Im Zuge des Waldumbaus hin zu widerstandfähigen, klimaangepassten Wäldern von morgen, sollen Eiche und Tanne eine größere Bedeutung im baden-württembergischen Wald bekommen. Dafür wird vielerorts auf Naturverjüngung gesetzt, die jedoch in manchen Gebieten durch Wildverbiss gefährdet ist. Das Projekt „Transfer im Themenbereich Wildverbiss“ der FVA hat zum Ziel, Wissen zur Entwicklung und Umsetzung praxisrelevanter Strategien aufzubereiten, mit denen sich waldbauliche Verjüngungsziele trotz Wildverbisseinfluss erfolgreicher erreichen lassen.
Waldumbau
Die Wälder Baden-Württembergs sind in ihrer jetzigen Zusammensetzung nur bedingt zukunftsfähig. Aktuell zeigen sie große Schäden, die auf den Klimawandel als Hauptursache zurückgeführt werden. Eine ungewöhnliche Häufung von Jahren mit unterdurchschnittlichem Niederschlag sorgte dafür, dass Bäume direkt geschädigt oder so geschwächt wurden, dass sie leicht von Insekten oder Krankheiten befallen werden. Die in vielen Bereichen standortsfremde Fichte ist dabei besonders betroffen und hat sich vom Brotbaum zum Problembaum der Waldwirtschaft gewandelt. Hoffnungsträger beim geplanten Waldumbau hin zu klimaresilienten Mischwäldern sind unter anderen die heimischen Eichenarten und die ebenfalls heimische Weißtanne, die unter den zukünftigen Wuchsbedingungen als existenz- und konkurrenzfähig eingestuft werden. Voraussetzung für eine Förderung der Eichen- und Tannenanteile ist eine erfolgreiche Verjüngung der beiden Baumarten. Neben den vielen abiotischen und biotischen Faktoren, die eine erfolgreiche Verjüngung benötigt, findet sich der Verbiss durch Wildtiere, insbesondere Schalenwild, als Negativeinfluss auf die Verjüngung. Während die Verjüngung in vielen Revieren Baden-Württembergs bereits funktioniert, finden sich jedoch auch Gebiete, in denen die Verjüngungsziele besonders bei Tanne und Eiche wegen zu hohen Wildverbisses nicht erreicht werden (Abb. 2).
Abb. 2: Die Karte zeigt die waldbauliche Zielerreichung der waldbaulichen Verjüngungsziele für Eiche (links) und Tanne (rechts) gemittelt über aller Jagdreviere einer Gemeinde. Die Reviere einer Gemeinde wurden mit dem jeweiligen Waldflächenanteil gewichtet. Farbig dargestellt sind nur Gemeinden, in denen für 2018 Eichen- bzw. Tannenverjüngung im Forstlichen Gutachten bewertet wurde. Die Anzahl der Jagdreviere, die pro Gemeinde in die Darstellung eingeflossen sind, variiert. Die dargestellte Zielerreichung je Gemeinde resultiert aus der Mittelung der geschätzten Zielerreichung ihrer Jagdreviere, gewichtet nach Waldfläche je Revier. Aus dem Wert für die Gemeinde darf daher nicht auf ein einzelnes Revier geschlossen werden.
Das Forstliche Gutachten in Baden-Württemberg
Einen Überblick über den Umfang und die Entwicklung der Verbissintensität ermöglicht das Forstliche Gutachten in Baden-Württemberg, das seit 1986 angewendet wird und 2009 weiterentwickelt wurde. Im dreijährigen Turnus wird dabei auf Jagdrevierebene geschätzt, wie intensiv die Hauptbaumarten auf den Verjüngungsflächen verbissen werden. Die Beurteilungen erfolgen in den Klassen gering (0-20%), mittel (≥20-50%) und stark (≥50-100%). Seit 2009 wird zusätzlich geschätzt, ob die waldbaulichen Verjüngungsziele erreicht werden können. Diese Schätzung erfolgt in drei Kategorien: Erreichen der Ziele „möglich", "lokal nicht möglich" und "flächig nicht oder nur mit Schutzmaßnahmen möglich". Seit 2009 wird zudem jedes Revier mit einer Koordinate erfasst, wodurch eine regional differenziertere Auswertung möglich ist. Das Forstliche Gutachten dient primär als Grundlage für die Abschussplanung bzw. seit 2016 für die Zielvereinbarung über den Abschuss von Rehwild und enthält auch eine jagdliche Empfehlung in Bezug auf die bisherige Streckenzahl, differenziert nach „moderat erhöhen“, „belassen“ oder „senken“.
