"Der Lago di Massaciuccoli ist perfekt", sagt Daniele Colombaroli. Der Doktorand vom Institut für Pflanzenwissenschaften der Universität Bern untersucht die Seesedimente, um zu verstehen, wann und warum sich die immergrünen Eichen ausgebreitet haben. Der Lago di Massaciuccoli liegt auf Meereshöhe, wenige Kilometer nördlich von Pisa, eben ungefähr in dem Bereich, wo die typische Mittelmeervegetation beginnt. Doch was heisst schon typisch! Denn was er da fand, hat alle überrascht.
Grösster Pollen in Europa
In den Bohrkernen fand er den grössten Pollen, den es in Europa gibt, Pollen von Weisstannen. Und Weisstannen auf Meereshöhe, am Mittelmeer, das dürfte es eigentlich gar nicht geben. Um ganz sicher zu sein, dass es sich nicht um Pflanzenteile handelt, die von den Bergen her eingeschwemmt worden waren, untersuchte er das Moor nebenan. Auch hier – Weisstannen. Dieser Baum kommt in Italien zwar vor, aber nur in höheren Lagen, wo es feucht ist, in den Alpen also oder in den kalabrischen Bergen.
Die Weisstanne ist der grösste Baum Europas. Einige der eindrücklichsten Exemplare der Schweiz stehen in Dürsrüti im Emmental. Die vielen Pollenkörner in den Seesedimenten weisen nun aber darauf hin, dass dieser Baum früher auch am Mittelmeer zu Hause war. "Dass wir Weisstannenpollen auf Meereshöhe gefunden haben, bedeutet, dass wir das ökologische Potenzial dieses Baumes vermutlich nicht richtig kennen", erklärt Willy Tinner, der die Arbeit betreut.
Das gleiche Bild im Tessin
Abb. 2. Wälder mit hohem Anteil an Weisstanne gab es vor einigen Jahrtausenden auch im Mittelmeerraum. Foto: Ulrich Wasem (WSL)
Der Paläobotaniker hatte vorher bereits im Tessin Pollen der Weisstanne gefunden, auch da in Höhenlagen, wo er sie nicht erwartet hatte. Willy Tinner beschäftigt sich unter anderem mit der Feuergeschichte. Feuer hat in der Entwicklung der Landschaft vielerorts eine grosse Rolle gespielt, auch in der Schweiz. Welche genau, wollte er herausfinden und hat dafür im Tessin Seesedimente untersucht. Da sich in den Seen sowohl Pflanzensamen als auch Kohlereste ablagern, sind sie ideale Archive, um die Klima-, Vegetations- und Feuergeschichte zu rekonstruieren (vgl. Diagramm unten).
Im Lago di Origlio, nördlich von Lugano, fand er dann eine überraschende Konstellation. Bevor der Mensch vor etwa 7500 Jahren begann, die Landschaft mit Hilfe von Feuer urbar zu machen, gab es im Tessin viele Weisstannen. Gleichzeitig mit den Feuern gingen sie zurück, bis sie vor rund 5000 Jahren in tieferen Lagen schliesslich ganz verschwanden. "Ich habe das als Unikum betrachtet." Die Funde im Lago di Massaciuccoli beweisen nun aber, dass die Weisstanne früher wohl sehr viel weiter verbreitet war als heute.
Wo die Weisstanne heute vorkommt, gibt es keine Waldbrände
Abb. 3. Wo die Weisstanne heute noch vorkommt, gibt es keine Waldbrände. Foto: Marco Conedera (WSL)
Der Tessiner Wald muss damals ganz anders ausgesehen haben. Neben Weisstannen wuchsen Linden, Ulmen, Erlen, Eschen, Eichen, Hasel und Efeu. Kastanienwälder gab es noch keine, die wurden erst durch die Römer angebaut. Mit den ständigen Störungen durch Feuer veränderte sich der Wald. Ulmen und Efeu wurden durch Haseln, Erlen und Birken verdrängt. Die Buche kam auf, die Weisstanne verschwand.
