In einer beispielhaften Zusammenarbeit zwischen den Bündner und Tessiner Ämtern für Jagd und Fischerei, unterstützt vom Schweizerischen Nationalpark, werden hier wichtige Grundlagen für ein besseres Verständnis des Rothirsches erarbeitet. Eine kurze Bilanz zur Halbzeit des Projektes fällt sehr positiv aus.
Die Bestandsentwicklung und -regulierung des Rothirsches sind auch in der Mesolcina, im Calancatal und im Bellinzonese seit längerer Zeit breit diskutierte Themen zwischen den Vertretern der Jagd, des Forstes und der Landwirtschaft. Nicht zuletzt interessiert sich aber auch die Bevölkerung dafür.
Das Projekt TIGRA (2014-2020) wurde vom Amt für Jagd und Fischerei des Kantons Graubünden angestossen und zusammen mit dem gleichnamigen Amt im Tessin organisiert und durchgeführt.
Bessere Grundlagen für die Jagdplanung
Diese Untersuchung ist sehr gut in die Jagdplanung eingebunden. Sie hilft mit, zusammen mit den Ergebnissen der Bestandsaufnahmen sowie den Untersuchungen der Jagdbeute ein besseres Bild der aktuellen Situation und der Herausforderungen zu zeichnen. Der Hirschbestand und die -abschüsse in der Mesolcina stiegen in den letzten 20 Jahren stetig an. Diese Entwicklung geht einher mit einer Abnahme der mittleren Gewichte der dreijährigen und älteren Hirschkühe um 2 bis 4 kg und den vermehrten Meldungen über zu hohe Wildschäden im Wald und an landwirtschaftlichen Kulturen, vor allem in den Wintereinstandsgebieten. Besonders im südlichsten und am tiefsten gelegenen Teil der Mesolcina, im Grenzbereich zum Kanton Tessin, findet der Rothirsch optimale Wintereinstandsgebiete. Gleichzeitig gibt es dort mit den Weinbergen sehr schadenanfällige Kulturen.
In den letzten Jahren scheint es offenbar einigermassen gelungen zu sein, den Sommerbestand zu stabilisieren. Mit der Herbstjagd wird nun versucht, die Hirsche vermehrt auch in den erwähnten Wintereinstandsgebieten zu bejagen. Mit der Einführung der qualitativen Jagdplanung setzt man vermehrt das Gewicht auf die Regulierung der weiblichen Tiere im Territorium.
Woher stammen die Rothirsche?
Abb. 2 – Hirsche im eidgenössischen Jagdbanngebiet Trescolmen. Foto: Nicola De Tann
Abb. 3 – Narkotisierte Hirschkuh zum Anlegen des Senders. Foto: Nicola De Tann
Die Kernfrage bei der ganzen Thematik dreht sich oft um die Herkunft der Rothirsche, die sich in den Wintersammelbecken einfinden. Stammen diese aus den nur schwer bejagbaren Laubwäldern der Mesolcina, aus dem eidgenössischen Jagdbanngebiet Trescolmen oder aus dem angrenzenden Tessin oder Italien, beispielsweise aus Sommerkonzentrationen in dortigen Wildschutzgebieten?
Oft wird bei diesen Fragen zu früh die emotionale Ebene gesucht, anstatt sich auf Fakten abzustützen. Man vergisst dabei, dass der Rothirsch eine sehr dynamische Art ist, die auch grosse Hindernisse in kurzer Zeit überwinden kann. Die Tiere sind intelligent und können sich schnell anpassen und sich auch in sehr stark vom Menschen genutzten Lebensräumen zurechtfinden.
Neben der Satellitentelemetrie geben zusätzliche Untersuchungen wie Aktivitätssensoren in den Halsbändern und vor allem auch Videokameras entlang der viel benutzten Wechsel wichtige Einblicke ins "Funktionieren" der Hirsche. Somit besteht eine einmalige Gelegenheit, das ganze System einigermassen zu begreifen und die Erkenntnisse dann bei der Jagdplanung und Hege umzusetzen.
Rolle der Schutzgebiete
Eine wichtige Rolle innerhalb dieser Problematik fällt den vorhandenen Schutzgebieten zu, den natürlichen ebenso wie den künstlichen. Dank dieses Projektes und dem Einsatz moderner Satellitentelemetrie können auch diese Fragen abgehandelt werden. Dabei kann unter anderem aus dem langjährigen Umgang mit besenderten Rothirschen aus dem Schweizerischen Nationalpark profitiert werden.
Was wird Vom Projekt erwartet?
