Ende des 13. oder in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts besiedelten die Walser das Hochtal des Avers, im Kanton Graubünden in der Schweiz. Die Vieh- und Milchwirtschaft sowie die Nähe zu den ober­italienischen Vieh­märkten über die Alpen (Madriser­berg) präg­ten die Landschaft. Die nach Süd­westen hin orientierte Flanke des Ober­tales wurde im Zuge der mittel­alterlichen Land­nahme für die Gewinnung von Weide­land und die Errichtung von Wohn­häusern und Ställen gerodet und ist heute weitgehend waldfrei (Abb. 1).

Eine alte Kulturlandschaft im Wandel

Erst durch den Bau der Talstrasse in den Jahren 1890 bis 1895 drehte sich die hauptsächliche wirt­schaftliche Ausrichtung des Avers von Süden nach Norden hin um. Bis dann erschwerte das feh­lende Wegnetz das Heran­führen von Bau- und Brenn­holz für den Eigen­bedarf. Nur wenig Holz ge­lang­te in den Handel. Der Ausbau von Strassen und ab den 1950er-Jahren die Ver­brei­tung von Elektrizität und Ölheizungen führten dazu, dass der Bedarf an Brennholz und damit die Waldnutzung stark zurückging.

Durch die Fokus­sie­rung der Averser Landwirtschaft auf Viehzucht standen die Wälder lange unter starkem Beweidungsdruck. Die Waldweide ist für die Entwicklung der Waldstruktur im Avers von grosser Bedeutung und die Averser standen oft im Konflikt mit dem Forstdienst. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg ging der Frassdruck auf die Waldverjüngung durch die Abnahme der Zahl der Ziegen zurück und die Waldweide verlor in ihrer Intensität an Bedeutung. Andere Nutzungen wie das Sammeln von Streu, Gras, Harz und Arvennüsschen, das Pflücken von Beeren und Kienholzmachen und Moossammeln waren früher verbreitet. Auch diese Nutzungen sind im Laufe der Zeit zurückgegangen.

500 Jahre Walddynamik

Archive, mündliche Quellen, alte Waldwirschaftspläne und ab 1933 Luftbilder belegen die Nutzungs- und Landschaftsgeschichte des Avers eindrücklich. Terrestrischen Fotografien zeigen die menschliche Perspektive auf den Wald. Fotowiederholungen machen die strukturellen Veränderungen im Wald sichtbar:

Avers-Cresta, Capettawald

Avers-Cresta, Capettawald

Abb. 3.1. Die Fotowiederholung zeigt, dass sich im Capettawald die Stammzahl seit den 1950er-Jahren stark erhöht hat und die Bestände dadurch dichter geworden sind. Foto links: Werner Nägeli (1950, WSL Bildarchiv NAE_07207_G_neg); rechts: Susan Lock (WSL, 2022)

Avers-Cresta, Waldgrenze im Capettawald

Avers-Cresta, Waldgrenze im Capettawald

Abb. 3.2. Im Bereich der oberen Waldgrenze haben sich die Bestände ebenfalls geschlossen und die Waldgrenze hat sich gegen oben verschoben. Foto links: Werner Nägeli (1950, WSL Bildarchiv NAE_07200_G_neg); rechts: Susan Lock (WSL, 2022)

Arve an der Waldgrenze im Capettawald

Arve an der Waldgrenze im Capettawald

Abb.3.3. Der bildprägende Dürrständer auf der Ausgangsfotografie (1950) ist umgestürzt, im Hintergrund ist die Waldgrenze stark angestiegen. Foto links:  Werner Nägeli (1950, WSL Bildarchiv NAE_07203_G_neg); rechts: Susan Lock (WSL, 2022)

Cröterwald, Weidewald

Cröterwald, Weidewald

Abb. 3.4. Madrisertal. Weidewald (Cröterwald) um 1950. Foto links: Werner Nägeli (1950, WSL Bildarchiv NAE_07216_G_neg); rechts: Susan Lock (WSL, 2022)

Luftbilder Cröterwald (1957 / 2015)

Luftbildvergleich Cröterwald 1957 und 2015

Abb. 3.5. Die Luftbilder zeigen, dass die lückige, offene Struktur des Cröterwaldes weitgehend erhalten geblieben ist. Links: Luftbild Cröterwald 1957, rechts 2015. Die roten Linien zeigen die Grenzen der Waldabteilung 14. © swisstopo/WSL

Durch die veränderte und reduzierte Waldnutzung entwickelten sich die offenen, lichtdurchfluteten Weidwälder zu heute dichten, dunklen Beständen. So der Capettawald, der seit über 60 Jahren nicht mehr beweidet und bewirtschaftet wird (Abb. 3.1–3). Im Gegen­satz dazu blieb im bis heute intensiv beweideten Cröterwald die Zeit gewisser­massen stehen (Abb. 3.4–5). Die Lichtbedingungen sind hier heute noch ähnlich wie vor Jahrzehnten und Jahrhunderten.

