Abb. 2 - Die Weisstanne bildet im oberen Kronenbereich zahlreiche Zapfen. Foto: Thomas Reich (WSL)
Abb. 3 - Wächst die Tanne in gleichförmigen, geschlossenen Waldbeständen auf, wird ihre Krone kürzer, die Stämme sind sehr schlank und somit sturmanfälliger. Foto: Ernst Zeller
Abb. 4 - Die Weisstanne hat ein tief gehendes Wurzelsystem aus Pfahl- und Senkwurzeln (nach N. Köstler, 1986).
Abb. 5 - Der geringe Lichtgenuss in der Jugendphase zeigt sich im engen Jahrringbau im Zentrum dieses Baumes. Foto: Pascal Junod
Abb. 6 - Erster Bürobau nach Minergie-P-Eco der Schweiz mit einer Fassade aus natürlich vorvergrautem Weisstannenholz. Die drei Geschosse über dem massiven Untergeschoss sind mehrheitlich in Holz erstellt. Foto: Corinne Cuendet, Clarens (LIGNUM)
Abb. 7 - Im Bündner Rheintal setzt die Mistel geschwächten Tannen besonders stark zu und vermag sie innert weniger Jahre zum Absterben zu bringen. Foto: Ulrich Wasem (WSL)
Abb. 8 - Von den Hauptbaumarten wird die Tanne durch Reh, Gämse und Hirsch am stärksten verbissen. Sie reagiert empfindlicher auf Verbiss als andere Baumarten. Foto: Ulrich Wasem (WSL)
Abb. 9 - Nur dank mechanischem Schutz konnte diese Tanne aufwachsen.
Foto: Amt für Wald und Naturgefahren Graubünden
Die Tanne erfüllt im Gebirgswald bedeutende Funktionen. Mit ihrer langen Krone und dem tief reichenden Wurzelwerk trägt sie wesentlich zur Stabilität des Waldgefüges bei. Dadurch vermag sie Hänge wirksam vor Rutschungen und Erosion zu schützen. Im Schutzwald kommt ihr wegen der beachtlichen Resistenz gegenüber Verletzungen eine besondere Bedeutung zu. Ausserdem leistet die Tanne einen wertvollen Beitrag zur Vielfalt der Arten und der Lebensräume.
Tannenwälder gehören zu den produktivsten Waldtypen der Schweiz. Die Tanne kann hochwertiges und vielseitig verwendbares Holz erzeugen. Aber nur durch gemeinsame Anstrengungen von Waldbesitzern, Förstern, Jägern, Holzkäufern und uns allen kann es gelingen, die Wertschätzung der Tanne zu fördern und langfristig zu erhalten.
Die in der Schweiz heimische Weisstanne oder Tanne (Abies alba) gehört zur Familie der Kieferngewächse. Unter optimalen Bedingungen erreicht sie eine Höhe von etwa 50 m und kann bis zu 600 Jahre alt werden. Tannen besitzen einen schnurgeraden, walzenförmigen Stamm und anfangs eine kegelförmige, im Alter eine storchennestartig abgeplattete Krone sowie eine tief reichende, herzförmige Bewurzelung. Die Rinde ist zunächst braun und glatt, später entwickelt sich daraus eine weissgraue Tafelborke.
Bei der Tanne sind die fast waagrecht abstehenden Äste in Quirlen angeordnet. Die etwa 2 cm breiten, flachen und vorne ausgerandeten Nadeln besitzen einen Kiel und zwei helle Wachsstreifen. Im Wald ist die Tanne nach 60-70 Jahren geschlechtsreif und bildet je nach Klima alle 2-6 Jahre Zapfen mit geflügelten Samen, die durch Wind verbreitet werden. Die Blütenstände befinden sich im obersten Teil der Krone: die männlichen sind 2-3 cm lang, abwärts gerichtet und gelb, die weiblichen aufwärts gerichtet und rot, später grün. Die Bestäubung erfolgt durch den Wind. Tannenzapfen werden 8-12 cm lang, sitzen aufrecht und zerfallen noch am Ast nach der Reife. Nur die Zapfenspindel bleibt stehen.
Eine Südländerin erobert Mitteleuropa
Nach der Eiszeit wanderte die Tanne aus dem nördlichen Mittelmeerraum in die Südschweiz ein und erreichte via Leventina (Kanton Tessin) und den Lukmanierpass das Vorderrheintal im Kanton Graubünden. Von dort aus verbreitete sie sich in die nördlicheren Landesteile weiter. Zeitgleich kam sie von Österreich aus über den Reschenpass ins Unterengadin. Pollenanalysen, Makrofossilien und genetische Untersuchungen bestätigen dies.
