Das Verbreitungsmuster einer Baumart kann von verschiedenen Faktoren abhängen. Standörtliche Ansprüche der Baumart sind ebenso zu berücksichtigen wie die Einwirkung des Menschen, der durch seine vielfältigen Handlungen die Baumart stellenweise zum Aussterben gebracht haben könnte. Am Ende der letzten Eiszeit fehlte die Tanne im gesamten Alpenraum; erst vor etwa 9000 Jahren begann sie die Schweiz wieder zu besiedeln (siehe Abb. 3).
Die Region der kontinentalen Hochalpen (siehe Abb. 2) zeigt gegenwärtig bis auf kleinste Ausnahmen keine natürlichen Tannenbestände. In den ozeanischen Randalpen hingegen sind Weisstannen natürlicherweise mehr oder weniger zonal verbreitet: Während sich die Tanne am unteren Rand ihrer Höhenverbreitung gegen den zunehmenden Konkurrenzdruck der Buche durchsetzen muss und ihm schliesslich erliegt, wird ihr gegen oben durch Winterkälte und Spätfröste eine Grenze gesetzt. Dazwischen ist sie mit Ausnahme einiger meist nur kleinflächiger Extremstandorte als durchgehendes, mehr oder weniger breites Band verbreitet. Fehlen die Tannen in aktuellen Beständen, die mit Hilfe von Standortsanalysen als tannenfähig erkannt werden, so ist der Schluss meist plausibel, dass in diesen Beständen die Tanne durch menschliches Wirken verdrängt wurde.
Unregelmässige Tannenverbreitung in den Zwischenalpen
Abb. 2. Gliederung der Schweiz in die Standortsregionen (nach OTT et al. 1997) sowie Nebenareal und Reliktbereich der Tanne in den Zwischenalpen. 1: Nördliche Randalpen, 2: Nördliche Zwischenalpen, 3: Kontinentale Hochalpen, 4: Südliche Zwischenalpen, 5a: Südliche Randalpen mit Fichte, 5b: Südliche Randalpen ohne Fichte.
In den Zwischenalpen (Abb. 2) ist die Situation jedoch etwas anders: Namentlich in tieferen Lagen, vorzugsweise an Schattenhängen mit kühlem Klima, finden sich wohl immer wieder zum Teil recht ausgedehnte Bestände mit einem oft erstaunlichen Tannenreichtum. Bei genauerem Hinsehen fällt jedoch auf, dass grosse Gebiete vorhanden sind, in denen die Tanne auch auf eigentlich recht "günstigen" Standorten vollständig fehlt. Andererseits sind aber Tannenbestände unter Bedingungen anzutreffen, die nach unseren gängigen Vorstellungen für das Tannenwachstum als äusserst ungünstig erachtet werden müssen. Ist nun der oft gemachte Schluss zulässig, aufgrund solcher Vorkommen auf eine grossflächige zonale potenzielle Verbreitung zu schliessen? Wie erklärt sich dieses teilweise unreglmässige Verbreitungsmuster der Tanne im zwischenalpinen Bereich und welche Faktoren sind dafür verantwortlich?
Einwanderungsgeschichte der Tanne
Während der letzten Eiszeit fehlte die Tanne in den Schweizer Alpen. Vom Südtessin kommend besiedeln Tannen vor etwa 9000 Jahren rasch die Leventina und überschreiten die tiefen Übergänge des Lukmanier und des Simplon. Vor etwa 8000 Jahren waren das Vorderrheintal und die Region Brig mit Tannen besiedelt. Vom Vorderrheintal aus wird einerseits das Urner Reusstal, andererseits das Albulatal, das Oberhalbstein, die Region Davos und schliesslich vor etwa 7000 Jahren von Chur aus das St. Galler Rheintal besiedelt. Im Wallis verläuft die Wanderung etwas langsamer. Mit der Überwindung des Reschenpasses beginnt die Tanne auf einem gesonderten Weg das Engadin innaufwärts zu besiedeln.
Die Einwanderung der Fichte beginnt generell etwas später als jene der Tanne. Aus östlicher Richtung kommend erreicht sie das noch tannenfreie Unterengadin und stösst relativ rasch in südwestlicher Richtung vor. Über das Gebiet des Hinterrheins und den San Bernardino gelangt sie recht früh ins Misox, wird aber bei der Weiterwanderung nach Süden aufgehalten. Entlang des Hinterrheins gelangt sie ins Churer Rheintal und von dort ins Vorderrheintal wo sie auf die sich ausbreitenden Tannen trifft und sich vor etwa 6000 Jahren gegen diese durchsetzt. Auf ihrem Weg nach Westen verzögert sich in der Folge die Einwanderungsgeschwindigkeit der Fichte zusehends.