Ganz offensichtlich reagieren die Bäume sehr unterschiedlich auf Feuer. Hasel zum Beispiel schlägt sehr leicht wieder aus. Die Weisstanne dagegen scheint sehr empfindlich zu sein. Doch so genau wisse das niemand, meint Willy Tinner: "Dort, wo die Weisstanne heute noch vorkommt, gibt es keine Waldbrände. Und umgekehrt." Er nimmt an, dass sich die Weisstannen gezwungenermassen in höhere Lagen zurückgezogen haben.
Abb. 4. Heutige Verbreitung Natürliches Verbreitungsgebiet (grün) der Weisstanne (Abies alba). Quelle: euforgen.org
Abb. 5. Wie die Sedimentanalysen zeigen, haben Waldbrände – sichtbar an den hohen Kohlenanteilen in manchen Sedimentschichten – den Weisstannenbestand über die Jahrtausende sukzessive verringert, während sich die immergrünen Steineichen jeweils rasch wieder erholten.
Klima oder Mensch?
Das Team vom Berner Institut für Pflanzenwissenschaften untersucht die Klima-, Vegetations- und Feuergeschichte auf dem Weg von den Alpen bis ins Zentrum des Mittelmeers, nach Sizilien. Und auf diesem Weg liegt ideal der Lago di Massaciuccoli. Die Bohrkerne zeigen ein ähnliches Bild wie im Tessin: eine bestimmte Waldgesellschaft, dann, vor rund 6000 Jahren, zunehmend Feuer; die Vegetation verändert sich, die Weisstanne verschwindet, Sträucher und Kräuter breiten sich aus. "Und das Ganze spielte sich innnerhalb von wenigen Jahren ab", betont Daniele Colombaroli.
20 Jahre reichten aus, um das Bild einer Landschaft vollständig und langfristig zu verändern. Bis heute. Die immergrünen Eichen sind nicht erst in dieser Zeit aufgekommen, sie sind einfach die einzigen, die überlebt haben. Als die Weisstannen kollabierten, war der Anteil an Kohle sehr hoch. Es muss also oft gebrannt haben. Aber warum? Wurde das Klima wärmer und trockener, so dass es mehr natürliche Waldbrände gab? Sind die Brände auf menschliche Eingriffe zurückzuführen? Oder eine Kombination?
Um der Entwicklung des Klimas auf die Spur zu kommen, hat Daniele Colombaroli die Kieselalgen in der nahen Lagune von einem italienischen Labor analysieren lassen. Denn je nach Temperatur, Nährstoffgehalt und Salinität des Wassers kommen unterschiedliche Arten vor. Die Analysen sind deutlich: Wenige Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der ursprünglichen Vegetation war es tatsächlich wärmer. Auch die Wasserqualität veränderte sich. Es wurde zunehmend brackig, zu einem Gemisch aus Salz- und Süsswasser.
Doch ein Standort allein reicht nicht aus, um festzustellen, ob sich das Klima in der Region wirklich verändert hat. Deshalb untersucht der Doktorand nun detailliert einen zweiten See, etwas weiter südlich. Dabei interessiert ihn vor allem, ob ein Sediment eher ufernah oder im tieferen Wasser abgelagert worden ist. So lassen sich Wasserstandsschwankungen nachweisen. Und diese wiederum lassen Rückschlüsse auf das Klima zu. Sollten die Wasserstandsänderungen mit den Veränderungen im Lago di Massaciuccoli korreliert sein, so wäre dies ein klarer Beleg für klimatische Veränderungen. Wenn nicht, so wäre dies ein ebenso wichtiger Hinweis für den menschlichen Einfluss.
Verschwinden die Weisstannen auch bei uns?
Die Feuergeschichte ist in Mittel- und Südeuropa noch ein sehr junger Zweig der Wissenschaft. Die erste Publikation erschien erst Ende der 1980er Jahre. Bisher habe man den Einfluss von Feuer auf die ökologischen Bedingungen nur wenig wahrgenommen: "Aber wenn man diese Fakten nicht berücksichtigt, kann man die Ökologie nicht verstehen und erst recht nichts voraussagen", gibt Willy Tinner zu bedenken. Klimatologen und Ökologen warnen, dass Waldbrände mit einer Klimaerwärmung auch in inneralpinen Tälern zunehmen werden. Und die Berner Resultate zeigen, dass Feuer die Vegetation in relativ kurzer Zeit verändert. Dann könnten auch bei uns die Weisstannen schnell verschwinden.