Es ist Winter. Nach einem starken Schneefall donnern Lawinen zu Tale. Mit ihrer unheimlichen Kraft brechen sie Bäume wie Streichhölzer; was im Weg steht, wird mitgerissen. Einige Monate später schmelzen die letzten Schneereste, Blumen und Gräser blühen in der Lawinenbahn. Da drängt sich die Frage auf: Wie wirken Lawinen auf die Natur?

Eine am WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLFdurchgeführte Studie zeigt auf, dass die Zerstörungskraft der Lawinen für die Natur auch positive Aspekte aufweist. Sie schafften Standortbedingungen, die einer ganzen Reihe von Pflanzenarten und Pflanzengesellschaften überhaupt erst das Überleben ermöglichen. Grosse, dominierende Bäume werden von Lawinen umgeknickt.
 

Kleinräumig wechselnde Umweltbedingungen

Als Folge erreicht in Lawinenzügen viel mehr Licht den Boden als im angrenzenden Wald. Auch Wasser und Nährstoffe sind reichlicher vorhanden. Und die mechanische Belastung durch die Lawinen ist für kleine Pflanzen gering: Die Schneedecke schützt sie, oder sie sind (noch) elastisch genug, um sich den Schneemassen zu beugen.

Da die mechanische Belastung im Zentrum der Züge grösser ist, da kleinere Niedergänge nicht den ganzen Lawinenzug betreffen und da an den einen Stellen Schnee mitgerissen, an anderen abgelagert wird, herrschen auf engem Raum unterschiedlichste Umweltbedingungen. Die biologische Vielfalt ist entsprechend hoch. Viele verschiedene Arten und Gesellschaften finden passende Lebensbedingungen; die "typische Lawinenpflanze" gibt es nicht. So kamen über 80% der 141 beobachteten Arten in weniger als 5% der Untersuchungsflächen vor, obwohl die ungestörte Vegetation ausserhalb der Lawinenzüge im ganzen Untersuchungsgebiet (Dischmatal bei Davos GR) Lärchen-Fichten-Wald ist.

Dreimal mehr Arten als im angrenzenden Wald

Anders als in früheren Untersuchungen wurden in der Studie viele Züge mit unterschiedlich häufigen Lawinenniedergängen untersucht. Je häufiger in einem Lawinenzug die Lawinen sind, desto artenreicher und diverser ist die Vegetation. Lawinenzüge, in denen jährlich Lawinen zu Tale stürzen, beherbergen rund dreimal mehr Arten als der angrenzende Wald.

Erstaunlicherweise profitieren nicht nur Pionierpflanzen. Diese sind nur dann stark vertreten, wenn in den letzten Jahren Wald zerstört wurde. In den anderen Lawinenzügen fühlen sich konkurrenzstarke, mehrjährige Pflanzen wohl. Das zeigt, dass trotz häufiger Störungen relativ stabile Verhältnisse herrschen.

(TR)