Begonnen hat alles in den frühen 1970er-Jahren in einer Arvenstube. In Nufenen (GR) feierte man die Taufe von Theo Gerbers Patenkind Margrit. Das Tischgespräch kam auf die Arve (Pinus cembra). Ein Lehrer berichtete von seinen Versuchen, auf dem Dürrabüel beim San Bernardino-Pass Arven aufzuziehen. Anfänglich seien die gepflanzten Bäume schön gewachsen, dann aber plötzlich allesamt eingegangen.
Neue Arven für den Rheinwald
Abb. 2. Arven bei Nufenen im Hinterrheintal (GR). Foto: Oskar Hugentobler
Gerber fühlte sich herausgefordert. Er hatte sich schon als Jugendlicher als Baumgärtner betätigt. Er nahm sich vor, es auch mit Arven zu versuchen. Das dafür auserkorene Gebiet war das Hochtal des Hinterrheins vom San-Bernardino-Pass bis hinab nach Splügen (GR).
Dieser Teil des Hinterrheintals wird auch "Rheinwald" genannt. Der Name erinnert an längst vergangene Zeiten, als die Talflanken noch durchgehend bewaldet waren. Im obersten Bereich der Bergwälder herrschte die Arve. Diese Baumart gedeiht in den Alpen vorwiegend in Höhenlagen von 1700 bis 2300 Metern über Meer und bildet zusammen mit der Lärche den Waldgürtel unterhalb der Baumgrenze. Verschiedene Flurnamen bezeugen, dass dies einst auch im Rheinwald der Fall war.
Historischer Rückblick
1274 holten die Landesherren von Sax Misox 13 Walserfamilien ins Hinterrheintal und verpflichteten sie, die Saumwege von Splügen über den San Bernardino ganzjährig offen zu halten. Als Lohn dafür erhielten sie Sonderrechte wie persönliche Freiheit, niedrige Gerichtsbarkeit und namentlich auch das Recht, den Wald zur Gewinnung von Kultur- und Weideland zu roden. Die Walser machten davon ausgiebig Gebrauch - zumal sie auch viel Holz als Baumaterial sowie als Brennstoff zur Verhüttung von Eisen für Werkzeuge und die Hufeisen der Saumtiere brauchten. Unter dem Wenglispitz bei Hinterrhein auf 2350 Metern Höhe steht heute noch die Ruine eines Hochofens.
Den Rest besorgten die von Frühling bis Herbst frei weidenden Ziegen. Die grossen Herden frassen den Jungwuchs ab. Anfang der 1970er-Jahre waren vom einstigen Arvenwald zwischen Nufenen und Hinterrhein lediglich noch etwa 100 Bäume in unzugänglichen, felsigen Hängen übrig.
Hausgärten als Baumschulen
Gerber startete sein Vorhaben, die Arve in das obere Hinterrheintal zurückzubringen. Walter Trepp, der damalige Forstadjunkt des Kantons Graubünden, unterstützte ihn, indem er 5000 Sämlinge stiftete. Mehrere Bewohnerinnen und Bewohner von Nufenen stellten Teile ihres Hausgartens für Baumschulen zur Aufzucht von Jungarven zur Verfügung und die Kirchgemeinde den Pfarrgarten. Im Dorfbild jeder Rheinwalder Gemeinde sind Arven als Gartenbäume heute ein prägendes Element.
Auspflanzen mit Zaunschutz
Abb. 3. Für Hirsche sind junge Arven ein Leckerbissen. Ohne Schutzzäune hätten die langsam wachsenden Nadelbäume deshalb keine Überlebenschance. Foto: Oskar Hugentobler
Sechs Jahre dauert es, bis ein Arvenkeimling zu einem Jungbaum aufgewachsen ist, der ausgepflanzt werden kann. Das Pflanzen im teils schwierigen Gelände ist eine Knochenarbeit. Im Werkraum seines Ferienhauses demonstriert der mittlerweile 88-jährige Freizeitförster die hierzu verwendeten Werkzeuge: die Wiedehopfhaue, ein Gerät, das tatsächlich an den Kopf eines Wiedehopfs erinnert und für Bodenarbeiten verwendet wird, die maximalen Krafteinsatz erfordern. Oder den Pfahlhammer, eine 1 m lange, oben verschlossene Eisenhülse, an die man unten Verlängerungsstangen anschrauben kann. Das Gerät dient dazu, Pfähle in den Boden zu rammen: Die Hülse wird über den liegenden Pfahl gestülpt, dieser danach aufgerichtet und in das mit einem Locheisen gegrabene Loch gesteckt: Zwei Personen heben nun die Hülse und ziehen sie danach - den Fall verstärkend - nach unten.
Gepfählt werden muss, um die Pflanzflächen einzuzäunen. Ohne Zaunschutz würden die Jungbäume allesamt von Ziegen oder Hirschen gefressen. Für diese sind die zarten Arvennadeln und die saftige Rinde ein Leckerbissen. Ungeschützt haben die Jungbäume bei den heutigen Hirschbeständen keine Überlebenschance.
Grosse Unterstützung und Zusammenarbeit
Gepflanzt hat Gerber, wo immer sich eine Gelegenheit dazu ergab. Meist kamen Privatpersonen oder Gemeinden auf ihn zu, stellten ihm ein Stück Land zur Verfügung, mit der Bitte, es mit Arven zu bestocken. Breit vernetzt, wie er war, fand er auch freiwillige Helfer und Sponsoren. Mitglieder des Rotary-Club, seines Turnvereins oder seiner Pfadfinderabteilung, aber auch Familienangehörige sowie ortsansässige Landwirte und Jäger legten Hand an. Private Gönner und die Ernst-Göhner-Stiftung gaben Geld.
