Die natürliche Waldentwicklung besser zu verstehen, im Speziellen die Prozesse Wachstum, Mortalität und Verjüngung, ist das übergeordnete Ziel des Projekts "Forschung und Wirkungskontrolle in Naturwaldreservaten" der Forschungsanstalt WSL und der ETH Zürich. Allgemein wird angenommen, dass in unbewirtschafteten Wäldern für die Erhaltung der Biodiversität wichtige Habitate wie Totholz und dicke Bäume häufiger vorkommen als im Wirtschaftswald. Ein weiteres Ziel des Projekts ist daher, die Entstehung und Veränderung solcher Habitate besser zu verstehen.
Der God da Tamangur in der Val S-charl (Unterengadin, Kanton Graubünden, Abb. 1) ist eines der 49 von WSL und ETH beobachteten Schweizer Naturwaldreservate (NWR). Hier fand im Sommer 2013 eine Stichprobeninventur (SPI) statt, dank welcher erstmalig ein repräsentatives Bild der Waldstruktur von Tamangur vorliegt.
Das NWR Tamangur ist 86 ha gross und wurde 2007 gegründet. Der wunderschöne Arvenwald wächst an einem topografisch gleichmässigen Nordwesthang auf silikatischem Moränenmaterial. Das Klima ist kontinental; im Winter fallen die Temperaturen nicht selten unter –30 °C. Im Wald begegnet man nur vereinzelt Spuren früherer Holznutzung in Form von Stöcken. Alte Steinmauern, angesengte und mit der Axt leicht ausgehöhlte Stämme sowie die sehr lichte Bestandesstruktur zeigen jedoch den Einfluss der früheren Beweidung von der Alp "Tamangur dadora" aus.
Inventur im God da Tamangur
In ihrer Dokumentation der Begehung von 1902 beschreiben der damalige eidg. Oberforstinspektor Coaz und Prof. Schröter den God da Tamangur im Detail. Eine 1904 durchgeführte Vollkluppierung (VK) war zu dieser Zeit die einzige Untersuchung zum Bestand. Allerdings wurde in der VK 1904 ein kleinerer Perimeter (26 ha) erfasst als in der SPI 2013. Die erstmalige Inventur durch die WSL 2013 umfasste 38 Probeflächen – was einer Aufnahme von 2 % der Waldfläche entspricht – und erstreckte sich über das Kerngebiet des Reservats von 41 ha (Abb. 2).
Die Erhebungsmethode ist ähnlich jener des Schweizerischen Landesforstinventars LFI. Auf Kreisflächen von jeweils 500 m2 werden an allen Bäumen mit Durchmesser auf Brusthöhe (BHD) ≥ 7 cm (innerer Kreis) bzw. ≥ 36 cm (äusserer Kreis) dendrometrische und ökologische Merkmale erfasst. Die beobachteten Habitatstrukturen sowie Kennzahlen zu Totholz und Verjüngung dienen zur Abschätzung des ökologischen Werts des Reservats.
Starke Zunahme der Stammzahl
Mit einem Stammzahlanteil von über 75 % nimmt die Arve im NWR Tamangur eine dominierende Stellung ein. Daneben kommen einige Legföhren und wenige Lärchen, Fichten und aufrechte Bergföhren vor (Abb. 3). Oberhalb von BHD 48 cm gibt es nur noch Arven, weshalb diese fast 100% zu Grundfläche und Vorrat beitragen. Entsprechend war der dickste gemessene Baum eine Arve mit einem BHD von 140 cm.
In den letzten 100 Jahren hat sich die Artenzusammensetzung kaum verändert, wie Gegenhangfotos zeigen (Abb. 4); der Wald ist jedoch deutlich dichter geworden und die Stammzahl hat sich fast verdoppelt (Abb. 5). Die Stammzahlzunahme durch Einwuchs führt heute zu einer deutlich grösseren Anzahl dünner Bäume (Abb. 6). Trotz dieser starken Stammzahlzunahme hat der Vorrat seit 1904 nur um einen Drittel zugenommen – es wächst sich langsam im subalpinen Wald, und die eingewachsenen kleinen Bäume tragen bisher nur wenig zum Vorrat bei (Abb. 5).
Abb. 5 - Kennzahlen des NWR Tamangur aus der Vollkluppierung (VK) 1904 und der Stichprobeninventur (SPI) 2013. Bei Angaben zur Stammzahl und Grundfläche sind nur lebende Bäume mit BHD ≥ 7 cm (SPI) bzw. ≥ 16 cm (VK) berücksichtigt. Für die SPI wird zusätzlich die Stammzahl mit Kluppschwelle 16 cm angegeben. Die Übereinstimmung des Perimeters der VK und der SPI ist unklar: Die VK wurde auf 26 ha durchgeführt, die SPI auf 41 ha. Weil 1904 grössere, von Wald umgebene Blössen weggelassen wurden, würde sich auf die heutige Reservatsfläche bezogen eine noch geringere Stammzahl ergeben.
*Neuberechnung auf Basis der VK-Daten von 1904 in Coaz & Schröter 1905.
** Bäumchen von 10 cm Höhe bis <7 cm BHD
Abb. 6 - Durchmesserverteilung aller lebenden Bäume der Vollkluppierung (VK) 1904 und der Stichprobeninventur (SPI) 2013, dargestellt in 4-cm-BHD-Stufen. Der Aufnahmeperimeter der Vollkluppierung (Kluppschwelle BHD ≥ 16 cm) unterscheidet sich dabei leicht von jener der Stichprobeninventur. Die Fehlerbalken bei den SPI-Werten entsprechen +1 Standardfehler.
