Die Auswertung von Daten mit GPS-Empfängern ausgestatteter Rothirsche beiderlei Geschlechts im Nationalpark Schwarzwald konkretisiert sowohl den räumlichen Umfang der Raumnutzung, als auch dessen Stetigkeit. Die Ergebnisse hinsichtlich Streifgebietsgröße und Stetigkeit bestätigen solche ähnlicher Studien in Deutschland: Die Streifgebiete sind relativ klein, die der männlichen Tiere sind größer, als die der weiblichen und die Stetigkeit ist relativ hoch.

Der Rothirsch in unseren Wäldern

Rothirsche haben als große Herbivoren, meist zurückgedrängt in Waldökosysteme, einen entsprechenden Einfluss auf deren Entwicklung und gegebenenfalls deren wirtschaftliche Nutzung. Über die räumliche Ausdehnung ihrer Raumnutzung existieren in der Literatur höchst unterschiedliche Mitteilungen. Im Rahmen einer Masterarbeit an der Universität Freiburg wurde die saisonale Raumnutzung des Rothirsches (Cervus elaphus) im Nationalpark Schwarzwald untersucht. Dieser ist mit 10.062 ha Gesamtfläche zweigeteilt und hat auf einem Drittel der Fläche die Wildtierregulierung zu Gunsten des Prozessschutzes für Großsäuger eingestellt. Regulierungspraktiken und -zeiten variieren gegenüber dem Umfeld.

Der Rothirsch kann massive wirtschaftliche Schäden in der Forstwirtschaft durch Aufsuchen und Entrinden von Bäumen verursachen. Aus anderen Untersuchungsgebieten sind Streifgebiete von 3.500 bis 6.500 ha und Wanderbewegungen einzelner Tiere von 50 bis 60 km bekannt. Dies führt allgemein zur Annahme großer Raumnutzung und weiter Wanderungen des Rothirsches. Das Umfeld des Nationalparks, bestehend aus Fichte dominierten Wirtschaftswäldern verschiedener Besitzarten, befürchtet eben solche Schäden aufgrund einer angenommenen großräumigen Raumnutzung der Rothirschpopulation des Nationalparks. Diese Annahme liefert die wesentliche Begründung zur Bejagung des Rothirsches innerhalb des Großschutzgebietes.

Wie wurde untersucht?

Als Streifgebiet oder Home range wird das durchwanderte Gebiet eines Individuums während normaler Aktivität bezeichnet. Hierzu gehören Nahrungssuche, Paarungsaktivität und Aufzucht von Jungtieren.

Datengrundlage hierzu sind Telemetriedaten sechs männlicher und fünf weiblicher mit GPS-Empfängern ausgestatteter Rothirsche aus dem Zeitraum von 2015 bis 2020.

Die Fragestellung zur Raumnutzung beinhaltet den Vergleich von Jahresstreifgebieten der ausgewählten Sendertiere. Ein Jahresstreifgebiet wird wie folgt definiert: 01. April bis 31. März. Ausgewertet wurden nur Tiere mit mindestens zwei kompletten Jahresstreifgebieten. Die Jahresstreifgebiete werden zusätzlich in Vegetationszeit (01. April bis 30. September) und Nichtvegetationszeit (01. Oktober bis 31. März) unterteilt. Abb. 2 gibt einen Überblick über die Senderlaufzeiten der untersuchten Tiere.

Die Kontinuität der Raumnutzung ergibt sich aus der Schnittmenge derselben in zwei aufeinanderfolgenden Jahren, respektive Halbjahren.

Net Squared Displacement (NSD) berechnet den quadratischen Abstand zwischen jedemGPS-Punkt innerhalb des GPS-Tracks und dem Ausgangsstandort. Der Ausgangsstandort ist in diesem Fall immer die Position am 1. April. Der Untersuchungszeitraum beinhaltet die nachfolgenden 365 Tage.

Die Ergebnisse im einzelnen

Streifgebietsgrößen

Die Jahresstreifgebietsgrößen (KDE) im Nationalpark Schwarzwald sind mit den durchschnittlichen Werten für die Gesamtstreifgebiete „männlich (m) 949 ha“, „weiblich (w) 543 ha“ und für die Kernstreifgebiete „männlich (m) 153 ha“, „weiblich (w) 95 ha“ in die folgenden vergleichenden Untersuchungsergebnisse (s. Tab.1) einzuordnen.

Tab. 1: Jahresstreifgebietsgrößen im Vergleich mit anderen Untersuchungsgebieten.

Untersuchungsgebiet

Streifgebietsschätzer

Gesamtstreifgebietsgrößen (ha)

Nationalpark Schwarzwald

KDE

m 527 - 1380 / w 331 - 1070

Nationalpark Bialowieza, Polen

MCP

m 3600 / w 840

Isle of Rum, Schottland

MCP

m 1100 / w 1800

Dinariden, Slowenien

KDE

m 576 / w 399

Truppenübungsplatz Grafenwöhr

KDE

m 514 - 2318 / w 112 - 711

Nationalpark Kellerwald-Edersee

KDE

m 3999 / w 536 - 1400

Schleswig-Holstein

KDE

2406 - 6300

Kontinuität Jahresstreifgebiete

Die durchschnittliche Kontinuität der 23 Jahresgesamtstreifgebiete der 11 Individuen im Nationalpark Schwarzwald beträgt bei den männlichen Tieren 66% und bei den weiblichen Tieren 75%. Bei den Kernstreifgebieten beträgt die Kontinuität durchschnittlich 62% bei den weiblichen Individuen und 39% bei den männlichen.