Bestandesdynamik

Die Konsequenz der Veränderungen der Landnutzung ist im Hohenhaus- und Capettawald klar ersichtlich, wo sich ab dem 20. Jahrhundert flächig neue Bäume etablierten (Abb. 4). Auch das weit­ge­hende Ausbleiben der Fichte im Cröter- und Hohenhauswald ist vermutlich auf die vergangene und aktuelle Bewirt­schaf­tung zurückzuführen. Im Cröter­wald hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts kein Ver­jün­gungs­schub stattgefunden, was in erster Linie auf den anhaltend hohen Weidedruck zurückzuführen ist. Dadurch konnte sich ein sehr alter Bestand entwickeln, der sich seit Jahr­hun­der­ten nur punktuell verjüngen konnte. 

Die teils jahrhundertealten Bäume sind beein­druckend und geben Einblicke in die Wald­geschichte. Ihr Alter wurde anhand von Jahrringanalysen bestimmt. In allen untersuchten Beständen im Avers wur­den Bäume beprobt, die ein sehr hohes Alter aufweisen (Abb. 4). Bei den über 600-jährigen «Methusalem­bäumen» handelt es sich ausschliesslich um Arven und Lärchen (Abb. 5).

Abb. 5. Typischer Habitus von alten Lärchen (li) und Arven (re). Fotos: Susan Lock, Georg von Arx (WSL)

Im Cröterwald fehlt eine mittelalte Baumgeneration vollständig und auch die Verjüngung ist nur spärlich vorhanden. Im Capetta-­ und Hohenhauswald, wo die Beweidung schon vor Jahrzehnten eingestellt wurde, stehen die alten Methusalems umgeben von teilweise sehr dichter Waldverjüngung (Abb. 6). In den tieferen Lagen ist die Verjüngung schon in den Kronenraum vorgedrungen und bedrängt die alten Bäume. Die Konkurrenz um Licht ist gebietsweise sehr gross und im dunklen Unterwuchs mit beträchtlicher Rohhumusauflage kann sich die Lärche kaum mehr ansamen.

Abb. 6. Links: Alte Arven im oberen Capettawald, die bis vor wenigen Jahren als dominante Einzelbäume wuchsen, werden zunehmend vom Jungwald bedrängt. Rechts: Uralte, entwurzelte Arve im unteren Capetta­wald. Im heute dunkeln Bestand kann sich die Lärche nur noch in Öffnungen und auf Wurzelstöcken verjüngen. Fotos: Andreas Rigling (ETHZ)

Waldverjüngung

Ein geringer Kronendeckungsgrad ist für eine erfolgreiche Baumverjüngung generell von Bedeutung. In den offenen Beständen an der Waldgrenze, wo der Beweidungsdruck gering und die Lichtverfügbarkeit hoch ist, wird sich die Verjüngung auch in Zukunft weiterhin erfolgreich etablieren können – hauptsächlich Lärchen-dominiert, mit Arve und Fichte beigemischt. Im Cröterwald könnte die geringe Stammzahl dazu führen, dass Lawinen und Gleitschnee die Verjüngung daran hindern, sich in der gewünschten Geschwindigkeit zu entwickeln. In tieferen Lagen verhindert der hohe Weidedruck und das punktuelle Entfernen von Verjüngung das Aufkommen von Jungwald (Abb. 7).

Abb. 7. Zwischen Hohenhaus- und Cröterwald («Bim olta Hus») ist der Wald im oberen Teil des Hanges wesentlich geschlossener geworden, der untere Teil wird beweidet. Foto links: SAGR C32.328/19 Forstinspektorat, undatiert (vor 1940); rechts: Susan Lock (WSL, 2022)

Im Hohenhaus- und Capettawald bleibt die Verjüngungsdichte (abgesehen von der Waldgrenze) aufgrund des hohen Kronendeckungsgrades gering. Als stark lichtabhängige Art wird sich in diesen, inzwischen weitgehend geschlossenen Beständen, insbesondere die Lärche kaum verjüngen können.

Baumwachstum

Die Sommertemperaturen sind für das Baum­wachstum in Höhen­lagen wie im Avers von entschei­dender Bedeutung. Entsprechend zeigen vor allem die Lärchen aller untersuchten Bestände seit den 1980er-Jahren einen starken Wachstums­anstieg, der mit den an­stei­gen­den Tempera­turen im Klima­wandel übereinstimmt. Zudem könnten aber auch die seit 1982 ausgebliebenen schweren Lärchenwickler-Ausbrüche zu diesem Wachstumsanstieg beigetragen haben. Anders sieht es hingegen bei den Arven aus, die in tieferen Höhenlagen in den letzten Jahrzehnten einen negativen, in hohen Lagen einen positiven Wachstumstrend aufweisen (Abb. 8). 

Dies könnte auf eine Empfindlichkeit der Arve gegenüber wärmeren und allenfalls trockeneren Bedingungen hinweisen. Unabhängig davon reagieren die beiden Baumarten Lärche und Arve sehr unterschiedlich auf die sich ändernden Wachstumsbedingungen. Dies könnte langfristig einen Einfluss auf ihre Konkurrenzkraft und letztlich auf die zukünftige Artzusammensetzung der Wälder im Avers haben. Wird sich die Lärche durch ihr verbessertes Wachstum in tiefen Lagen auf Kosten der Arve ausbreiten können? Falls ja, wäre dies für die zukünftige Walddynamik der obersubalpinen Höhenstufe von grosser Bedeutung. 

