Die Waldfläche hat im Schweizerischen Alpenraum seit dem Ende des 19. Jahrhunderts um über 30 % zugenommen (Abb. 1). Dabei hat sich der Wald vor allem auf Sömmerungsweiden und Wiesen im Berggebiet ausgeweitet, deren Bewirtschaftung sich nicht mehr lohnt. Hinzu kommt, dass der Wald gerade in Gebirgsregionen deutlich dichter geworden ist, insbesondere dort, wo er in früheren Jahrhunderten stark übernutzt wurde. Die Waldveränderungen im Alpenraum werden heute zunehmend kontrovers diskutiert, unter anderem deswegen, weil sowohl für die Hangbewirtschaftung, die der Waldausdehnung entgegenwirkt, als auch für die Verbesserung des Naturgefahrenschutzes grosse Summen von öffentlichen Geldern eingesetzt werden.
Lawinenanrisse und Waldveränderung
In einer GIS-gestützten Analyse haben Wissenschafter der Eidgenössischen Forschungsanstalt WSL Waldveränderungen zwischen den beiden letzten Inventurperioden der Schweizerischen Arealstatistik 1979 bis 1985 und 1992 bis 1997 für alle Berggebietsflächen der Schweiz oberhalb von 1200 m ü. M. erfasst (Abb. 2). Dabei unterschieden sie auf jeder Hektare folgende Kategorien:
- "dichter Wald" (Deckungsgrad >60%, Baumhöhe >3m)
- "Nichtwald" (Deckungsgrad <20%).
- "offener Wald" (Deckungsgrad 20–60%, Baumhöhe > 3 m)
Anschliessend setzten die Forscher die Waldveränderungen mit modellierten potenziellen Lawinenanrisszonen in und ausserhalb des Waldgebietes sowie anderen Umweltfaktoren wie "Höhe über Meer", "Steilheit" oder "Distanz von der oberen regionalen Baumgrenze" in Beziehung und werteten sie statistisch aus.
Abb. 2 - Waldausdehnung in Lawinenanrissgebieten. Die Punkte stellen Stichprobenflächen der CH-Arealstatistik dar, wo im Zeitraum zwischen 1985 und 1997 in potenziellen Lawinenanissgebieten neuer Schutzwald entstanden ist.
Wald nimmt in potenziellen Lawinenanrissgebieten zu
Insgesamt hat die Waldfläche der Schweiz während der 12 Jahre in den untersuchten Gebirgswäldern um 4% zugenommen. Deutlich stärker war die Waldzunahme in steilen, mehr als 30 ° geneigten Flächen. Ebenfalls signifikant stärker verwaldeten Hänge, die aufgrund ihrer Topographie als potenzielles Lawinenanrissgebiet modelliert wurden. Allein in potenziellen Lawinenanrisszonen oberhalb von 1200 m ü. M. betrug die Waldzunahme rund 5800 ha. Eine starke Tendenz zum Einwachsen zeigen dabei insbesondere montane und subalpine Gebüsch- und Weideflächen bis 200 m unterhalb der potenziellen Waldgrenze.
Bestehende Lawinenschutzwälder werden dichter
In den 12 Jahren zwischen den beiden letzten Arealstatistik-Inventuren liessen sich auf 7540 ha oberhalb von 1200 m ü. M. Übergänge von offenen zu dichten Gebirgswäldern feststellen (Abb. 1). Während solche Übergänge in Lawinenanrissgebieten gleich häufig vorkamen wie in anderen Gebieten, haben sich insbesondere in steilem Gelände (> 30 °) Wälder signifikant häufiger verdichtet. Deutlich weniger stark verdichteten sich die Wälder in den obersten 400 Metern unterhalb der potenziellen Baumgrenze. Waldflächen, die durch natürliche Störungen oder durch forstliche Eingriffe offener oder in eine andere Landnutzung überführt wurden, veränderten die Lawinenschutzwirksamkeit weniger. Die meisten dieser Flächen befanden sich in tieferen Lagen, in weniger steilen Hanglagen und ausserhalb von potenziellen Lawinenanrissgebieten.
Waldentwicklung verändert Lawinenpotenzial
Je offener ein Wald ist, desto weniger schützt er vor Lawinen. Daneben spielen noch andere Einflussgrössen wie die Länge und Breite von Waldlücken und die Baumartenzusammensetzung eine Rolle. Entsprechende Kenntnisse gehen zu einem grossen Teil auf Bestandesaufnahmen von Lawinenanrisszonen in den 1980er Jahren zurück. Rund 20 Jahre nach diesen Aufnahmen wurden im Rahmen einer Diplomarbeit 23 Lawinenanrisszonen in offenen subalpinen Wäldern des Waldgrenzenbereichs nochmals aufgesucht, um die natürliche Walddynamik zu untersuchen.
Diese Wiederholungsaufnahmen bestätigen, dass sich die Schutzwirksamkeit in den meisten der ehemaligen Waldlawinenanrissflächen eher verbessert hat. Veränderungen beschränken sich vorerst vor allem auf die Verjüngung (Bäume mit BHD <8cm, Abb. 3) und zeigen dort je nach Standortverhältnissen grosse Unterschiede: Insbesondere Wälder, in denen die Vegetationskonkurrenz stark ist und Moderholz kaum vorkommt oder die dauernd von Schneebewegungen gestört werden, haben sich bezüglich ihrer Schutzwirksamkeit kaum verändert.
Feldaufnahmen auf ehemaligen Anrissflächen von Waldlawinen bestätigen die Auswertung der Schweizerischen Landnutzungsdaten: Der Schutzwald kommt zwar vielerorts zurück und wird auch wirksamer. Im Bereich der Waldgrenze laufen diese Prozesse jedoch sehr langsam ab und variieren je nach Standortsbedingungen stark.
Die Schutzwirkung lässt sich steuern
Die Analysen deuten darauf hin, dass es bei der Verbesserung des natürlichen Lawinenschutzes sehr stark darauf ankommt, wohin Fördermittel für Berglandwirtschaft und Schutzwald fliessen und wohin nicht. Auch zeigte sich, dass wirksamer Lawinenschutzwald nicht überall von selber entsteht. Vor dem Hintergrund der räumlich differenzierten Walddynamik im Gebirge und der immer (zu) knappen Fördermittel machen also nicht alle Beiträge für die Bewirtschaftung von steilen Wiesen und Weiden Sinn.
Der hohe gemeinnützige Wert von Abgeltungen für die Leistungen der Land- und Forstwirtschaft im Berggebiet soll damit in keiner Weise in Frage gestellt werden. An manchen Orten scheint es aber sinnvoll zu sein, wenn Abgeltungen für die Leistungen der Berglandwirtschaft und der Schutzwälder mehr in einem regionalen Gesamtzusammenhang betrachtet und entrichtet würden. So liessen sich der natürliche Schutz vor Naturgefahren und die Wertschätzung anderer Umweltdienstleistungen gesamthaft gesehen optimieren.
(TR)