Obwohl fast so gross wie der Grünspecht, ist der viel seltenere und heimlicher lebende Grauspecht ungleich schwieriger zu entdecken. Über seine Lebensweise ist nur wenig bekannt. Wichtige Fragen zur Nahrungsökologie oder zum Bruterfolg blieben bisher unbeantwortet. Dies macht es schwierig, die Spechtart, welche als Prioritätsart für Artenförderungsprogramme gilt, effizient zu schützen.

"Kü-kü-kü--kü---kü----kü": Wer im zeitigen Frühjahr eine in der Tonhöhe abfallende, gegen das Ende hin langsamer werdende Rufreihe vernimmt, hat mit grosser Wahrscheinlichkeit soeben einen Grauspecht gehört. Eine solche Begegnung ist in unseren Wäldern keine Selbstverständlichkeit. Gemäss Verbreitungsatlas aus den Jahren 2013–2016 zählt der Grauspecht in der Schweiz mit 300–700 Brutpaaren zu den seltenen Arten. Warum dies freilich so ist, ist kaum bekannt. Der Grauspecht zählt zu den Spechtarten Europas, die am wenigsten untersucht sind. In Bezug auf den Lebensraum lassen sich aufgrund der bisherigen Untersuchungen nur einige allgemeine Ansprüche erkennen.

Neben reich gegliederten Landschaften mit kleinen Laubwäldern und Streuobstwiesen zählen strukturreiche und ausgedehnte Laubwälder wie Auen-, Eichen- und Buchenwälder zu den typischen Grauspechtlebensräumen. Alte, lückige Waldbestände mit Höhlenbäumen, einem hohen Totholzanteil und einer reichen vertikalen Struktur neben offenen Flächen und jungen Entwicklungsstadien des Waldes scheinen besonders günstig zu sein.

Während der auf den ersten Blick sehr ähnliche Grünspecht Waldränder und halboffene Landschaften (vor allem Streuobstwiesen) bevorzugt, besiedelt der Grauspecht überwiegend das Innere der Wälder. Hier ist ein grosses Angebot an Grenzlinien (Lichtungen, Jungwuchsbestände etc.) sehr bedeutend, da dort Ameisen – die Hauptnahrung des Grauspechts – besonders häufig sind. Doch trotz der Vorliebe für Ameisen ist der Grauspecht nahrungsökologisch weniger stark spezialisiert als der Grünspecht. Vor allem im Winter sucht Ersterer auch regelmässig grobborkige Bäume nach Nahrung ab.

Hohe Raumansprüche

Die Siedlungsdichte des Grauspechts ist in der Schweiz insgesamt gering und erreicht nur in den Auenwäldern am Südostufer des Neuenburgersees sowie im Tal der Ergolz bei Liestal BL ein bis zwei Reviere pro Quadratkilometer. Unterschiedliche Siedlungsdichten können in den mehr oder weniger geeigneten Lebensräumen in den einzelnen Gebieten begründet liegen. Mindestens so wichtig sind jedoch die oft unterschiedlichen Grössen der Untersuchungsgebiete, welche die ermittelten Werte erheblich mitbeeinflussen können: Mit zunehmender Grösse der Untersuchungsfläche nimmt die ermittelte Siedlungsdichte nämlich signifikant ab.

Grauspechte haben hohe Raumansprüche. Die Reviergrösse liegt meist zwischen 1 und 2 Quadratkilometern. Innerhalb dieser Flächen befinden sich alle wichtigen Ressourcen wie Trommel- und Rufplätze, Schlaf- und Bruthöhlen sowie Gebiete zur Nahrungssuche. Die für die Balz im Frühjahr besonders wichtigen Rufwarten sind meist exponierte Bereiche in hohen Bäumen. Trommelbäume werden oft über Jahre hinweg genutzt. Das Trommeln dient nicht nur der Revierverteidigung, sondern wird auch zum Anzeigen von Höhlen verwendet. Grauspechte rufen und trommeln im Vergleich zu anderen Spechtarten relativ selten, und zwar vorwiegend in den Monaten März bis Mai.