Auf den langen Wegen haben sich Populationen aufgespalten oder an unterschiedliche Standortbedingungen angepasst. Daraus entstanden die heute bekannten Ökotypen oder Standortrassen mit ihren unterschiedlichen genetischen Informationen. Die Tanne übt in Graubünden somit eine Brückenfunktion für den Austausch genetischer Informationen aus. Nachdem sich die Tanne hier etabliert hatte, wurde sie einerseits durch die von Norden einwandernde Fichte in den obersten Lagen abgelöst, andererseits auch durch die Buche verdrängt. Zudem haben sich die standörtlichen Bedingungen, insbesondere die klimatischen Verhältnisse, stark verändert.
Die grössten Vorkommen an tannenreichen Wäldern befinden sich heute im Alpenraum und in den südosteuropäischen Gebirgen. Ohne Konkurrenzdruck würde die Tanne mit Ausnahme sehr nasserund extrem trockener Standorte heute fast überall vorkommen. Weil aber das Optimum der Tanne vom Optimum der konkurrenzstärkeren Buche überlagert wird, werden die Wälder dort von der Buche dominiert. Die Tanne ist eine Baumart mit Verbreitungsschwerpunkt in der montanen Höhenstufe. Daher hat sie ihre grösste Bedeutung in den Tannen- Buchenwäldern der obermontanen Stufe und in den Tannen- Fichtenwäldern der hochmontanen Stufe. Hier gehört sie zu den Baumarten des Schlusswaldes. Sowohl in tieferen Lagen als auch in der subalpinen Stufe kann die Tanne auch ausserhalb ihres optimalen Verbreitungsgebietes vorkommen. Wird das Klima kontinentaler, fällt sie aus.
In der Jugend geborgen - später frei und dominant
Die Tanne kann in der Jugend jahrzehntelang mit geringem Lichtanspruch auskommen, um sich später bei vermehrtem Lichtgenuss zu erholen und normal zum dominierenden Baum zu entwickeln. So kann sie sich in einer Mischung mit den in der Jugend rascher wachsenden Fichten und Buchen behaupten. Schönste Baumkronen und Stämme bildet sie, wenn sie als Individuum behandelt und nicht von Konkurrenten bedrängt wird. Dann kann sie bis ins hohe Alter ihre Gesundheit und Vitalität erhalten, dem Nachwuchs unter Schirm den notwendigen Schatten spenden und den Boden über Jahrzehnte hinweg schützen.
Der Plenterwald – gelebte Nachhaltigkeit
Neben Fichte und Buche ist die Tanne die ideale Baumart für den Plenterwald. Dort wachsen Bäume unterschiedlicher Dimensionen auf kleinster Fläche neben- und untereinander und bilden so eine stufige Struktur. Entscheidend ist nicht das Alter der Bäume, sondern deren Dimension und ihre Stellung im Bestandesgefüge. Plenterwälder sind bewirtschaftete Wälder – die stufige Struktur ist das Resultat einer stetigen, zielgerichteten, einzelstamm- oder allenfalls gruppenweisen Nutzung. Ein Eingriff im Plenterwald umfasst gleichzeitig alle Massnahmen der Verjüngung, der Erziehung, der Ausformung und der Ernte.
Im Schutzwald: enorme Leistungen für Mensch und Umwelt
Im Schutzwald wirken sich die Eigenschaften der Weisstanne positiv aus, ja sie ist anderen Baumarten sogar überlegen:
- Das geringe Lichtbedürfnis ermöglicht die Verjüngung auch in kleinen Lücken.
- Die tiefe Durchwurzelung des Bodens verbessert die Armierung des Bodens und hemmt Erosion und oberflächliche Rutschungen.
- Das Wurzelwerk vergrössert das Porensystem im Boden und verbessert die Versickerung des Wassers und das Aufnahmevermögen bei Starkniederschlägen.
- Die Resistenz gegenüber Verletzungen erhöht die Beständigkeit bei Steinschlag.
- Die tief wurzelnde Tanne verleiht den Wäldern eine grössere Stabilität gegenüber Stürmen.
- In Tannen-Fichten-Mischwäldern mit einem hohen Tannenanteil kann der Borkenkäfer (Buchdrucker) an Fichten weniger ausgedehnte Schäden verursachen.
Der Beitrag der Tanne zur Erhaltung der Vielfalt der Arten und ihrer Lebensräume (Biodiversität) ist enorm. Dies tut sie allein durch ihre Präsenz als Art, aber auch durch ihre Andersartigkeit im Verhalten und in den Lebensabläufen. Lange Kronen, Stufigkeit, Alt- und Totholz bedeuten andere Strukturen, Abwechslung, Nischen und damit eine Chance für zahlreiche Pflanzen- und Tierarten, die darauf angewiesen sind.