Die Ergebnisse des jüngsten Forstlichen Gutachtens von 2018 belegen den generell positiven Zustand der Waldverjüngung Baden-Württembergs in Bezug auf Wildverbiss. Verbiss an Buche und Fichte, die noch vor dreißig Jahren signifikant verbissen wurden, ist heute nur noch selten oder lokal begrenzt vorhanden. Dagegen ist die Verbissbelastung von Tanne und Eiche in einigen Gebieten recht hoch und hat sich in den letzten Jahren nicht grundlegend verbessert. Dementsprechend können die waldbaulichen Verjüngungsziele für diese beiden Arten nicht oder nur teilweise erreicht werden (Abb. 3). Durch ihre Stellung als Hoffnungsträger im Klimawandel liegt jedoch eine Priorität auf dem Erreichen der waldbaulichen Verjüngungsziele für Tanne und Eiche und dementsprechend auf der Frage, mit welchen Maßnahmen der Verjüngungserfolg verbessert werden kann.
Wildverbiss als Teil eines komplexen Wirkungsgefüges
Da der Großteil des Verbisses auf Rehe zurückzuführen ist, liegt der Vorschlag bzw. die Forderung einer Verminderung der Rehwilddichte durch Jagd auf der Hand. Doch trotz der allgegenwärtigen Forderung nach einer Erhöhung der Abschusszahlen in Problemgebieten, hat sich die Situation für Tanne und Eiche nicht grundlegend geändert (s. o.).
Im ökologischen Wirkungsgefüge ist die Rehwilddichte ein Faktor von vielen (Abb. 4). So wird die Verbissintensität von vielen Faktoren direkt und indirekt beeinflusst. Sie ist zwar mit der Rehwilddichte korreliert, aber immer in diesem Wirkungsgefüge zu betrachten. Die Konsequenz daraus ist, dass sich viele Faktoren – auch viele Umweltfaktoren – auf die Verbissintensität und das Erreichen waldbaulicher Ziele auswirken und dass das Faktorengefüge sich regional und lokal stark unterscheiden kann. In der Praxis zeigt sich oft, dass eine einzelne Maßnahme nicht ausreicht, sondern eine Kombination von Maßnahmen am erfolgversprechendsten ist. Allerdings kann diese nicht pauschal wie ein Kochrezept formuliert werden, sondern erfordert regionale und lokale Anpassungen.
Abb. 4: Die Ursachen für Wildschäden sind in ein kompliziertes Wirkungsgefüge eingebunden, das sich aus einer Vielzahl von Einzelfaktoren zusammensetzt. Wer Wildschäden wirksam und nachhaltig minimieren will, darf sich daher nicht auf einzelne Faktoren beschränken, sondern muss das gesamte Wirkungsgefüge betrachten.
