalpentälern für den Holztrans­port eingesetzt worden sein. Andere Quellen behaupten jedoch, dass der erste Einsatz der Valtellina-Bahn 1888 im Val Traversagna (Roveredo/GR) stattgefunden haben soll und der Erfinder dieser Bahn Stiliano Togni aus Roveredo sei. Anlässlich der Landesausstellung von 1896 in Genf wurde er für seine Seilbahn mit einer Bronzemedaille ausgezeichnet.

Quellen: Christoph Butz, "Valtellina-Seil­bahnen", Diplomarbeit ETH Zürich 1996; Thomas Käthner, «Die Valtellina-Umlauf­seilbahn», Bündner Wald, März 1983.