Tab. 2: Kontinuität Jahresstreifgebiete im Vergleich mit anderen Untersuchungsgebieten.

Untersuchungsgebiet

Kontinuität Jahresstreifgebiete
HRL 50

Kontinuität Jahresstreifgebiete
HRL 95

Nationalpark Schwarzwald

m 20 - 66 % / w 57 - 75 %

m 59 - 83  % / w 60 - 86 %

Nationalpark Kellerwald-Edersee

 

65 - 95%

Dinariden, Slowenien

 

44 - 88 %

Truppenübungsplatz Grafenwöhr

m 55 % / w 74 %

m 75 % / w 88 %

Saisonale Raumnutzung

Die Streifgebietsgrößen verdoppeln sich in etwa zum Winterhalbjahr. Dies trifft für beide Home range Level zu. Die Vergrößerung ist bei den Kernstreifgebieten (KDE50) ausgeprägter.

Bei dem Vergleich der Kontinuität der Halbjahresstreifgebiete (s. Abb. 5), also Vegetationszeit und Nichtvegetationszeit, respektive Sommer- und Winterhalbjahr, konnte bei den 11 Sendertieren mit 23 Überschneidungszeiträumen in lediglich 3 von 23 Fällen eine Verschiebung im Bereich der Kernstreifgebiete (KDE50) festgestellt werden: Es handelt sich um zwei männliche und ein weibliches Tier. Die Kernstreifgebietsmigration der beiden männlichen Tiere fand im milden Winter 2019/20 statt. Im Bereich der Gesamtstreifgebiete (KDE95) fand keine Migration statt. Die Kontinuität ist bezüglich der Kernstreifgebiete auch hier bei den weiblichen Tieren höher. Im Bereich der Gesamtstreifgebiete gibt es beim Anteil der Überschneidung zwischen den Geschlechtern kaum nennenswerte Unterschiede.

Räumliche Verschiebung – Net Squared Displacement

Net Squared Displacement (NSD) stellt die Verschiebung und Bewegungsdynamik der Raumnutzung auf der Zeitachse dar und gibt gleichzeitig einen Eindruck über die genutzte Fläche. Die folgenden NSD-Muster von drei Alttieren zeigen zusätzlich zur bisher aufgezeigten allgemein relativ hohen Stetigkeit individuelles Verhalten. Alttier Emma weist im Jahr 2018/19 (s. Abb. 6) eine insgesamt hohe Rückkehrhäufigkeit zum Ausgangspunkt des 1. Aprils 2018 auf. In den Monaten Januar bis März 2019 hält sich Emma nahezu ausschließlich an ihrem ursprünglichen Ort der Besenderung auf. Hier wird über das komplette Winterhalbjahr die einzige extensive Fütterung im Nationalpark betrieben. Die NSD-Ergebnisse von Alttier Wilma 2018/19 (s. Abb. 7) unterscheiden sich von denen des Alttiers Emma. Beide Tiere leben im Schönmünztal, ihre Gesamtstreifgebiete überschneiden sich zu 27%. Beide Alttiere wurden am gleichen Ort besendert, Wilma zeigt im Gegensatz zu Emma im Winter eine wesentlich höhere Verschiebung und Bewegungsdynamik in der Raumnutzung und sucht im gleichen Winter die extensive Fütterung nicht auf. Wilma lebt abseits der Fütterung im Nationalpark. Die Unterschiede von Mai bis September der Bewegungsdynamik in der Raumnutzung der Altiere Emma und Wilma lassen zudem vermuten, dass Emma im Gegensatz zu Wilma wohl kein Muttertier war. Alttier Liesel weist mit ihrem NSD-Muster (s. Abb. 8) auf den Einfluss von Kirrung ab Oktober hin. Liesel verlässt ab Oktober den Nationalpark und kehrt nur sporadisch zurück. Liesel machte bereits im Vorjahr die Erfahrung einer ihr außerhalb der Jagdzeit zugänglichen Kirrung außerhalb des Nationalparks.

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Weitere Ergebnisse zeigen, dass die Distanzen der Sendertiere zu Wegen am Tag höher sind als in der Nacht. Dies gibt einen Hinweis darauf, dass der Mensch die Raumnutzung des Rothirsches beeinflusst. Untersuchungen aus dem Südschwarzwald weisen darauf hin, dass Rothirsche dem Menschen zeitlich und räumlich ausweichen.

Wie verhalten sich die Rothirsche im Nationalpark?

