Im Rahmen einer vom Forum Biodiversität Schweiz organisierten Tagung diskutierten etwa 200 Fachleute den Wandel der Biodiversität in der Schweiz im letzten Jahrhundert. Die Wissenschaft steht vor dem grundsätzlichen Problem, wie man die Biodiversität überhaupt erfassen kann. Als eines der ersten Länder betreibt die Schweiz seit 2001 ein systematisches Biodiversitätsmonitoring. Aber auch ältere Daten wurden mit einbezogen, um die Entwicklung der Artenvielfalt zu verdeutlichen.

Der Wandel der Biodiversität lässt sich anhand dieser Faktoren dokumentieren:

  • Artenvielfalt
  • Häufigkeit und Verbreitung der Arten
  • genetische Vielfalt
  • Vielfalt der Ökosysteme und deren Funktionsfähigkeit.

Trotz aller Bemühungen nehmen die Artenzahlen ab und die Roten Listen werden länger. Grosse Schwierigkeiten bereiten fehlende Vergleichszahlen und die Frage, welche Aspekte und Komponenten bei der Beurteilung der Biodiversität berücksichtigt werden sollen, so Peter Duelli (Eidg. Forschungsanstalt WSL).

Heutiger Stand

Die Schweizer Landschaft hat sich seit 1900 stark verändert: die landwirtschaftlich genutzte Fläche hat abgenommen, dafür gibt es mehr Wald und Siedlungen. Verändert hat sich auch die Qualität der Lebensräume. Siedlungen und Verkehrsachsen zerschneiden zunehmend die Landschaften, was die Lebensraumqualität zahlreicher Tier- und Pflanzenarten verschlechtert. Auch die Land- und Waldwirtschaft beeinflussen die Biodiversität.

Vom Ziel, den Rückgang der Biodiversität bis 2010 zu stoppen, ist die Schweiz trotz einiger positiver Tendenzen noch weit entfernt. Dies gilt insbesondere für das intensiv beanspruchte Mittelland. Zahlreiche Arten sind lokal und regional verschwunden, der Rückgang von Populationen und wertvollen Lebensräumen konnte bisher nicht gestoppt werden. Verschiedene Massnahmen verhinderten zwar vielerorts das Aussterben von Arten, aber angesichts der grossen Verluste an biologischer Vielfalt schon vor 1900 bis heute ist der Handlungsbedarf sehr gross.

In der Schweiz ist die Ausdehnung und Qualität von inventarisierten Lebensräumen sowie Wald (Landesforstinventar/LFI) und Kulturland laut Daniela Pauli (Akademie der Naturwissenschaften Schweiz/SCNAT) gut bekannt. Bei Wäldern starten wir dabei von einem relativ guten Ausgangsniveau, ganz im Gegensatz zu anderen Bereichen. Bis 1990 sind sehr grosse Verluste der Biodiversität zu verzeichnen. Zwischen 1990 und 2010 konnte dieser Trend bei einigen Arten gebremst werden. In Einzelfällen und lokal gibt es sogar positive Signale, beispielsweise dank der Renaturierung von Gewässern oder bei tagaktiven Schmetterlingen im Wald.

Schweizer Wald im Wandel der Zeit

Die Biodiversität im Wald hat sich verändert: vor der industriellen Revolution nutzte der Mensch die Wälder mehrfach (z.B. Holz- und Streunutzung, Waldweide). Dies führte zu strukturreichen, lichten Flächen. Mit zunehmender Industrialisierung setzte die intensive Holznutzung mit Kahlschlägen ein. Grossflächig wurden ertragsreiche Baumarten gepflanzt, was zu gleichaltrigen Beständen, Licht- und Strukturarmut und damit zum Rückgang der Artenvielfalt geführt hat. Auch Totholz wurde seit Jahrzehnten zum Heizen und Kochen genutzt. Ein Rückgang der holzzersetzenden Pilze und anderer von totem Holz abhängiger Arten war die Folge.

