Langfristige Änderungen des Flusslaufes von grösseren Fliessgewässern lassen sich mit Hilfe historischer Karten ermitteln. Das ursprünglich beanspruchte Pendelband, der sogenannte Flusskorridor im Talraum wird sichtbar. Anhand von zwei ausgewählten Flussabschnitten an der Reuss und der Aare im schweizerischen Mittelland stellen die Autoren die Laufentwicklung und die daraus entstandenen Auenstrukturen dar. Die Kenntnis des einst beanspruchten Flusskorridors bildet als historischer Referenzzustand für Renaturierungsprojekte eine wichtige Orientierungsgrösse.

Die regelmässigen Änderungen des Flusslaufes mittelgrosser und grosser Fliessgewässer in Talauen führen über einen langen Zeitraum betrachtet zur Inanspruchnahme eines mehr oder weniger breiten Bandes im Talraum. Diese stark generalisierte Feststellung gilt allerdings nur für unbeeinflusste oder durch anthropogene Eingriffe wenig gestörte Verhältnisse, bei welchen in anstehenden Lockersedimenten seitliche Verlagerungsmöglichkeiten für die Gerinne bestehen. Ein solcher Flusskorridor oder ein Pendelband bildet sich als Folge der Abflussdynamik bei Hochwasserereignissen und den damit zusammenhängenden flussmorphologischen Prozessen. Diese umfassen im Wesentlichen den Geschiebetransport, Seitenerosion, Umlagerung und Ablagerung von kiesigem Material und feinkörnigeren Sedimenten bis hin zu Flusslaufverlagerungen.

Diese ursprüngliche Situation - noch im 17. und 18. Jahrhundert im Alpenvorland in regionalspezifischen Ausprägungen vorhanden - ist heute im schweizerischen Mittelland verschwunden. Die Fliessgewässer wurden seit dem 19. Jahrhundert, insbesondere aber im 20. Jahrhundert stark durch Nutzungen und wasserbauliche Massnahmen umgestaltet bzw. gestört. Die heutige Situation erlaubt deshalb keinen direkten Rückschluss mehr auf die ursprünglich hier vorkommende Flusslandschaft. Für Renaturierungsmassnahmen, die zu regionaltypischen Auenstrukturen führen sollen, ist die Kenntnis der historischen Situation und deren Entwicklung als Orientierungshilfe und Referenzzustand jedoch von Bedeutung.

Entwicklung der Flusskorridore von Aare und Reuss

Die Autoren haben die Entwicklung des Gerinnebettes von zwei repräsentativen Flusstälern im schweizerischen Mittelland untersucht. Dabei stellten sie der Veränderungen des Flusslaufs in den vergangenen 300 bzw. 350 Jahren dar. Grundlage dafür bildet die Auswertung von historischem und aktuellem Kartenmaterial. Die Autoren wählten je einen Abschnitt der beiden Flüsse Aare und Reuss, die kartografisch gut beleget sind.

A) Aaretal

Als Beispielraum dient der Abschnitt zwischen Aarau und Wildegg. Die Aare verläuft hier von Westen nach Osten entlang dem Jurasüdfuss. Bis zur Begradigung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildete die Aare in diesem Abschnitt einen mehr oder weniger stark verzweigten Flusslauf mit unterschiedlichen Standorten und einer Vielfalt an auentypischen Strukturen. Einen Eindruck der damals noch weitgehend frei fliessenden Aare vermittelt die Luftaufnahme (Abb. 2) eines nur wenige Kilometer flussabwärts vom ausgewählten Beispielraum liegenden Flussbschnitts.

Die Entwicklung des Flusskorridors der Aare im rund zehn Kilometer langen Abschnitt zwischen Aarau und Wildegg ist in Abbildung 3 anhand von ausgewerteten Kartengrundlagen dargestellt. Erfasst ist der kaum beeinflusste Zustand (1705) über Zwischenstufen Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur aktuellen Situation Ende des 20. Jahrhunderts.