Abb. 3. Zur Einwanderungsgeschichte von Tanne (ausgezogene Linien) und Fichte (gestrichelte Linien). Isochoren in Jahren vor heute (nach BURGA & PERRET 1998).
Im jüngeren Atlantikum (vor 5000–6000 Jahren) steigt die Waldgrenze auf 2300 m ü.M. Die Tanne kann sich rasch gegen die weit verbreiteten Laubmischwälder durchsetzen und verbreitet sich beinahe explosionsartig, um in der montan-subalpinen Stufe die Wälder zu dominieren. Während sie sich im Westen der Schweizer Alpen mehr oder weniger ungehindert ausbreiten kann, muss sie sich gegen Osten immer stärker gegen die Konkurrenz der Fichte wehren. Im Subboreal (vor 2500–5000 Jahren) erreicht die Tanne ihr maximales Areal und besiedelt in den östlichen Alpen weite Gebiete, aus denen sie gegenwärtig wieder verschwunden ist. Lediglich im oberen Engadin scheint eine tannenfreie Insel bestanden zu haben.
Mit den ungünstiger werdenden klimatischen Bedingungen begann sich die Tanne in Richtung der ozeanischeren Gebiete zurückzuziehen. Es stellt sich nun die Frage, wie ein solcher Rückzug vonstatten geht. Am plausibelsten scheint die Vorstellung eines Zerfalls einer ehemals flächendeckenden Tannenverbreitung in mehr oder weniger grosse Bruchstücke im Bereich von lokal etwas günstigeren Standorten.
Klimatische Aspekte und standörtliche Bindung
Beim Betrachten inneralpiner Tannenvorkommen fällt die geringe Bindung an Standortstypen auf. Um die Ursache für das Ausklingen der Tannenvorkommen noch besser zu verstehen, wäre es sinnvoll, den Begriff der Kontinentalität zusätzlich um grössere Temperaturschwankung und erhöhte Einstrahlung zu erweitern (thermische Kontinentalität).
Die höher gelegenen tannenfreien Gebiete zeichnen sich nämlich durch eine sehr hohe thermische Kontinentalität aus: sehr starke jahreszeitliche und vor allem auch tageszeitliche Temperaturschwankungen mit verstärktem Auftreten von Bergwinden. Die Dauer der Vegetationsperiode ist in entsprechender Höhenlage wesentlich kürzer als in den zwischenalpinen Bereichen mit Tannenvorkommen. An südexponierten Hängen ist die Einstrahlung in den kontinentalen Gebieten besonders gross (geringe Bewölkung), was der Tanne im Allgemeinen nicht zu behagen scheint.
Beim Vergleich der ausgedehnteren inneralpinen Tannenvorkommen Graubündens und des Wallis fallen folgende Gemeinsamkeiten auf: Tannenbestände finden sich vor allem in den tiefer eingeschnitten Haupttälern mit einer mehr oder weniger ausgedehnten flachen Talsohle. Steigt die Talsohle der Haupttäler über 1000 m ü.M. an, so klingen die Vorkommen aus; es sind nurmehr kleinflächige Relikte vorhanden. Die Grenze liegt häufig dort, wo sich die Täler schluchtartig verengen. Sobald sich die Täler oberhalb einer Talstufe über 1000 m ü.M. wieder öffnen, gibt es keine Tannen mehr. Einzelne Relikte sind hingegen oft noch bis in erstaunliche Höhenlagen anzutreffen. Die Tannenvorkommen der Seitentäler beschränken sich meist auf die untersten Talabschnitte. Namentlich steile felsige Flanken schluchtartiger Täler zeigen oft einen erstaunlichen Tannenreichtum. Die oft oberhalb anschliessenden flacheren Hochtäler sind meist frei von grösseren Tannenbeständen, obwohl die Obergrenze der hochmontanen Stufe bei weitem noch nicht erreicht ist.
Die ausgedehnteren Tannenvorkommen der buchenfreien Gebiete der nördlichen Zwischenalpen finden sich vor allem an den der direkten Strahlung abgewandten Hängen. Während im östlichen Teil der Schweiz an den Sonnenhängen nur kleinflächige Relikte anzutreffen sind, gibt es im Wallis einige grössere Bestände auch an strahlungsreichen Südhängen.
