Die früher herrschende Vorstellung über unsere grösste Eule war eine Mischung aus Faszination und der Überzeugung, den "für die Jagd gar schädlichen Vogel" unschädlich zu machen. In Graubünden wurden 10 Franken Abschussprämie für jeden erlegten Uhu ausbezahlt. Das hatte zur Folge, dass allein in den letzten 15 Jahren des 19. Jahrhunderts über 300 Uhus geschossen wurden. Der Aderlass war so gross, dass um 1920 schweizweit fast keine Uhus mehr vorkamen. Daher erfolgte – früher als bei allen andern Greifvögeln und Eulen – im Jahr 1925 seine Unterschutzstellung. Der Bestand erholte sich bis in die 1990er-Jahre langsam. Zusätzlich wurden zwischen 1970 und 1990 im Jura und im Mittelland 400 gezüchtete Tiere freigelassen.
Das Engadin als Uhu-Pionierland
Heute ist es schwierig, die Bestandsentwicklung des Uhus rückblickend genau zu erfassen, denn von der heimlich lebenden Grosseule existierten lange Zeit nur Zufallsmeldungen. Von Brutstandorten gab es kaum Hinweise. Als Pionierland erwies sich hier das Engadin. Offenbar konnte sich im zentralalpinen Hochtal der Uhu besser halten als in andern Regionen. Fast die Hälfte der schweizerischen Uhunachweise in den 1920er-Jahren stammen aus dem Engadin. Hier hat sich der Bestand auch relativ früh erholt. Bereits in den 1950er-Jahren wies Rudolf Melcher mehrere Uhureviere zwischen Sils und Samedan nach. Der Arzt und Naturforscher aus Sils war einer der ersten, der in den 1960er-Jahren begann, Uhupaare systematisch zu überwachen. Seine Dokumentationen sind heute wertvolle Grundlagen für die Analyse der Bestandsentwicklung des Uhus.
Melcher war auch Wegbereiter für weitergehende Untersuchungen am Uhu. So erhob Paul Frei 1968 in seiner Diplomarbeit erstmals genaue brutbiologische Daten an einem Uhupaar in Sils. Eine detaillierte Gewölleanalyse gab Aufschluss über das Nahrungsspektrum im Oberengadin: Neben Mäusen (74 %) waren es mittelgrosse Vögel wie Alpendohlen, Rabenkrähen und Birkhühner (12 %) sowie Grasfrösche (10 %). Heinrich Haller setzte 1974 neue Massstäbe mit einer erstmals durchgeführten systematischen Bestandserhebung in Teilen Graubündens. Er fand im Engadin 17 perlschnurartig aufgereihte Uhureviere, was stellenweise einer Sättigung gleichkam. Offensichtlich hatte sich der Uhubestand hier gänzlich erholt.
Das recht optimistische Bild wurde in den 1990er-Jahren durch eine grossangelegte Bestandserhebung in sechs Teilgebieten der Schweizer Alpen bestätigt. In der Mehrzahl der Teilgebiete blieb die Zahl der Uhupaare konstant oder hatte leicht zugelegt. Insgesamt schätzten die Beobachter die Zahl der Paare in der Schweiz auf 120.
Abb. 2. Dieses Uhuweibchen in der Nähe von Silvaplana ist gegenwärtig das produktivste im Engadin: Es brütete im Verlauf der letzten acht Jahre sieben Mal erfolgreich.
Abb. 3. Warnender Uhu auf seiner Sitzwarte im Oberengadin. Er bewohnt abwechslungsreiche Habitate mit offenen Räumen, Hecken, Gewässern und Feldgehölzen.
Abb. 4. Dieses hudernde Uhuweibchen sitzt neben seinem vierwöchigen Jungvogel. Als Hudern bezeichnet man das Schützen von Nestlingen vor Witterungseinflüssen.
Abb. 5. Dieser flügge Jungvogel ist noch in der Bettelflugphase. Bis im Herbst werden Jungvögel noch von den Eltern gefüttert, danach verlassen sie das Heimatrevier.