Folgende Fragen sollen mit den besenderten Hirschen in Kombination mit verschiedenen Beobachtungs- und Auswertungsmethoden untersucht werden:
- Wo halten sich die Hirsche im Sommerhabjahr auf, die sich im Spätwinter/Frühling in den tiefgelegenen Einstandsgebieten der Mesolcina und des Bellinzonese konzentrieren?
- Wo übersommern die Hirsche, die im Winter in der oberen Mesolcina, Raum Mesocco/Pian San Giacomo, einstehen? Gibt es einen Austausch mit dem Rheinwald und wenn ja, wie viele Tiere unternehmen diese Wanderung?
- Wie bewegen sich die Hirsche im Wintereinstandsgebiet?
- Welche Routen wählen sie zwischen Winter- und Sommereinstandsgebieten?
- Zeitlicher Verlauf der Wanderungen, insbesondere der Rückwanderung ins Wintereinstandsgebiet.
- Welche Wechsel zwischen den Talseiten funktionieren noch und wie werden A13 und A2 überwunden? Wie wird der Rothirsch mit der Lebensraumzerschneidung fertig?
- Welche Rolle spielen generell die Hochlagen im ganzen Untersuchungsgebiet als potenzielle Sommereinstandsgebiete?
- Gibt es Unterschiede in Bezug auf die Körpermasse der Hirsche zwischen den verschiedenen Teilpopulationen, die gemeinsam im Sammelbecken der unteren Mesolcina/Bellinzonese überwintern?
- Wie kann die Regulierungder verschiedenen Teilpopulationen mit jagdlichen mitteln gesteuert werden?
- Braucht es unterschiedliche Bejagungsvorschriften für verschiedene Teilpopulationen innerhalb der Mesolcina oder bewähren sich die bisherigen Rezepte?
Durch die Ergänzung der GPS-Methode durch ein Netz von Fotofallen entlang der vermuteten Hirschwechsel soll die Gruppengrösse und -zusammensetzung von wandernden Hirschen erfasst werden. Man hofft so, die unterschiedlichen Wanderouten in den verschiedenen Jahreszeiten gewichten zu können.
Erste Ergebnisse und Analysen
2014 wurden 18 Hirsche besendert (8 weibliche/10 männliche). Man konzentrierte sich dabei in der ersten Phase auf die Wintereinstandgebiete und Sammelbecken im Grenzgebiet Graubünden/Tessin. Bei den gemeinsamen Aktionen wurden 7 Tiere auf der Tessiner und 11 auf der Bündner Seite besendert. Die ersten Wanderbewegungen, bei denen sich die Tiere entlang der Talachsen bewegten, wurden im April und Mai festgestellt. Im Bündner Gebiet geschah dies bevorzugt in Süd-Nord-Richtung entlang des Calancatals und im Tessiner Teil entlang der Seitentäler Arbedo und Morobbia. Dort beobachtete man auch wichtige Interaktionen mit den Lebensräumen im nahen Italien, vor allem mit dem Valle San Jorio und der Umgebung von Liro Dieser Trend verstärkte sich dann allmählich noch.
Einige Hirschkühe verliessen den Wintereinstand, um die Setzplätze (Buseno, Calancatal, Valle Morobbia) aufzusuchen und kehrten dann bereits im Juli/August in das Überwinterungsgebiet zurück. Die seit längerem bestehenden Wildschutzbegiete (eidg. Jagdbanngebiet Trescolmen, Giggio TI) wurden ebenfalls bevorzugt aufgesucht. Einige Stiere der Mittelklasse, die im Banngebiet übersommerten, kehrten bereits mitten in der Brunft in den Kanton Tessin zurück – in die Nähe der Wintereinstände. Acht Tiere hielten sich relativ konstant immer im Bereich des Markierungsorts auf. Insgesamt wechselten nur drei Tiere das Überwinterungsgebiet komplett, und nur zwei wandernde Tiere suchten das Überwinterungsgebiet erst im Dezember auf.
Insgesamt konnte man bereits im ersten Jahr sehen, dass Hirsche die optimalen Lebensräume auswählen. Die festgestellten Wanderungen gegen Norden passierten alle das Calancatal, bei kompletter Meidung des Misox. Im Bellinzonese bieten die Seitentäler Morobbia und Arbedo ebenfalls optimale Habitate. Sie sind eine wichtige Verbindung zum angrenzenden Italien. Dort bestehen auch traditionelle Wechselbeziehungen zwischen Italien, Tessin und Graubünden.
In den kommenden Jahren gilt es, diese ersten Ergebnisse zu vertiefen und weitere Beziehungen festzustellen. Man darf gespannt sein, welche Geheimnisse die Bündner und Tessiner Rothirsche uns noch preisgeben werden.