Ab Mitte des 20. Jahrhunderts führte ein starker Anstieg der Schwefeldioxid-Emissionen in Mitteleuropa dazu, dass massive Schäden an Waldökosystemen, welche vorher nur lokal in Erscheinung getreten waren, auf großer Fläche sichtbar wurden. Nach der Umsetzung technischer Maßnahmen sind die Depositionen von Schwefel in den alten Bundesländern bereits seit ca. Mitte der 1980er Jahre, in den neuen Bundesländern seit Mitte der 1990er Jahre kontinuierlich zurückgegangen und liegen mittlerweile wieder deutschlandweit deutlich unter den Belastungsgrenzen (critical loads) für Waldökosysteme.

Eine weitere Folge aus der öffentlichen Wahrnehmung der Waldschäden bestand in der umfassenden Intensivierung der forstlichen Forschung zu den Auswirkungen der Depositionen. Ziel war dabei, komplexe Zusammenhänge zu erforschen und Maßnahmen zur Kompensation der Stoffeinträge sowie zur Melioration degradierter Waldböden zu entwickeln.

Einen Indikator für die Auswirkung von Stoffeinträgen auf Waldökosysteme stellt die Waldbodenvegetation dar. Sie ist vergleichsweise einfach zu erfassen, standardisierte Aufnahmemethoden sichern die Vergleichbarkeit der Ergebnisse und der Kenntnisstand zur Ökologie der Arten ist hoch. Daher liegen v.a. aus den 1980er und 1990er Jahren zahlreiche Bearbeitungen vor, inwiefern sich Depositionen von Schwefel und die daraus resultierende Bodenversauerung auf die Artenzusammensetzung der Kraut- und Moosschicht in verschiedenen Waldgesellschaften auswirken.

75 Jahre Vegetationsentwicklung

Der vorliegende Beitrag stellt einen Ausschnitt einer Studie zu den langfristigen Auswirkungen der Kalkung auf die Waldbodenvegetation des Reitgras-Fichtenwaldes im Erzgebirge dar. Für das Gebiet liegen vier Datensätze zur Waldbodenvegetation aus den Jahren 1937-1938, 1958, 1991 und 2012-2014 vor. Die Analysen beziehen sich daher auf einen Zeitraum von 75 Jahren. Die hier präsentierten Befunde beschränken sich auf die Vegetationsentwicklung von ungekalkten Flächen und behandelt folgende Fragestellungen:

  1. Wie hat sich Waldbodenvegetation nach dem Rückgang der Schwefeldepositionen entwickelt?
  2. Ist im Vergleich mit einem ursprünglichen Zustand die Regeneration einer standorttypischen Artenzusammensetzung in der Kraut- bzw. Moosschicht zu erkennen?
  3. Welche Erkenntnisse lassen sich in Bezug auf die Eignung von Gefäßpflanzen und Moosen als Indikatoren für die Dynamik anthropogen bedingter Stoffeinträge ableiten?

Verwendete Methoden

Die Studie wurde auf Waldflächen im Naturschutzgebiet Großer Kranichsee durchgeführt. Diese liegen auf Plateaulagen des Westerzgebirges in einer Meereshöhe von ca. 895 bis 950 m ü. NN. Grundgestein bildet ein sehr nährstoffarmer Turmalingranit, auf dem sich überwiegend Podsole und Braunerde-Podsole entwickelt haben.  Depositionen von Schwefel stiegen im Erzgebirge in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark an, zwischen 1975 und 1995 wurden konstant hohe Einträge dokumentiert. Nach der politischen Wende und der Umsetzung umwelttechnischer Maßnahmen setzte ein substanzieller Rückgang der Schwefeldepositionen ein. Im Gegensatz zum Schwefel sind die Depositionen von Stickstoff seit Beginn der Industrialisierung im Gebiet zwar nur allmählich angestiegen. Sie verbleiben aber in den letzten beiden Jahrzehnten auf einem hohen Niveau bzw. zeigen nur einen leichten Rückgang.

Im Gebiet des Großen Kranichsees wurde im Jahr 1958 eine Vegetationskarte erstellt und repräsentative Aufnahmen für jede Vegetationseinheit durchgeführt, jedoch ohne deren genaue Größe und Lage zu dokumentieren. Eine Anlage von 400 m² großen Dauerbeobachtungsflächen sowie eine Aufnahme der Waldbodenvegetation auf Standorten des Reitgras-Fichtenwaldes (Abb. 1) erfolgten im Jahr 1991. Diese Aufnahmen wurden im Zeitraum zwischen 2012 und 2014 (im Folgenden 2013) wiederholt. Als weitere Referenz für eine frühere Artenzusammensetzung dieser Waldgesellschaft im Erzgebirge kann auf Aufnahmen aus den Jahren 1937/1938 (im Folgenden 1937) zurückgegriffen werden. Diese Daten liegen in Form von Stetigkeitstabellen vor. In Summe enthalten die Datensätze aus den Jahren 1991 und 2013 je 11 Aufnahmen, aus 1958 29 Aufnahmen und aus 1937 205 bzw. 140 Aufnahmen von zwei Ausbildungsformen des Reitgras-Fichtenwaldes. In Bezug auf die Datenanalyse wird auf den Originalartikel verwiesen.