Abb. 6. Meldungen von Uhusichtungen sind auch in Zukunft äusserst wertvoll. Sie bilden die Grundlage für das Erkernnen von Bestandsveränderungen.
Fotos:David Jenny
Negative Trendwende
Ab den 1990er Jahren ging der Uhubestand wieder zurück. Im Wallis fiel die Trendwende zuerst auf. Adrian Aebischer und ein Forscherteam der Universität Bern lancierten ein Projekt, um die Ursachen des neuerlichen Uhu-Rückgangs zu finden. Mittels radiotelemetrisch überwachten Uhus fanden sie Erstaunliches: Flügge Junguhus flogen bis zu 230 Kilometer von ihren Geburtsorten weg und überquerten dabei Gebirgsketten von über 3000 Metern Höhe – ein Hinweis, dass auch zwischen weit entfernten Populationen ein genetischer Austausch stattfinden kann.
Als äusserst hoch erwies sich die Jugendmortalität: Drei Viertel der markierten Vögel überstanden die ersten Monate nicht. Hauptgründe waren Stromschläge bei Mittelspannnungsleitungen oder Kollisionen mit Autos und Eisenbahnen. Zudem verhungerten Jungvögel nicht selten vor und kurz nach dem Flüggewerden.
Im Jahr 2005 startete die Vogelwarte Sempach und das Amt für Jagd und Fischerei Graubünden im Engadin ein Uhu-Monitoringprojekt. Man wollte herausfinden, ob sich auch hier eine Bestandswende abzeichnet und wie es um die Reproduktions- und Mortalitätswerte stand. Der Projektmitarbeiter konnte sich dabei auf die präzisen Datengrundlagen aus den 1970er- und 1990er-Jahren abstützen.
Tatsächlich zeigte sich auch im Engadin eine deutliche Bestandseinbusse, die sich bereits um 1990 abzeichnete. Von 11 durch Heinrich Haller 1978 erhobenen und um 1990 von Bruno Badilatti und Paul Frei bestätigten potenziellen Uhurevieren zwischen Maloja und Susch waren nach 2005 noch zwischen fünf und sieben von Uhupaaren besetzt. Im ganzen Engadin sank die Zahl von 17 auf 11 besetzte Reviere.
Unfallopfer
Als Hauptgrund für den Rückgang musste auch im Engadin eine hohe unfallbedingte Mortalität festgestellt werden. In der Untersuchungsperiode 2005 bis 2011 wurden 17 tote Uhus aufgefunden. acht Opfer kamen am Trassee der Rhätischen Bahn um, vier erlitten den Stromtod an Mittelspannungs-
masten, und drei starben als Autoverkehrsopfer.
Eher mittelmässig waren auf der andern Seite die Zahlen zur Reproduktion. In der untersuchten Periode flogen 34 Junguhus aus, was einer Nachwuchsrate von 0,8 Jungvögeln pro anwesendem Paar entspricht. Dieser Wert liegt deutlich unter den Werten von Haller aus den 1970er- Jahren (1,3) und auch leicht unter den aktuellen Ergebnissen aus dem Wallis. Die Produktion an Jungvögeln scheint die hohen Verlustraten kaum wettmachen zu können. Zwar ist auch die Zahl der tot aufgefundenen Uhus in Graubünden tendenziell rückläufig. Doch dies widerspiegelt eher den schrumpfenden Bestand als eine Verringerung der Unfallrisiken.
Aus verschiedenen Gebieten der Alpen sind heute ähnliche Bestandseinbussen bekannt, etwa aus Bayern und aus dem Südtirol. Dieser besorgniserregenden Tatsache stehen Hinweise aus umliegenden Arealteilen ausserhalb der Alpen gegenüber, die durchaus positive Trends belegen. Aus der Franche-Comté (F), aus Baden-Württemberg, Hessen und Schleswig-Holstein (D) liegen eindrückliche Wachstumsstatistiken von Uhu-Populationen vor. Sie gehen weitgehend auf enorme Zahlen ausgewilderter Vögel zurück, die dort zumindest in der Anfangsphase für die Bestandszunahmen verantwortlich sind.