Dass über die Lebensweise des Grauspechts so wenig bekannt ist, mag mit eben dieser geringen akustischen Aktivität, aber auch mit der vergleichsweise schlechten Beobachtbarkeit der Art zusammenhängen. Obwohl nur geringfügig kleiner als der Grünspecht, ist der Grauspecht, auch nach Preisgabe seines Standorts durch Rufe oder Trommelwirbel, viel schwieriger zu entdecken. Hinzu kommt, dass auch die Bruthöhlen schwierig zu finden sind. Die Kombination von Seltenheit, geringer Rufaktivität und schlechter Beobachtbarkeit erklärt wohl, warum der Wissensstand über die Biologie der Art so rudimentär ist, und warum es bisher keine grösseren Forschungsprojekte über den Grauspecht gegeben hat.

Verbreitung

Die gegenwärtig 11 anerkannten Unterarten des Grauspechts weisen ein riesiges Verbreitungsareal auf, das sich von Europa (exklusive Grossbritannien) über Zentralrussland in den Süden von West- und Mittelsibirien bis zum Amur sowie nach Südostasien erstreckt.

Die Schweiz liegt am westlichen Rand des Verbreitungsareals des Grauspechts. Hierzulande hat er seinen Verbreitungsschwerpunkt in der Nordschweiz, etwas weniger ausgeprägt sind auch das Rheintal, das Engadin GR und das Münstertal GR besiedelt. Gut 80 % des Bestands konzentrieren sich in Lagen zwischen 300 und 800 m. In den allermeisten Regionen nahm der Bestand des Grauspechts seit den 1970er-Jahren deutlich ab – ein Phänomen, das zwischen 1990 und 2000 auch in anderen europäischen Ländern festgestellt wurde, namentlich in Frankreich, Belgien, Deutschland und Österreich. In Italien sowie vielen ost- und nordeuropäischen Ländern sind sie hingegen stabil oder gar (seit längerem) zunehmend.

Warum so selten?

Bis vor kurzem war die Umwandlung reich strukturierter, alter Laub- und Mischwälder in nadelholz-dominierte Bestände wohl der wichtigste Faktor für Lebensraumverluste und somit für die oben erwähnten Bestandsabnahmen des Grauspechts. Das im Waldbau inzwischen vielerorts erfolgte Umdenken lässt hoffen, dass dieser Faktor in Zukunft weniger bedeutend sein wird.

Bezüglich Nahrungsangebot dürfte sich vor allem die Umwandlung reich strukturierter und extensiv genutzter Wiesen in monotone Rasen negativ auf das Vorkommen des Grauspechts ausserhalb des Waldes ausgewirkt haben. Einerseits wurde dadurch die Quantität der Nahrung reduziert und andererseits ihre Erreichbarkeit wegen des dichten Pflanzenwuchses deutlich verringert. Wie stark sich das Nahrungsangebot im Wald infolge der Umwandlungen der Waldbestände oder aufgrund des Stickstoffeintrags über die Luft verändert hat, ist unbekannt. Möglicherweise spielt auch die gemäss Landesforstinventar in den letzten Jahrzehnten zu beobachtende Verdunkelung der Waldbestände eine gewisse Rolle. Offen bleibt die Frage, inwieweit Konkurrenz mit dem häufigeren Grünspecht auftritt und sich gegebenenfalls auf das Vorkommen des Grauspechts auswirkt.

Der Grauspecht wird in der Roten Liste der Schweizer Brutvögel in der Kategorie "stark gefährdet" geführt. Er ist eine von 50 Prioritätsarten, für deren Erhaltung und Förderung spezifische Artenförderungsmassnahmen nötig sind. Aufgrund mangelnder Kenntnisse der Ökologie des Grauspechts ist es jedoch noch nicht möglich, Massnahmen zum Artenschutz zu ergreifen. Deshalb erforscht die Schweizerische Vogelwarte mit einer detaillierten Studie die Habitatansprüche und Brutbiologie des Grauspechts.

 

(TR)