Was heisst das für den zukünftigen Waldbau?

Aufgrund der beschriebenen Waldentwicklung können waldbauliche Massnahmen abgeleitet werden, die das Leben der uralten Methusalem-Bäume verlängern, dadurch die für die Biodiversität wichtigen Mikrohabitate sichern und die Struktur der halboffenen Weidewälder als kulturlandschaftliche Besonderheit erhalten. Gleichzeitig soll auch die nächste Generation alter Bäume gefördert, die Verjüngungssituation verbessert und insgesamt die Stabilität dieser besonderen Wälder erhöht werden:

  1. Die Stammzahl im direkten Umfeld um die Baummonumente sollte verringert werden, um die erhöhte Konkurrenz um die Ressourcen Licht und Wasser zu reduzieren. Dies ist insbesondere für die monumentalen Arven der tiefen Lagen von Bedeutung. Spätestens wenn der Einwuchs junger Bäume in die Kronen der Altbäume vorstösst, sollte aufgelichtet werden.
  2. Mittels gezielter Durchforstungen sollten ausgewählte mittelalte Bäume zu Stabilitätsträgern herangezogen werden, um mittelfristig die Bestandesstabilität zu erhalten, wenn die alten Baummonumente mit der Zeit absterben.
  3. Unter Berücksichtigung der grossen Unsicherheiten in Bezug auf die Auswirkungen des Klimawandels sollte wo möglich die Baumartenvielfalt erhöht werden. Dabei sollte auch die Fichte und beispielsweise auch Birke, Vogelbeere und Aspe gezielt miteinbezogen werden, um die Resilienz der Wälder zu stärken.
  4. Der Cröter-Weidewald wird heute als ästhetisch und ökologisch wertvolle Kulturlandschaft betrachtet. Seine offenen Strukturen sollten erhalten bleiben, aber trotzdem die Nachhaltigkeit bezüglich Nachwuchses und Baumartenmischung sichergestellt werden. Dies kann und soll dank einer Wald-Weide-Regelung bei fortgesetzter Beweidung geschehen.
  5. In den tieferen Lagen des Capettawaldes, wo die Bäume sehr wüchsig, die Bestände zunehmend dichter und dunkler und die Humusauflagen immer mächtiger werden, wird sich langfristig die Arve und allenfalls die Fichte durchsetzen. Um die Lärche im Spiel zu halten, können Öffnungen und punktuell auch Bodenschürfungen gemacht werden.

Die vorgeschlagene waldbauliche Planung versucht die Waldentwicklung so zu steuern, dass die zu erwartenden Herausforderungen trotz Unsicherheiten bezüglich Klimawandel und zukünftig nachgefragter Waldleistung erfüllt werden können. Sie basiert auf einem Verständnis der aktuellen Walddynamik im Lichte der vergangenen Landnutzung unter Berücksichtigung der lokalen Traditionen und Bedürfnisse. Nicht unmittelbar berücksichtigt sind die entstehenden Kosten für waldbauliche Massnahmen und wer diese schlussendlich tragen kann, sowie übergeordnete Rahmenbedingungen und gesellschaftliche Erwartungen, die einen entscheidenden Einfluss auf die heute und zukünftig nachgefragten Waldleistungen haben dürften. 

Fazit

Waldentwicklung und Nutzungsgeschichte sind eng miteinander verbunden – das eine lässt sich ohne das andere nicht verstehen. Faszinierend an der Untersuchung dieses Beziehungsgeflechts am Beispiel der Wälder im Avers ist, dass es hier zum einen zu eindrücklichen Folgen für das Landschaftsbild führte, nämlich der Beschränkung der Waldbestände des Obertales auf die eine Talseite. Zum andern fallen beim Besuch dieser Wälder die mächtigen, offensichtlich sehr alten Lärchen und Arven auf. Deren Vorkommen ist ebenfalls eine Folge der Verflechtung von Waldentwicklung und Nutzungsgeschichte.

Die hier vorgestellten Ergebnisse machen deutlich, dass die Waldverteilung im Tal ganz wesentlich durch die Nachfrage nach Weideland und Heuwiesen bestimmt war und dafür nicht nur die am besten geeigneten Flächen vollständig gerodet, sondern auch die verbleibenden Wälder am Gegenhang stark beweidet wurden. Der hohe Nutzungsdruck liess lange Zeit nur wenig Verjüngung aufkommen, wodurch mancherorts eine parkähnliche, lichte Waldstruktur entstand, wie sie heute noch im Cröterwald sichtbar ist.

Informationen darüber, wie es in der Vergangenheit war, lassen zwar keine direkten Schlüsse zu, wie es in Zukunft sein wird. Aber sie zeigen Möglichkeiten, wie die Landschaft bezüglich Nutzung und Landschaftsbild mitgestaltet werden kann.

Literatur

Methodische Hinweise und Literaturverweise finden sich im Originalartikel (PDF).