Im Bereich der südlichen Zwischenalpen (Abb. 1) zeichnet sich eine ähnliche Tendenz ab: ausgedehntere Tannenbestände fehlen in den höher gelegenen Abschnitten der Haupttäler. Auch hier liegen die Grenzen oberhalb mehr oder weniger deutlicher Talstufen. Erstaunlich ist ferner die Tatsache, dass sich die unterschiedliche Beschaffenheit des Untergrundes bzw. des geologischen Substrates kaum merklich auf die Verbreitung der Tannen auswirkt. Anders als beispielsweise bei der Lärche oder bei der Buche liessen sich bisher keine tannenfeindlichen Gesteine feststellen.
Erklärungsmodell
Abb. 4. Modellhafte Darstellung der Auflösung des Tannenareals an der kontinentalen Grenze.
Um die heutige Verbreitung der Weisstanne zu erklären, sind verschiedene Faktoren zu betrachten:
- Der menschliche Einfluss (z.B. Kahlschläge, Waldweide)
- Einwanderungsgeschichte der Tanne (siehe oben)
- Genetische Unterschiede der aktuellen Tannenverbreitung
- Klimatische Aspekte und standörtliche Bindung
- Tannenrelikte als Zeugen einer tannenfreundlicheren Zeit
Ein einfaches Modell dient dazu, die einzelnen Faktoren zusammenzuführen und Grundlagen für eine Entscheidungshilfe zum waldbaulichen Umgang mit Tannenvorkommen bzw. Nichtvorkommen in den Zwischenalpen zu bieten. Dazu gliedert der Autor das Areal der Tanne in ein Hauptareal, ein Nebenareal und einen Reliktbereich:
Hauptareal
Das Hauptareal der Tanne liegt im Bereich der Randalpen und umfasst die Regionen 1 und 5 (Abb. 3). Für die Schweiz ist dieses Gebiet neben einigen Tälern der Südschweiz wohl als das eigentliche Areal, also als das Hauptareal der Tanne zu betrachten.
Nebenareal
In den Zwischenalpen (Regionen 2 und 4) beginnt sich das Areal in Bruchstücke aufzulösen. In diesem Nebenareal sind tannenreiche Bestände noch mehr oder weniger ausgedehnt und lassen mindestens an Schattenhängen Tendenzen einer zonalen Verbreitung erkennen. Während die Obergrenze der Tannenverbreitung im östlichen Gebiet an den Talflanken bei etwa 1300 m ü.M. liegt, erreichen zonale Tannenvorkommen im westlichen und südlichen Gebiet die obere Grenze der hochmontanen Stufe (1600 bis 1700 m ü.M.). In allen übrigen Bereichen - namentlich an süd- bis westexponierten Hängen - erreicht die Tanne keine zonale Verbreitung. Die hier vorkommenden Tannen sind als Relikte aufzufassen.
Reliktbereich
Als Relikte werden die spärlichen Tannenvorkommen der kontinentaleren Gebiete bezeichnet. Sie gehören nicht mehr zum eigentlichen Tannenareal. Die in den höher gelegenen Tälern der Zwischenalpen sowie in den kontinentalen Hochalpen anzutreffenden Tannenbestände sind meist nur klein und als Relikte eines ehemals viel grösseren Tannenareals zu werten. Inwieweit sich die klimatischen Bedingungen im Reliktareal durch die neuerdings feststellbare Klimaerwärmung wieder jenem tannenfreundlichen Klima der postglazialen Wärmezeit anzunähern vermag, wird erst die Zukunft zeigen.
Forstwirtschaftliche Umsetzung
Gegenwärtig herrscht in den meisten der zwischenalpinen Gebieten ein derartiger Wilddruck, dass die Tanne nicht mehr ohne Schutzmassnahmen aufgebracht werden kann. Bis sich eine Verbesserung der Situation abzeichnet, sollten tannenreiche Altbestände geschont werden. Da nicht ausgeschlossen ist, dass sich die Tanne nach wie vor auf dem Rückzug befindet, sollten man sämtliche Massnahmen vermeiden, die zu einer Verminderung des aktuellen Tannenreichtums führen. Insbesondere gilt es, künftige Samenbäume zu erhalten und eventuell auch neue Stützpunktkulturen anzulegen.
Alle im Reliktbereich vorhanden Tannenbestände sind als Reste einer tannenfreundlicheren Zeit zu betrachten. Es handelt sich um absolut schützenswerte Naturobjekte, die unbedingt in ihrer gegenwärtigen Ausdehnung und ihrem Tannenreichtum erhalten bleiben müssen. Bis die Wildbestände nachweislich auf ein für die Tannenverjüngung tragbares Mass reduziert worden sind, sollen Verjüngungsschläge im Tannenaltbestand unterbleiben.