Der aussergewöhnliche Fund glückte dem Pilzexperten Andrin Gross 2018 quasi vor der Bürotür: An den männlichen Blüten einer Himalaja-Fichte (Picea smithiana) im Arboretum der Forschungsanstalt WSL sah er kleine, grau-beige Becherlein. Er und seine Kollegen führten eine umfassende Recherche in weltweiten Pilzarchiven und genetischen Datenbanken durch, die keine ähnlichen Pilze zu Tage förderte. Nun stand fest: Dies ist nicht nur eine neue Pilzart, sondern auch eine neue Gattung.
Die Forschenden tauften die Art Microstrobilinia castrans und präsentierten sie der Fachwelt. «Es ist selten, in der Schweiz oder gar in Europa eine neue Pilzgattung zu entdecken», sagt der auf Kleinpilze spezialisierte WSL-Forscher Ludwig Beenken. Der Artname castrans deutet auf die ungewöhnliche Lebensweise des Pilzes hin: Er zersetzt das Gewebe der männlichen Blüte und gelangt so an die nahrhaften Pollen. Auf anderen Teilen der Bäume kommt er nicht vor.
Nach dem Erstfund auf der Himalaja-Fichte starteten die Pilzfachleute eine Suche, bei der auch Freiwillige mithalfen. «Ich suchte sogar in meinen Wanderferien die Fichten am Weg ab», sagt Beenken, der bei der Beratungsgruppe Waldschutz Schweiz arbeitet. Die Suchaktion wies den Pilz mittlerweile an rund 130 Fundstellen nach, sowohl auf angepflanzten Himalaja-Fichten und Serbischen Fichten (Picea omorika) im Siedlungsgebiet als auch auf einheimischen Fichten (Picea abies) auf Waldweiden und in Bergwäldern im Jura, den Alpen und im Schwarzwald. Auf anderen Fichtenarten fand man ihn bisher nicht.
Eingeschleppt oder heimisch?
Noch rätseln die Forschenden über die Herkunft von Microstrobilinia castrans, der zu den Schlauchpilzen gehört, einer grossen Pilzgruppe, zu der auch Schimmelpilze, Morcheln und Trüffel gehören. Die einen nehmen an, dass er bislang übersehen wurde. Beenken vermutet jedoch eher, dass er irgendwann mit Parkbäumen eingeschleppt wurde. Als Hauptgrund gibt er an, dass in den letzten 200 Jahren so eifrig in Europa nach Pilzen gesucht wurde, dass ein so auffälliger, recht grosser Becherling kaum unentdeckt geblieben wäre.
Die Himalaja-Fichten, von denen es in der Schweiz nur wenige Exemplare in Parkanlagen gibt, waren zudem allesamt mit diesem Pilz besiedelt. «Es kann sein, dass der Pilz von dieser auf einheimische Fichten übergesprungen ist, oder, falls er doch einheimisch ist, dass er sich – begünstigt durch Umweltveränderungen – erst in letzter Zeit stärker ausgebreitet hat.»
Was bedeutet nun diese Entdeckung für den Wald? «Waldschutz Schweiz überwacht Krankheiten und Parasiten von Waldbäumen. Deshalb wollen wir so viele Organismen wie möglich im Auge behalten, die Waldbäume schädigen können», sagt Beenken. Man wisse nie, ob ein Pilz auf einmal grössere Probleme macht, zum Beispiel wenn er sich mit der Klimaerwärmung stärker ausbreitet. Microstrobilinia castrans stellt aber zurzeit keine Gefahr für die Fichten dar, da der Pilz immer nur einige wenige Blüten eines Baumes befällt.
Wissenschaftlicher Originalartikel
Beenken, L.; Stroheker, S.; Dubach, V.; Schlegel, M.; Queloz, V.; Gross, A., 2023: Microstrobilinia castrans, a new genus and species of the Sclerotiniaceae parasitizing pollen cones of Picea spp.. Mycological Progress, 22: 14 (20 pp.). doi: 10.1007/s11557-023-01865-w
(TR)