In Regionen mit besonders hoher Verbissbelastung über einen längeren Zeitraum stellt sich die Frage, welche Ursachen das Ausmaß von Verbiss begünstigen. Das Forstliche Gutachten zeigt, dass auch in Gebieten, in denen die Naturverjüngung verbissanfälliger Baumarten schwierig ist, einzelne Reviere zu finden sind, in denen die Verbissintensität so gering ist, dass die Verjüngungsziele auch bei diesen verbissanfälligen Baumarten erreicht werden. An einem Beispiel von Eichenverjüngung im Nordosten Baden-Württembergs konnte gezeigt werden, dass durch ein Zusammenspiel von jagdlichen und waldbaulichen Maßnahmen eine erfolgreiche Verjüngung trotz einer schwierigen Ausgangssituation möglich sein kann. Entscheidend waren die Parameter Licht, Größe der Verjüngungsfläche, Konkurrenzsituation sowie die Art der Bejagung. Optimale Lichtverhältnisse, großflächige Naturverjüngung und effiziente Bejagung können den negativen Einfluss von Verbiss reduzieren. Dennoch zeigt das Forstliche Gutachten, dass nach wie vor insbesondere viele Eichenverjüngungsflächen durch Wildverbiss gefährdet sind. Hier setzt das Projekt „Transfer im Themenbereich Wildverbiss“ an, das seit 2019 am Wildtierinstitut der FVA in Freiburg durchgeführt wird. Neben den jagdlichen und waldbaulichen Möglichkeiten kommt dabei der Kommunikation zwischen den Akteuren eine zentrale Bedeutung für die Praxis zu. Als Grundlage soll zudem das Prinzip „von Positivbeispielen lernen“ etabliert werden. Das bedeutet, dass sowohl jagdliche als auch waldbauliche Maßnahmen analysiert werden und zusätzlich gezielt die Kommunikation untersucht wird, um lokal Erfolg versprechende Maßnahmen zu identifizieren. Aus den Ergebnissen dieser Untersuchungen werden anschließend praxistaugliche Lösungsvorschläge für unterschiedliche Situationen in BW entwickelt.
Erfassung und Bereitstellung von Wissen und Erfahrung
Umfangreiches Wissen um die Zusammenhänge zwischen Waldvegetation, Wildtierlebensraum und Verbiss durch Schalenwild ist bereits vorhanden, um u. a. folgende Fragen beantworten zu können:
- Welches sind die wichtigen Einflussgrößen?
- Welche Maßnahmen wurden bisher erfolgreich angewandt?
- Welche Einschätzungen und Erfahrungen leiten Praktikerinnen und Praktiker vor Ort ab?
So wurde beispielsweise in der Schweiz untersucht, welche Einflussgrößen von Akteuren vor Ort als wichtig angesehen werden. Neben Faktoren wie Lichtverfügbarkeit, Rehwilddichte und Bewirtschaftungsform wurde am häufigsten eine veränderte Kommunikation zwischen Jagd- und Forstseite als zentral oder wichtig eingestuft. Der aktuelle Stand des Wissens wird im Rahmen des Projekts in einem Handbuch mit Schwerpunkt auf Grundlagen, Zusammenhängen und wissenschaftlich untersuchten Beispielen zusammengefasst und veröffentlicht. Eine Autorengruppe aus Süddeutschland, Österreich und der Schweiz erarbeitet dieses Handbuch, in dem Zusammenhänge, Erfahrungen und Maßnahmen als umfassendes Review zusammengetragen und diskutiert werden und als Grundlage für lokal angepasste Strategien vor Ort dienen wird. Darüber hinaus wird ein Praxis-Ratgeber die aktuellen Erkenntnisse zu den Themen Waldverjüngung, Rehwild und Jagd in Zeiten des Klimawandels zusammenfassen und anschaulich darstellen. Er schafft eine gemeinsame und wissensbasierte Diskussionsgrundlage für einen konstruktiven Dialog zwischen Waldbesitzenden, Waldbewirtschaftenden und Jagdausübungsberechtigten.
Bei diesen Zusammenfassungen des aktuellen Kenntnisstandes müssen sowohl die beschriebene Komplexität als auch die großen Unterschiede der örtlichen Rahmenbedingungen berücksichtigt werden. Eine umfassende Strategie kann zwar die potentielle Bedeutung jeder einzelnen Einflussgröße beschreiben und Wege aufzeigen, mit denen eine Lösung gefunden werden kann. Die konkrete Umsetzung in einem bestimmten Gebiet muss jedoch vor Ort unter Einbeziehung aller für die Umsetzung Verantwortlichen und unter Berücksichtigung der Gesamtsituation erfolgen. Die Schritte zur erfolgreichen Umsetzung sind: aus der großen Menge an Einflussfaktoren werden die vor Ort wichtigsten identifiziert. Anschließend werden die Maßnahmen mit den größten Erfolgsaussichten gebietsangepasst konkretisiert und kommuniziert.