Die Jahresstreifgebietsgrößen (KDE95) im Nationalpark Schwarzwald sind mit durchschnittlich 949 ha der männlichen und 543 ha der weiblichen Tiere im Vergleich zu den anderen Untersuchungsgebieten relativ klein. Gleiches gilt für die Kernstreifgebiete. Über alle drei Untersuchungen aus Deutschland hinweg sind die Streifgebiete männlicher Tiere größer, als die der weiblichen. Bei den europäischen Untersuchungen bestätigt sich dies ebenfalls, einzige Ausnahme sind die Ergebnisse der „Isle of Rhum“. Im Gegensatz zu Studien aus den Alpen, in denen Sommerstreifgebiete größer als Winterstreifgebiete sind, verdoppeln sich in etwa die Streifgebietsgrößen im Nationalpark Schwarzwald zum Winterhalbjahr. Ein möglicher Faktor der größeren Raumnutzung während des Winterhalbjahres im Nationalpark Schwarzwald könnte der Verzicht einer intensiven Fütterung sein. Die ergänzende Winterfütterung des Rothirsches in erheblichem Umfang ist in Deutschland, Österreich und Ungarn weit verbreitet.

Untersuchungen aus dem subalpinen Raum unter intensivem Fütterungsregime belegen eine Verkleinerung der Streifgebiete während der Fütterungsperiode um mehr als die Hälfte. Die Größe von Streifgebieten nimmt mit der Verknappung von kritischen Ressourcen zu, bei höherer Verfügbarkeit der kritischen Ressourcen nehmen Streifgebietsgrößen ab. Die Streifgebietsgrößen des Nationalparks Schwarzwald repräsentieren Ergebnisse eines geschlossenen Waldgebiets. Den Einfluss des Habitats auf die Streifgebietsgröße zeigt eine Studie aus dem französischen Jagd- und Wildreservat La Petite Pierre, im Untersuchungszeitraum 2004 bis 2008. Die Rothirsch-Streifgebiete sind in diesen ebenfalls durch Orkan Lothar geprägten Waldstrukturen kleiner als in vergleichsweise ungestörten Waldstrukturen.

Die durchschnittliche Kontinuität der Jahresgesamtstreifgebiete der 11 Individuen im Nationalpark Schwarzwald liegt bei den männlichen Tieren mit 66% und bei den weiblichen Tieren mit 75% relativ hoch. Bei den Kernstreifgebieten liegt diese Kontinuität mit 62% bei den weiblichen Individuen ebenfalls relativ hoch. Für die Kernstreifgebiete der männlichen Tiere fällt die Kontinuität erwartungsgemäß geringer aus. Männliche Individuen weisen hierbei eine durchschnittliche Kontinuität von 39% auf. Dies ist auf die unterschiedliche Art der Streifgebietsetablierung zurückzuführen. Männliche Tiere trennen sich im dritten Lebensjahr endgültig von der Mutter schließen sich Rudeln junger Hirsche an und erweitern ihr Streifgebiet im zweiten und dritten Lebensjahr deutlich. Weibliche Tiere bleiben oft lebenslang mit dem Muttertier zusammen und bilden Familienverbände oder lockere matrilokale Gruppen.

Die Net Squared Displacement-Ergebnisse unterstreichen und bestätigen die Kontinuitätsergebnisse, sie zeigen nachweisbar auf, dass alle 11 untersuchten Tiere immer wieder zum Ausgangspunkt zurückkehren. Teilweise wiederholen sich die NSD-Muster in den Folgejahren. Ebenfalls zeigen die NSD-Muster individuell unterschiedliches Verhalten im gleichen Zeitraum und Gebiet. Verhalten, welches vermutlich auf Erfahrung beruht und bei relativ kleiner und stetiger Raumnutzung des Rothirsches im Nationalpark Schwarzwald keine Waldbesitzgrenze kennt.

Was kann in Zukunft getan werden?

Die Ergebnisse bestätigen die hohe Kontinuität der Raumnutzung des Rothirsches im Nationalpark Schwarzwald und zeigen keine Tendenzen hinsichtlich Wanderbewegungen. Der Einfluss von Rothirschen aus dem Nationalpark auf die benachbarten Wirtschaftswälder ist auf diejenigen Tiere begrenzt, deren Streifgebiete sowohl auf Nationalparkfläche als auch auf der Fläche von Nachbarn liegen. Ein, innerhalb des gesamten Großschutzgebietes ausschließlich auf numerische Reduktion der Rothirsch-Population ausgerichtetes Management ohne jeglichen Raumbezug ist im Sinne einer Schadensvermeidung in angrenzenden Wirtschaftswäldern nicht zielführend.

Eine bedeutende Fragestellung für die Zukunft ist die Frage der Etablierung von Streifgebieten der weiblichen Tiere der Folgegenerationen. Als Zuwachsträger der Population sind diese für den Nationalpark Schwarzwald und dessen Umfeld mit zunehmendem Anteil der Prozessschutzfläche für große Herbivoren von besonderer Bedeutung. Angesichts des Ruhe- und Sicherheitsbedürfnisses des Rothirsches stellt sich auch für den Nationalpark die Frage, inwieweit Bereiche ohne Wildtierregulierung bisherigen Ausmaßes positive Auswirkungen auf die Raumnutzung der Tiere haben.