Ergebnisse

Veränderungen im Deckungsgrad und in der Artenzusammensetzung der Krautschicht sind über den gesamten betrachteten Zeitraum relativ gering. Es zeigt sich eine Zunahme des Deckungsgrades zwischen 1958 und 1991, anschließend geht er tendenziell wieder zurück (s. Abb. 2).

Die Artenzahl der Krautschicht des Reitgras-Fichtenwaldes ist gering, zwischen 1991 und 2013 lässt sich kein signifikanter Unterschied erkennen (Tab. 1). 

Tab. 1. Entwicklung der ökologischen Zeigerwerte im Zeitraum 1958 bis 2013 und der mittleren Artenzahlen im Zeitraum zwischen 1991 und 2013. Unterschiedliche Buchstaben markieren signifikante Unterschiede.

 KrautschichtMoosschicht
 195819912013195819912013
Lichtzahlen5.39a5.66b5.37ab5.42a5.08b5.14ab
Temperaturzahlen3.92a4.21b4.23b2.952.982.88
Feuchtezahlen6.166.206.105.10a5.32ab5.38b
Reaktionszahlen2.37a2.89b2.59ab2.28a2.35a2.72b
Stickstoffzahlen3.053.613.193.10a3.20ab3.43b
mittlere Artenzahlen 9.79.3 9.3a23.8b

Im Vergleich zu den historischen Daten aus 1937 besitzen mehrere Arten, u.a. Luzula sylvatica, Maianthemum bifolium und Oxalis acetosella in den drei Datensätzen aus dem Gebiet des Großen Kranichsee eine geringere Stetigkeit (s. Tab. 2).

Tab. 2. Entwicklung von Stetigkeit und Deckungsgrad von Arten des Reitgras-Fichtenwaldes in Kraut- und Moosschicht zwischen 1937 und 2013. Die Daten aus dem Jahr 1937 enthalten 205 Aufnahmen der heidelbeerreichen (1) und 140 Aufnahmen der reitgrasreichen Ausbildungsform (2) des Reitgras-Fichtenwaldes. Die Stetigkeit ist in Klassen angegeben (+ = bis 10%, I = > 10 bis 20%, II = > 20 bis 40%, III = > 40 bis 60%, IV = > 60 bis 80%, V = > 80 bis 100%), der Deckungsgrad entspricht der Braun-Blanquet-Skala.
Tendenz: → weitgehend unverändert; ↑ Zunahme; ↓ Abnahme; ↑↓ erst Zunahme, anschließend Abnahme; ↓↑ erst Abnahme, anschließend Zunahme
* - Im Jahr 1937 wurden die Arten der Gattungen Brachythecium und Sciuro-hypnum lediglich als Brachythecium spec. erfasst.