Dieses Vorgehen berücksichtigt, dass die Verbissintensität zwar mit der Rehwilddichte zusammenhängt, doch der Zusammenhang keineswegs linear ist. So kann z. B. ein ausreichender Abschuss dem Erreichen waldbaulicher Ziele dann besonders gut dienen, wenn gleichzeitig das Nahrungsangebot ausreichend gesteuert wird.
Transfer in die Praxis
Eine gute Theorie trägt nur dann zum Erfolg bei, wenn sie sich in der Praxis bewährt. Ein zentraler Baustein für die Verbesserung der aktuell in Teilbereichen unbefriedigenden Situation ist der Transfer des Fachwissens und dessen Anwendung auf der Fläche. Für die Umsetzung sind die Akteure vor Ort gefordert. Dabei zeigt sich immer wieder, dass die Kommunikation über Ziele und den jeweiligen Beitrag der Akteure ein wesentlicher Bestandteil des Erfolges ist. In der Praxis ist es unumgänglich, die Verantwortlichkeiten sowie die Ziele klar zu benennen. Auf Basis der Revierkarte und klar kommunizierter Verjüngungsflächen können Zielvereinbarungen getroffen und bei gemeinsamen Waldbegängen zielführende Maßnahmen festgelegt werden (Abb. 1). Die formalen Grundlagen hierfür sind bereits vorhanden: Die frühere behördliche Abschussplanung für das Rehwild, bei der die Erfüllung einer vorgegebenen Abschusszahl auf der Gesamtfläche im Vordergrund stand, wurde 2016 durch die Rehwildbewirtschaftung ohne behördlichen Abschussplan (RobA) ersetzt. In den kommenden Jahren werden zudem in allen Baden-Württembergischen Landkreisen, in denen aufgrund von Wildverbiss Schwierigkeiten beim Erreichen von Verjüngungszielen bestehen, Runde Tische „Waldumbau & Jagd“ eingerichtet, um den Prozess aus Wissenstransfer und Wissensanwendung voranzutreiben.
Der Start der „Runden Tische Waldumbau und Jagd“ ist mit der Gründung eines Initiativkreises auf Landesebene, in dem Interessensvertreter aus Waldwirtschaft, Jagd, Waldbesitz, Forschung und Politik zusammenkommen, bereits erfolgt.
Weitere notwendige wissenschaftliche Grundlagen
Forstliche Gutachten sowie Betriebs- und Bundeswaldinventuren bleiben unverzichtbare Instrumente für eine kontinuierliche Bestandaufnahme und dauerhafte Bewertung unserer Wälder. Mit Monitoring lassen sich die Auswirkungen von Maßnahmen qualitativ und quantitativ erfassen. Sie ist Rückmeldung für die Akteure und kann für andere Gebiete wichtig sein, um aus den bereits gemachten Erfahrungen zu lernen. Auch die Analyse von „alten“ Flächen, auf denen im Verjüngungsstadium Wildverbiss untersucht wurde, sind in diesem Zusammenhang wertvoll. Für Entscheidungen im Rahmen das Waldumbaus müssen noch viele Fragen möglichst zuverlässig geklärt werden, auch im Bereich Wildverbiss. Zum Beispiel, wie es um die Verbissanfälligkeit bisher nicht heimischer Baumarten steht, deren Einführung im Zuge des Klimawandels diskutiert wird. Um Rehwildbestände zu beurteilen, sind neben Abschussdaten auch objektive, jagdunabhängige Informationen notwendig, z. B. über Fotofallen und zur Lebensraumbewertung lassen sich Luftbildanalysen und Inventuren kombinieren und wichtige Forschungsfragen beantworten. Simulationen sind ein weiteres Instrument, z. B. lassen sich für dringend benötigte Folgenabschätzungen geänderten Klimas und Managements dynamische Vegetationsmodelle einsetzen. Damit wird ein besseres Verständnis der Wechselwirkungen in der Natur erreicht als Grundlage für Forschungsergebnissen und die Kommunikation der Interessensgruppen untereinander, um das bestmögliche Ergebnis für Mensch und Natur zu erreichen.