Im Kreisförster Oskar Hugentobler fand er einen überaus kooperativen Partner in der Forstverwaltung. Dank ihm konnten mehrere grössere Aufforstungen als Schutzwaldprojekte finanziert und realisiert werden. So zum Beispiel die Aufforstung "Ob den Bender/Schnäggafat" bei Medels: Unterhalb einer Lawinenverbauung pflanzten angehende Förster und Private 3000 Arven aus den Nufener Baumschulen. Oder die Mischwaldanlage unterhalb der Alp Cadriola bei Hinterrhein: Der aufkommende Wald soll zusammen mit Lawinenverbauungen die Talstrasse A13 zwischen Nufenen und Hinterrhein schützen. Andere grössere Projekte betrafen Ersatzaufforstungen, die durch den Ausbau der Passstrasse über den San Bernardino notwendig geworden waren. Hinzu kamen zahllose kleinflächige Pflanzungen mit ein paar Dutzend bis mehreren Hundert Bäumen. Insgesamt rund 80‘000 Arven wurden im Zeitraum von 1974 bis 2006 im Rheinwald gepflanzt - darunter 20‘000 von Privaten.
Kooperation von Staat und Privaten
Mit dem Pflanzen war es meist nicht getan: Abgestorbene Bäumchen mussten ersetzt, darbende gepflegt und Wildzäune instandgehalten werden. Auch hier kooperierten Staat und Freiwillige.
Der Aufbau des Arvengürtels im Rheinwald, ist nicht zuletzt zur Regulierung des gestörten Wasserhaushaltes infolge des Gletscherrückgangs wichtig, findet Gerber. Bis die aufgeforsteten Flächen diese Funktion wahrnehmen können, wird es allerdings noch Generationen dauern. Denn in den Höhenlagen um 2000 m über Meer wachsen Arven äusserst langsam. Bäume von der Grösse eines Weihnachtsbaums können über hundert Jahre alt sein. Doch der Anfang ist gemacht. Unten im Tal, wo ebenfalls viele kleinere und grössere Arvenpflanzungen erfolgten, geht das Wachstum schneller. Die ersten Bäume fruchten bereits.
Der Tannenhäher übernimmt
Die Nüsschen in den Arvenzapfen bilden die Nahrungsgrundlage des Tannenhähers. Das Nussangebot für den Vogel, der das Gebiet mangels Arven lange Zeit nicht mehr ganzjährig bewohnen konnte, wird sich in den kommenden Jahren exponentiell vergrössern. So wird er bald die Weiterführung des Projekts übernehmen können. Denn zwischen ihm und der Arve besteht eine Partnerschaft: Die Arve macht ihn satt, als Gegenleistung hilft er ihr, sich auszubreiten. Der Ornithologe Hermann Mattes hat diese symbiotische Beziehung in den 1970er-Jahren akribisch erforscht: Im Frühherbst, wenn die Arvenzapfen reif sind, holt der Tannenhäher die Zapfen von den Bäumen, schleppt sie zu einer Astgabel oder einem Baumstrunk und pickt die Nüsschen heraus. Diese stopft er in seinen Kehlsack und fliegt damit zu seinem Revier. Hier legt er im Boden Depots für den Winter an. Mehr als 100‘000 Nüsse kann ein einziger Häher pro Saison ernten. Der Vorrat muss nicht nur für ihn reichen. Wie der Vogel es schafft, die Depots im Winter zu finden, ist ein Rätsel. Er orientiert sich offenbar optisch. Was Auge und Gehirn dabei leisten, grenzt an ein Wunder: Ein Häher muss sich nicht nur Tausende von Depots merken, er muss diese auch noch unter einer dicken Schneeschicht orten können. Doch perfekt ist niemand. Rund ein Fünftel aller gehorteten Arvensamen findet der Vogel nicht mehr. Diese erhalten dann im Frühling ihre Chance, zu einem Baum heranzuwachsen.
Abb. 4. Die reifen Samen einer Arve. Foto: Sabine Brodbeck (WSL). Foto: Sabine Brodbeck (WSL)
Abb. 5. Der Tannenhäher ist der primäre Samenausbreiter der Arve. Foto: Felix Gugerli (WSL)
Optimale Keimstandorte
Für die Verjüngung des Arvenwaldes reicht das bei Weitem. Zumal der Häher seine Verstecke ungewollt oft gerade da platziert, wo für junge Arven bestmögliche Entwicklungsbedingungen herrschen. Eine reichliche Bodenvegetation - mit Alpenrosen, Erlen und hohem Gras - erschwert ihm den Zugang zum Erdreich. Solche Stellen werden daher gemieden. Auch dort, wo im Winter sehr viel Schnee liegt, wird der Häher keine Verstecke anlegen. Es sind zugleich Orte mit schlechten Keim- und Wachsbedingungen für die Arve.
Leichter zu finden sind eher pflanzenarme Standorte, die im Frühling zeitig ausapern. Auch erhöhte Geländepunkte mit bewachsenen Felsen wie Kuppen und Rippen sucht sich der Häher gerne für seine Nussdepots aus, weil die Topografie ihm hier das Wiederfinden erleichtert. Genau das sind optimale Arvenstandorte. Eine im Engadin durchgeführte Untersuchung zeigte, dass fast jede Jungarve, die ausserhalb des Waldes wächst, aus einer Hähersaat aufgegangen ist. So werden Vögel im Lauf der nächsten paar hundert Jahre das Lebenswerk von Theo Gerber vollenden.