Aufnahmejahr 1937 (1)1937 (2)195819912013
Anzahl Aufnahmen 205140291111
 TendenzStetigkeitDeckungStetigkeitDeckungStetigkeitDeckungStetigkeitDeckungStetigkeitDeckung
Krautschicht           
Epilobium angustifolium....210.08730.11180.09
Deschampsia flexuosa↑↓IV + - 1..10014.9810037.0510019.59
Carex piluliferaII+IV+..90.05..
Homogyne alpina+.III + - 130.52 ...
Luzula sylvaticaIII+V + - 170.03..90.05
Maianthemum bifoliumII + - 1III+30.0290.05180.09
Oxalis acetosellaII  + - 1III + - 1..90.0590.27
Calamagrostis villosaV + - 2V 4 - 510036.5810048.3210027.36
Dryopteris dilatataIII + - 1IV + - 1590.38910.65911.77
Galium saxatileV + - 1V 1 - 3280.26911.93910.91
Trientalis europaeaIV + - 1IV + - 1622.06820.641000.95
Vaccinium myrtillusV 3 - 5V + - 110030.5610025.3610041.14
Vaccinium vitis-idaeaI + - 1+ 480.41270.06450.23
Moosschicht           
Barbilophozia lycopodioides+ + 30.00..915.50
Calypogeia azurea......90.05550.43
Calypogeia muellerianaI+I+100.02730.07550.24
Cephalozia bicuspidata......270.03730.29
Dicranodontium denudatum......270.06360.11
Lophocolea bidentataI + - 1......451.32
Neoorthocaulis floerkei+ + 170.07270.061002.01
Pohlia nutansI + - 1I + - 1140.01450.12640.21
Rhytidiadelphus squarrosus........550.46
Sphagnum girgensohniiI + - 1III + - 1380.16550.959116.00
Polytrichum communeIII + - 2IV + - 2..180.0590.05
Bazzania trilobata↓↑II + - 1IV + - 1410.3290.01270.10
Brachythecium spec.*↓↑IV + - 1III+      
   Brachythecium rutabulum*↓↑........270.33
   Brachythecium salebrosum*↓↑......90.05450.23
   Sciuro-hypnum curtum*↓↑........820.83
   Sciuro-hypnum starkei*↓↑........1001.64
Dicranum scoparium↓↑V + - 2III+904.18640.7710019.36
Plagiothecium curvifolium↓↑II + - 2II  + - 2760.28180.02730.59
Plagiothecium undulatum↓↑III + - 1V 1 - 3480.43360.11917.05
Pleurozium schreberi↓↑V 1 - 4V + - 1480.3790.01910.45
Ptilidium ciliare↓↑+ + - 1480.17..360.18
Ptilium crista-castrensis↓↑+ + ....270.10
Rhytidiadelphus loreus↓↑V + - 2III + - 1520.31..1008.05
Dicranella heteromalla....140.03730.1590.05
Lepidozia reptansII + - 1II +240.07450.15730.33
Polytrichum formosumIII + - 3IV + - 1860.601002.951005.73

 

 

Die den Aspekt bestimmenden Arten Calamagrostis villosa und Vaccinium myrtillus weisen dagegen über den gesamten Zeitraum hohe Stetigkeiten und Deckungsgrade auf. Interessant ist die Entwicklung von Deschampsia flexuosa. 1937 wurde für die Art ein Deckungsgrad von immer kleiner als 5 % dokumentiert. Bereits 1958 betrug die mittlere Deckung 15 %, welche sich bis 1991 auf 37 % erhöhte. Seither ist ein Rückgang feststellbar, allerdings noch nicht wieder auf das Ausgangsniveau. Bei den ökologischen Zeigerwerten ergeben sich Unterschiede bei den Licht-, Temperatur- und Reaktionszahlen zwischen 1958 und 1991 (s. Tab. 1). Zwischen 1991 und 2013 lassen sich jedoch keine signifikanten Unterschiede feststellen.

Veränderungen in der Moosschicht sind um vieles markanter als in der Krautschicht, sowohl in Bezug auf den Deckungsgrad als auch hinsichtlich der Artenzusammensetzung. Während eine Moosschicht in den Jahren 1958 und 1991 in fast allen Aufnahmen nur spärlich entwickelt war, hat sie ihre Deckung zwischen 1991 und 2013 von durchschnittlich 7 % auf 75 % mehr als verzehnfacht (s. Abb. 2). Parallel zum Deckungsgrad ist auch die mittlere Artenzahl zwischen 1991 und 2013 signifikant gestiegen (s. Tab. 1).

Die Korrespondenzanalyse zeigt eine gerichtete Entwicklung der Artenzusammensetzung der Moosschicht auf der zweiten Achse (s. Abb. 3).

Die Aufnahmen aus dem Jahr 1991 besitzen keinerlei Schnittmenge mit denen aus den Jahren 1958 und 2013. Die Aufnahmen aus den Jahren 1958 und 2013 überlappen sich zwar, jedoch weisen die Daten aus 2013 eine deutliche Konzentration auf der linken Seite des Ordinationsdiagramms auf. Aus der Stetigkeitstabelle zeigt sich, dass dieses Ergebnis durch die Entwicklung von Stetigkeit und Deckung einer Vielzahl, zum Teil auch dominanter Arten bestimmt wird (s. Tab. 2).

So haben sich u.a. Dicranum scoparium, Plagiothecium curvifolium, und Rhytidiadelphus loreus nach einem Rückgang zwischen 1958 und 1991 im Zeitraum zwischen 1991 und 2013 wieder regeneriert. Der Trend für diese Arten wird bei Einbeziehung der historischen Aufnahmen von 1937 noch offensichtlicher, dabei lassen sich zudem Arten der Gattungen Brachythecium und Sciuro-hypnum (s. Abb. 4) dieser Gruppe zuordnen. Für viele weitere Arten lässt sich generell eine Zunahme erkennen, wobei diese für z.B. Barbilophozia lycopodioides (Abb. 5) und Lophocolea bidentata erst in den letzten beiden Jahrzehnten erfolgt ist. In Bezug auf die ökologischen Zeigerwerte ergibt sich in der Moosschicht für die Feuchte-, Reaktions- und Stickstoffzahlen eine signifikante Zunahme für den Zeitraum von 1958 bis 2013.