Abb. 7. Die meisten Uhuopfer fanden sich entlang der Rhätischen Bahn wie hier bei Zernez.
Abb. 8. Oft ging der Kollision mit dem Zug ein Stromschlag mit der Fahrleitung voraus.
Abb. 9. Wildhüter Not Pua muss einen Uhu bergen, der durch Stromschlag umgekommenen ist.
Fotos:David Jenny
Ursachen für Bestandsveränderungen nur teilweise geklärt
Die Ursachen für den Negativtrend in den Alpen sind komplex. Die hohe unfallbedingte Mortalität allein vermag ihn nicht vollständig zu erklären. Zusätzlich wirkt die im Vergleich zu früher geringere Reproduktion. Hier spielen Einbussen in der Qualität der Lebensräume wohl die Hauptrolle. Das Nahrungsangebot, das in erster Linie aus Mäusen besteht, dürfte sich – bedingt durch intensivere Nutzung des Kulturlands – im Verlauf der letzten Jahrzehnte verschlechtert haben.
Adrian Aebischer weist zudem auf die hohen Zahlen ausgewilderter Uhus zwischen 1970 bis 1990 hin, die für den Bestandsschub bis in die 1990er-Jahre mitverantwortlich waren. Dieser seit nunmehr 20 Jahren fehlende Zustrom von Individuen scheint sich heute negativ auszuwirken. Tatsächlich lässt sich anhand der Totfunde in Graubünden der Zeitpunkt der Trendwende recht genau auf die zweite Hälfte der 1990er-Jahre festlegen. Ab jener Phase wurden Uhus nur noch ausnahmsweise ausgewildert.
Daraus den Schluss zu ziehen, dass weitere grossangelegte Freilassungen nötig sind, wäre allerdings falsch. Wenn die Lebensraumbedingungen nicht verbessert werden, provozieren solche Aktionen nur noch höhere Mortalitätsraten. Viel wichtiger ist die gezielte Entschärfung von für Uhus tödlichen Fallen wie unisolierten Mittelspannungsmasten, der Schutz von Brutfelsen oder Bestrebungen, extensiv genutzte, wertvolle Kulturlandflächen zu erhalten.
Wirkungsvolle Massnahmen
Dass wirkungsvolle Massnahmen machbar sind, zeigen mehrere Beispiele im Engadin. Nachdem zwei Junguhus unweit ihres Brutfelsens auf einem gefährlichen Mittelspannungsmasten bei Susch den Stromtod erlitten hatten, ersetzten die Verantwortlichen der Engadiner Kraftwerke einen Mast und isolierten einen zweiten. Seither blieben dort Unfälle aus. Weitere gefährliche Masten wurden auf ähnliche Weise durch gezielte Isolationsmassnahmen entschärft.
Der negative Trend des Uhubestands im Engadin dürfte möglicherweise gestoppt werden, wie die beiden letzten Monitoringjahre belegen. 2010 brachte ein neues Uhupaar in einem seit den 1970er-Jahren verwaisten Revier vier Junguhus zum Ausfliegen. Dies war der erst fünfte Nachweis einer erfolgreichen Viererbrut in der Schweiz. Insgesamt wurden 13 Jungvögel flügge; das entspricht einem Rekordergebnis. 2011 kam es in zwei verwaisten Revieren zu Bruten durch neue Uhupaare. Auch 2012 zeichnet sich als gutes Uhujahr ab.
Trotz hoher Verluste durch Unfälle scheint sich der Uhubestand im Engadin zumindest halten zu können. Wie er sich weiterentwickelt, ob er selbsttragend oder ob Zuwanderung aus Nachbarregionen notwendig ist, darüber können erst weitergehende Untersuchungen Antworten geben.
Bei Begegnungen mit dem faszinierenden König der Nacht ist heute nicht wie vor 120 Jahren Abschuss angesagt, sondern Sorge um die Erhaltung der verletzlichen Charakterart. Für ein fortgesetztes Monitoring auch ausserhalb des Engadins sind Meldungen von Uhusichtungen daher äusserst wertvoll und bilden die Grundlage für das Erkennen von Bestandsveränderungen.