B) Reusstal

Als Beispielraum wurde das Gebiet südlich von Bremgarten bei Rottenschwil/Oberlunkhofen ausgewählt. Die Reuss verläuft hier von Süden nach Norden in einem ehemaligen Zungenbecken des Reussgletschers, begrenzt durch gut ausgebildete, langgestreckte Seitenmoränen. Die Entwicklung des Flusskorridors der Reuss im etwa fünf Kilometer langen Abschnitt zwischen Werd und Hermetschwil ist in Abbildung 4 anhand von ausgewerteten Kartengrundlagen dargestellt. Erfasst ist der kaum beeinflusste Zustand (1648) über Zwischenstufen bis zum aktuellen Zustand Ende des 20. Jahrhunderts.

Empfehlungen

Die Kartenauswertung ergibt sowohl für die Beispielstrecke der Reuss als auch für diejenige der Aare eine deutliche Tendenz zur kontinuierlichen Verringerung der Breite des ursprünglich beanspruchten Flusskorridors. Mit dieser Verringerung einhergehend stellt sich eine Reduktion bzw. der Verlust der ursprünglichen Lauflänge, Gerinneform und Gerinnevielfalt ein. Im Falle des Reussabschnittes verschwinden die ausgeprägten Mäanderbogen bereits im 18. Jahrhundert weitgehend, und beim Aareabschnitt ist der im 18. Jahrhundert deutlich verzweigte Flusslauf in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur noch teilweise vorhanden.

Daraus lassen sich folgende Schlüsse ziehen:

  • Zur Festlegung des historischen Referenzzustandes von grossen Flüssen sind wenn immer möglich auch ältere Karten als solche aus dem 19. Jahrhundert beizuziehen. Diese zeigen die vom Menschen noch weitgehend unbeeinflusste Gerinneform und Ausdehnung und somit das theoretisch maximal mögliche Entwicklungspotenzial.
  • Zur Festlegung des Leitbildes unter dem Gesichtspunkt der ökologischen Funktionsfähigkeit eignet sich der auf Karten dokumentierte Zustand aus der ersten Hälfte oder Mitte des 19. Jahrhunderts nach wie vor. Diese recht genauen Karten bilden einen Zustand ab mit noch weitgehend unbeeinflusstem Abflussregime und ungestörtem Geschiebehaushalt.

Im Hinblick auf aktuelle und künftige Revitalisierungsprojekte von grösseren Fliessgewässern lassen sich aufgrund der vorangehenden Analyse folgende Feststellungen treffen:

  • für die Erfassung der Wiederbelebungspotenziale und zur Ausarbeitung von Aufwertungsmassnahmen ist auf Konzeptstufe vom Flusskorridor (Pendelband) als Betrachtungsraum auszugehen;
  • dadurch wird sichergestellt, dass der Einbezug der standörtlichen Eigenheiten und Strukturen der Alt-Aue im gesamten Talraum erfolgt, der in den vergangenen Jahrhunderten vom Fluss geprägt wurde;
  • die Berücksichtigung des Flusskorridors erlaubt Rückschlüsse auf das Vorkommen und die räumliche Verteilung von auentypischen Strukturen und Lebensräumen (und die darin lebenden Pflanzen- und Tierarten). Er bildet somit eine wichtige Entscheidungsgrundlage für die Festlegung der kurz-, mittel- und langfristigen Ziele und die damit zusammenhängenden Schwerpunkte bei Aufwertungsmassnahmen. Dabei sind selbstverständlich das heute zumeist deutlich veränderte Abflussregime und der gestörte Geschiebehaushalt in die Überlegungen miteinzubeziehen;
  • der Einbezug der standörtlichen Eigenheiten und Potenziale im gesamten Querschnitt des Flusskorridors gibt wertvolle Hinweise für Schutz- und Aufwertungsmassnahmen im Wald und im Kulturland sowie auf damit zusammenhängende Pflege- und Unterhaltsmassnahmen.