Wert des Holzes - häufig unterschätzt
Die Tannenwälder gehören zu den produktivsten Waldtypen der Schweiz. Die Tanne kann hochwertiges und vielseitig verwendbares Holz erzeugen. Auf optimalen Standorten ist sie der Fichte hinsichtlich Massen- und Wertholzproduktion deutlich überlegen, denn es sind bis ins hohe Alter beträchtliche Massenzuwächse zu erwarten. Die Tanne liebt es, etwas „gehätschelt“ und umsorgt zu werden. Dann ist sie bereit, auf guten Standorten viel und hochwertiges Holz bis zu Furnierqualität zu erzeugen. Leider wird das Holz heute aber oft unter seinem Wert verkauft.
Vom Rückgang der Tanne
Veränderte kllimatische Bedingungen, Verdrängung durch Konkurrenzbaumarten und der wirtschaftende Mensch sind für den Rückgang der Tanne seit dem Mittelalter mitverantwortlich. Später führten die Begünstigung der Fichte bei Wiederaufforstungen, ungeeignete waldbauliche Behandlung, aber auch die Vernachlässigung der Jagd dazu, dass der Tannenanteil ständig abnahm. Bis anfangs des 20.Jahrhunderts war der Tanne durch Forstleute konsequent der Kampf angesagt, weil die Fichte wirtschaftlich höher bewertet wurde. Unter diesem negativen Image leidet die Tanne teilweise heute noch.
Entwertend wirken beim Tannenholz häufig Ringschäle, Frostrisse, Nasskern, Krebsschäden und Mistelbefall. Dass dem so ist, darf aber nicht der Tanne angelastet werden, sondern entspricht ihrer Qualität auf weniger geeigneten Standorten und in Grenzbereichen.
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist vom "Tannensterben" am Rand der natürlichen Verbreitung, neuerdings aber auch auf optimalen Standorten die Rede. Die Tannen kränkeln, ihre Benadelung wird schütter, es treten Pilzkrankheiten und Insektenbefall auf. Wälder verlichten durch Absterben der Bäume, und wegen örtlich ungünstiger Bedingungen hat dann die Verjüngung zunehmend Schwierigkeiten. Als Ursache nimmt man viele in komplexer Wechselwirkung stehende Faktoren mit summierender Wirkung an. Entscheidend ist die Störung der natürlichen Umwelt und der Lebensbedingungen. Dazu kommt die oft völlig ungenügende Naturverjüngung.
Hilfe für die Tanne
Die Tanne mit ihren gigantischen Dimensionen und ihrem hohen Alter beweist immer wieder ihr Stehvermögen als wahre Überlebenskünstlerin. Dies allein wäre Grund genug, sie im Sinne einer nationalen und kantonalen Aufgabe zu fördern, zu hegen und zu pflegen.
Dazu können verschiedene Kreise Beiträge leisten:
- die Waldbesitzer und die Förster, indem sie die waldbaulichen Werte der Tanne anerkennen und auf den ihr zusagenden Standorten gebührend berücksichtigen.
- die Jagdorgane, indem sie die Bemühungen zur Anpassung der Schalenwildbestände fortsetzen und mithelfen, die Ergebnisse mittels Erfolgskontrollen im Wald nachzuweisen.
- die potenziellen Holzverwender, indem sie der vermehrten Verwendung des Tannenholzes wieder zum Durchbruch verhelfen und diesen umweltschonend und nachhaltig produzierten Rohstoff in allen Bereichen fördern.
- die gesamte Bevölkerung, indem sie versucht, die Eigenheiten der Tanne besser zu verstehen, von ihr zu lernen und unsere kurzfristigen Wertvorstellungen dem langfristigen Denken in Zeiträumen von 100-200 Jahren unterzuordnen.
- alle Waldbesucher, indem sie unnötige Störungen von Wildlebensräumen vermeiden und zur Reduktion von Luftschadstoffen beitragen.
Bezüglich einiger häufiger Standorte in Graubünden bestehen noch wesentliche Wissenslücken. Dazu fehlen gute Beobachtungsflächen in Form von langfristig sich selber überlassenen Naturwaldreservaten wie auch gut dokumentierte Beispiele mit verschiedenen Behandlungsvarianten.
Dieser Beitrag entstand in Zusammenarbeit mit dem Amt für Wald und Naturgefahren Graubünden