Schlussfolgerungen

In Bezug auf Einträge von Schwefel und Stickstoff zeigt sich eine sehr unterschiedliche Reaktion der Indikatorgruppen der Gefäßpflanzen und Waldbodenmoose.

In der Krautschicht belegt die weitgehende Konstanz bei den dominanten Arten über den untersuchten Zeitraum von 1937 bis 2013, dass diese an die stark sauren Bodenbedingungen gut angepasst sind und damit durch Bodenversauerung nicht beeinträchtigt werden. Im Reitgras-Fichtenwald sind es nur wenige anspruchsvolle Arten, welche sensibel auf die Depositionen von Schwefel reagieren. Für diese lässt sich bisher keine Regeneration erkennen. Dies entspricht aktuellen Untersuchungen zur Bodenchemie im Gebiet, welche im Oberboden von Fichtenbeständen noch immer sehr niedrige Werte für Basensättigung und pH-Wert ermittelt haben.

Die starke Zunahme von Deschampsia flexuosa sowie ein Rückgang des Moderhumuszeigers Oxalis acetosella indizieren eine sukzessive Degeneration der Humusform. Diesem Zustand kann durch Kalkung entgegengewirkt werden. Diese führt zu einer erhöhten mikrobiellen Aktivität im Waldboden und zu einer Humusverbesserung. Für Fichtenbestände des Erzgebirges ist ein deutlicher Rückgang von D. flexuosa und eine starke Förderung von O. acetosella nach Kalkung dokumentiert.

Die fehlende Zunahme von Stickstoffzeigern in der Krautschicht entspricht nicht dem allgemeinen Trend, welcher sich bereits seit mehreren Jahrzehnten in verschiedenen Waldgesellschaften in Mitteleuropa beobachten lässt. Dies weist jedoch darauf hin, dass unter den Bodenbedingungen des Reitgras-Fichtenwaldes eingetragener Stickstoff immobilisiert, d.h., in einer nicht pflanzenverfügbaren Form im Humus akkumuliert wird. Insofern kann dieser Effekt als Indikator für einen zunehmend kritischen Systemzustand angesehen werden. Eine Mobilisierung des akkumulierten Stickstoffs kann nach Erreichen der Sättigungsgrenze bzw. beim Eintreten von Störungen erfolgen.

Die Entwicklung der Moosschicht zwischen 1958 und 2013 entspricht einem typischen Reaktionsmuster eines Systems nach Störungen. Als Störung wirkten in dem Fall extrem hohe Schwefeldepositionen. Diese führten einerseits zur direkten Schädigung von Moosen, andererseits um Rückgang von Moosarten durch geringere Luftfeuchtigkeit und Vergrasung in geschädigten Fichtenbeständen. Die Auswirkungen waren so massiv, dass sich das System aus seinen bisherigen Grenzen hinausbewegte (Abb. 3). Anschließend erfolgte mit Beseitigung der Ursache eine Regeneration in Richtung des ursprünglichen Systemzustandes, allerdings nicht zum Zentrum hin, sondern an den Rand. Dies ist als ein Indiz zu werten, dass sich zwischenzeitlich andere Umweltfaktoren geändert haben. Anhand der ökologischen Zeigerwerte ist es naheliegend, dass dieses Verhalten durch hohe Stickstoffeinträge bedingt ist.

In Bezug auf Veränderungen von Stoffeinträgen erweisen sich Waldbodenmoose damit als die bei weitem sensibleren Indikatoren als Gefäßpflanzen, was gleichermaßen für Moose gilt, welche andere Substrate (Rinde bzw. Totholz) in Waldökosystemen besiedeln. Daraus resultiert eine hohe Bedeutung dieser Artengruppen beim Monitoring. Bedingt ist dies durch grundsätzliche Unterschiede bei der Wasseraufnahme zwischen Moosen und Gefäßpflanzen. Während bei Moosen das Wasser (und damit auch die im Wasser gelösten Stoffe) über die gesamte Oberfläche der Pflanzen aufgenommen wird, geschieht dies bei Gefäßpflanzen über die Wurzeln. Dadurch ergeben sich Unterschiede in der Art der Indikation, was bei der Interpretation zu berücksichtigen ist. Moose indizieren Stoffeinträge über den Bestandesniederschlag und deren Veränderung, lassen aber nur bedingt Aussagen zur Veränderung des Bodenzustandes zu. Gefäßpflanzen erlauben dagegen Rückschlüsse, inwieweit Stoffeinträge im Waldboden gepuffert werden.