Die Schweizer Förster betreiben seit 125 Jahren einen nachhaltigen Waldbau. Das erste Schweizer Waldgesetz von 1885 setzte Waldflächen erstmals unter Schutz; seit 1991 ist der Wald als "naturnahe Lebensgemeinschaft" geschützt. Die heute betriebene multifunktionale Waldwirtschaft berücksichtigt einerseits die Schutz- und Nutzfunktion, anderseits fördert sie die biologische Vielfalt.

Der Schweizer Wald heute

In der Schweiz nimmt die Waldfläche – ausser im Mittelland – seit 1850 stetig zu. Insgesamt ist der prozentuale Anteil gefährdeter Arten im Wald kleiner als in anderen Lebensräumen. Dies ist vor allem der multifunktionalen Waldwirtschaft, Artenförderungsprogrammen und dem Flächenschutz zu verdanken. Trotzdem gibt es aus Sicht des Artenschutzes Defizite, besonders im Mittelland. Strukturelle Veränderungen im Wald, seine intensive Bewirtschaftung, wenige Waldreservate, dunkle Wälder sowie der Mangel an Alt- und Totholz sind die Hauptgründe.

Was ist zu tun?

Der anhaltende Rückgang der Biodiversität, der auch im Wald stattfindet, spricht nicht gegen die bereits getroffenen Naturschutzmassnahmen. Mit der praktischen Umsetzung zur Erhaltung der Biodiversität im Wald leisten die Forstdienste einen wesentlichen Beitrag. Aber es hat sich herausgestellt, dass die multifunktionale Waldwirtschaft allein den umfassenden Schutz der im Wald lebenden Arten, ihrer genetischen Vielfalt und der Vielfalt an Lebensräumen nicht gewährleisten kann.

Wenn der Rückgang der Biodiversität gestoppt werden soll, sind zusätzliche Anstrengungen zwingend nötig. Laut Christoph Scheidegger (Eidg. Forschungsanstalt WSL) und Werner Müller (SVS/BirdLife Schweiz) sind dies:

  • Ausweitung der Artenschutzmassnahmen für stark gefährdete Arten
  • Zusätzliche Wald- und Sonderwaldreservate für Lebensraumspezialisten
  • Flächenschutz und naturnaher Waldbau auf 100% der Waldfläche: Biodiversitätsförderung als Teil der Multifunktionalen Waldwirtschft.
  • Verbesserung der räumlichen und zeitlichen Vernetzung von Lebensräumen sowie Schaffung von Ruhezonen

Im Hinblick auf die zu erwartenden floristischen und faunistischen Veränderungen aufgrund des Klimawandels ist eine grosse Bandbreite an heimischen Baumarten notwendig, ausserdem sollten genügend "Ausweichlebensräume" für Fauna und Flora vorgesehen werden.

Alte und neue Nutzungsformen

Zusätzlich sind auch Förderflächen für Mittelwälder, Wytweiden und Niederwälder einzurichten. Die unterschiedlichen Betriebsarten erhöhen die strukturelle Vielfalt und fördern jene Waldarten, die auf viel Licht angewiesen sind. Die Neuschaffung derartiger oder ähnlicher Kulturwaldtypen ist eine anspruchsvolle Herausforderung für den Naturschutz.

Auch wenn es im Wald bezüglich der Biodiversität besser aussieht als in anderen Lebensräumen, darf man nicht davon ausgehen, dass sich die bisherigen Erfolge automatisch fortsetzen. Ein Faktor, der dieses Ziel bremsen könnte, ist die zunehmende Energieholzgewinnung. Daher ist es wichtig, eine ausgewogene Mischung der Betriebsarten zu finden, die einerseits eine effiziente Holznutzung erlaubt, anderseits aber auch vielfältige Lebensräume für anspruchsvolle Pflanzen und Tiere bietet. Die Übergangszone Wald-Landwirtschaft (extensiv genutzte Wiesen, Buschgruppen, aufgewertete Waldränder) hat besonders viel Aufwertungspotenzial.

