Eine Eigenheit der Edelkastanie (Castanea sativa) ist es, sehr spät in die vegetative Phase einzutreten. Austrieb und Blühphase beginnen normalerweise im Mai, was der Kastanie erlaubt, vor allem während der Blüte das Risiko von Spätfrösten zu reduzieren. Die phänologischen Phasen der Kastanie weisen auch eindeutige höhenabhängige Gradienten auf. Für den Beginn der Blütezeit wurde für das Tessin eine mittlere zeitliche Phasenverschiebung von einem Tag pro 40 Meter Höhenunterschied berechnet. Die geographische Ausrichtung und Lage innerhalb der Alpensüdseite scheint hingegen keinen nennenswerten Einfluss auf die Phänologie der Blüte zu haben.
Phänologie
Der Wortstamm "phäno" ist lateinisch und bedeutet "Erscheinung" oder "in Erscheinung treten". Die Phänologie beschäftigt sich mit den im Jahresablauf periodisch wiederkehrenden Wachstums- und Entwicklungserscheinungen der Lebewesen.
Phänologische Sondereigenschaften kultivierter Sorten
Sehr kompliziert wird es im Fall von Kultursorten, da der Zeitpunkt der Vollblüte sowie der maximalen Blüh-Intensität zwischen den verschiedenen Sorten deutliche Unterschiede aufweist: bei der weiblichen Vollblüte können z.B. in extremen Fällen bis 19, bei männlichen bis 9 Tagen Unterschied zwischen den Sorten auftreten. Gewisse Sorten weisen sogar keine männliche Vollblüte auf. Dieser Aspekt muss bei phänologischen Beobachtungen beachtet werden.
Zur Fremdbestäubung gezwungen
Morphologisch gesehen ist die Kastanie eine einhäusige Pflanze: beide Geschlechter befinden sich auf derselben Pflanze. Alle Blütenstände werden auf dem Jahrestrieb gebildet, aus den Blattachsen des mittleren Teils und der Spitze des Sprösslings ausgehend. Die einzelnen Blüten werden im Allgemeinen als eingeschlechtlich betrachtet. Die Blüten bilden partielle Blütenstände, die sich in weibliche und männliche Elemente differenzieren. Die partiellen Blütenstände organisieren sich in Blütenständen mit verlängerter Achse, welche man "Kätzchen" nennt (Abb. 1).
Trotz der Präsenz beider Geschlechter auf dem gleichen Baum gehört die Kastanie zu den Arten, die sich selbst nicht befruchten können und deshalb zur Fremdbestäubung gezwungen sind. Die Kastanie verhält sich also in der Tat wie eine zweihäusige Art, obwohl sie morphologisch einhäusig wäre. Dies wird als evolutives Übergangsstadium auf dem Weg zur reinen Zweihäusigkeit interpretiert. In einigen Ausnahmefällen, vor allem bei jungen Exemplaren der Kastanie, kann man bereits morphologische Zweihäusigkeit finden. Die Blütenbiologie der Kastanie weist jedoch auch andere Merkmale auf, die auf die evolutive Entwicklung zur Zweihäusigkeit hinweisen.
Neben den bereits erwähnten eingeschlechtlichen Blüten weist die Kastanie in vielen Fällen eine zeitliche Trennung der Reifeprozesse der weiblichen und männlichen Blüten eines einzelnen Individuums auf. Es handelt sich um einen Mechanismus zur Steigerung der Befruchtungseffizienz und zur Risikoverminderung der Blutsverwandtschaft.
Abb. 2 - Verblühte Blüten der Edelkastanie. Foto: Thomas Reich (WSL)
Wind- oder insektenbestäubt?
Die Art der Bestäubung ist ein weiterer Aspekt der Blütenbiologie der Kastanie, welcher schwer einheitlich definierbar ist. Die Kastanie weist in der Tat sowohl die typischen Merkmale der Insektenbestäubung als auch diejenigen der Windbestäubung auf. Tabelle 1 fasst die Unterschiede schematisch zusammen.
Tabelle 1 - Insekten- und Windbestäubungseigenschaften der Kastanieblüte | |
Entomophile Eigenschaften (Insektenbestäubung) |
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Anemophile Eigenschaften (Windbestäubung) |
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Beide Merkmale weisen auf ein evolutives Übergangsstadium hin. Die Kastanie entwickelt sich von einer insekten- zu einer windbestäubten Art. Die Insektenbestäubung ist üblicherweise von sekundärer Wichtigkeit, kann aber in Fällen von besonders feuchten meteorologischen Bedingungen während der Blüte wichtig sein: der Pollen wird dann viskös, klebrig und wenig geeignet für den Transport durch die Luft. Für die Insektenbestäubung überwiegen nebst Honigbienen Käfer, Schwebefliegen und Hummelarten. Die grössere Effizienz der Windbestäubung ist unbestritten. Dies beweist der grosse Erfolg dieser Befruchtungsart bei trockenem und windigem Wetter.
(TR)