Fauna und Flora

Der Wald beherbergt etwa 32'000 Pflanzen-, Tier- und Pilzarten. Nicht einmal 6.000 davon sind gemäss Christoph Scheidegger (WSL) hinreichend untersucht. Unter ihnen gelten 1'246 Arten als gefährdet (BAFU). Hier ist zusätzliche Forschung zu besseren Kenntnis der Bedürfnisse dieser Arten notwendig. Beispielsweise sind in der Schweiz 22 baumbewohnende Flechten bereits ausgestorben. Auch viele Käfer und Grosspilze konnten von den Förderungsmassnahmen noch nicht profitieren. Lediglich bei den Schmetterlingen und Waldvogelarten zeigt sich dank Auflichtungen ein leicht positiver Bestandestrend. Die Artenzahlen der Gefässpflanzen sind auf tiefem Niveau leicht angestiegen.

Werner Müller (SVS/BirdLife Schweiz) fordert gezielte, kantonsübergreifende Programme, die Festlegung von weiteren Prioritäts- und Verantwortungsarten und zeigt grossen Forschungsbedarf auf. Auf den Landwirtschaftsflächen führen intensive Bewirtschaftung und Überdüngung der Böden dazu, dass die Artenzahlen in Wiesen und Weiden abnehmen. Hinzu kommt der Klimawandel, der eine Verschiebung des Artenspektrums bewirkt: alpine Arten wie das Alpenschneehuhn werden seltener, mediterrane Arten wie Gottesanbeterin und Bienenfresser hingegen häufiger.

Ausblick

Steigender Nutzungsdruck auf Wälder, die Auswirkungen des Klimawandels, die Intensivierung der landwirtschaftlichen Nutzung im Berggebiet, die Ausdehnung von Siedlungs- und Verkehrsinfrastruktur, die Zunahme von Tourismus- und Freizeitaktivitäten sowie immer mehr invasive Arten bringen viele gefährdete Arten in Zukunft wohl noch stärker in Bedrängnis. Wenn die Artenvielfalt nicht noch mehr zurückgehen soll, ist dringendes Handeln angesagt:

Die vordringlichste Aufgabe für die Zukunft ist die Verknüpfung von Waldutzung und Förderung der Biodiversität. Es reicht nicht aus, sich auf den bisherigen Erfolgen auszuruhen. Die bewährten Instrumente zur Erhaltung und zur nachhaltigen Nutzung der Biodiversität sind zu bündeln und besser aufeinander abzustimmen. Zudem ist es wichtig, Synergien zu nutzen, Massnahmen konsequenter umzusetzen und vorhandendes Fach- und Praxiswissen zugänglich zu machen.

Daniela Pauli (SCNAT) fordert, dass alle Gesellschafts- und Politikbereiche ihre Verantwortung wahrnehmen und verstärkte Anstrengungen unternehmen müssen, um die nötige Trendwende einzuleiten. Ihrer Meinung nach darf und kann die Erhaltung der Biodiversität nicht nur Sache des Naturschutzes sein, sie muss auch Aufgabe der Politik sein. Darüber hinaus sollte geprüft werden, inwieweit Ökosystemleistungen monetär bewertet und abgegolten werden können.

Buch: Wandel der Biodiversität in der Schweiz

Lachat T, Pauli D, Gonseth Y, Klaus G, Scheidegger C, Vittoz P & Walter T (Red.) Wandel der Biodiversität in der Schweiz seit 1900. Ist die Talsohle erreicht? Zürich, Bristol-Stiftung; Bern, Stuttgart, Wien, Haupt. 435 S.

Preis: 36,00 Fr.
ISBN: 978-3-258-07569-3

Das Buch ist im Buchhandel oder beim Verlag erhältlich.