Tragbarer Wildeinfluss
Viele kleine und gesunde Bäume, vor allem Arven, sichern heute – im Gegensatz zu 1904 – eine kontinuierliche Waldbestockung. Mit einem Wert von knapp 5 % liegt der Wildverbiss im NWR Tamangur in einem verträglichen Rahmen. Die meisten Bäume sind zudem lediglich am aktuellen Jahrestrieb und nicht wiederholt verbissen. Die Arve wird nur im An-/Aufwuchs verbissen (meist < 40 cm Höhe; 5% Jahresverbiss) und kann danach rasch dem Äser entwachsen.
Seit 1904 ist der Wald dichter geworden und bietet heute dank besserer Deckung attraktive Einstandsgebiete für das Schalenwild. Wie die geringe Verbissintensität und die negativ exponentielle Durchmesserverteilung (genügend Jungbäume; Abb. 6) belegen, scheint die erhöhte Standortattraktivität für das Wild die Waldverjüngung aber nicht negativ zu beeinflussen, zumindest was die Arve betrifft.
"Schäden" an Stamm und Krone sichern das Überleben vieler Lebewesen
Die zahlreichen Rindenverletzungen in der Dickungsstufe und im Stangenholz sind v. a. Folge der Aktivität des Wilds (Schälen und Fegen). In einem Waldreservat wie Tamangur ist das beobachtete Ausmass im Hinblick auf die Walderhaltung zurzeit unkritisch und somit kein Grund zur Beunruhigung – im Gegenteil: Die Rindenverletzungen dienen als Eingangspforte für Lebewesen wie Pilze und Insekten. Auch andere in den oft zerzausten Kronen der Arven beobachteten Habitate wie Kronentotholz, Löcher, Risse und Spalten bieten eine Lebensgrundlage für viele Organismen, sei es als Nahrung, Versteck oder Nistplatz.
Hoher ökologischer Wert dank Stammlöchern, Höhlen und Giganten
Stammhöhlen, v. a. Höhlen mit Mulmkörper, gelten als besonders wertvolle Mikrohabitate, und ihre Häufigkeit kann als Mass für die Naturnähe eines Waldes herangezogen werden. So dienen Löcher (Abb. 7), z. B. verlassene Bruthöhlen der Spechte, vielen weiteren Bewohnern wie Käuzen, Fledermäusen und Eichhörnchen als Brutraum und Kinderstube. Der seltener anzutreffende Mulm, der sich über Jahrzehnte durch Zersetzung des Holzes und Ansammlung von Exkrementen am Höhlenboden bildet, bietet ein weiteres rares Substrat für spezialisierte Arten.
Aus naturschutzbiologischer Sicht sollte mindestens eine Höhle/ha in einem Wald vorhanden sein, um spezialisierten Arten ein Habitat zu sichern. Als optimal erachten Vallauri et al. (2002) 10 bis 20 Bäume/ha mit mindestens einem Loch oder einer (Mulm-)Höhle. Im NWR Tamangur finden wir 16 Bäume (lebende und tot stehende) mit mindestens einem Loch oder einer (Mulm-)Höhle pro ha. Ähnlich anderen (Lärchen-)Arven-NWR (Aletschwald 13/ha; Selvasecca 20/ha) hat Tamangur in Hinblick auf diese Habitatstruktur bereits einen hohen ökologischen Wert.
Ein weiteres wichtiges ökologisches Merkmal ist die Dichte von "Giganten", das sind Bäume mit BHD ≥ 80 cm. Giganten weisen ein grosses Holzvolumen und überdurchschnittlich viele Habitatstrukturen auf. Pro ha stehen im NWR Tamangur stolze 16 Giganten, was Werten aus alten mittel- und nordeuropäischen Naturwäldern entspricht. Andere Lärchen-Arven-Wälder der Alpen wie die Selvasecca und der Aletschwald weisen nur halb so viele Giganten auf.
Viel liegendes, wenig stehendes Totholz
Giganten sind auch nach ihrem Tod wichtige Lebensräume. Als Totholz überdauern sie Jahrzehnte und sind Habitat für Holzabbauspezialisten und sich darin versteckende Tiere. Beim langsamen Abbau der dicken Stämme werden verschiedene Stadien durchlaufen, sodass über die Zeit viele spezialisierte Arten einen geeigneten Lebensraum finden. Ein Totholzvolumen von 20 bis 50 m³/ha reicht gemäss Lachat et al. (2014) aus, damit die meisten totholzabhängigen Organismen überleben können.
Die Totholzmenge im NWR Tamangur liegt mit durchschnittlich 41 m3 liegendem und 1 m3 stehendem Totholz pro ha in diesem Bereich. Beim liegenden Totholz ist dies doppelt so viel wie der Durchschnittswert gemäss Schweizerischem Landesforstinventar LFI3 (Region Alpen) und doppelt so viel wie im Aletschwald. Stehendes Totholz ist in den Wäldern der Region Alpen allerdings wesentlich häufiger als im NWR Tamangur. Der Grund ist die Geschichte dieses Waldes: Unter den erst seit ca. 1900 einwachsenden jungen Bäumen ist die Konkurrenz noch nicht so gross, dass schon namhafte Mortalität auftreten würde, und von den dicken, langlebigen Arven sterben nur sehr wenige ab. Immerhin ist im NWR Tamangur Kronentotholz häufig und kann gewisse Habitatfunktionen des stehenden Totholzes übernehmen.
Auf dem Weg zum Urwald
Im God da Tamangur hatte vor allem die alpwirtschaftliche Nutzung – Beweidung und Brennholzsammeln – einen Einfluss auf die Waldentwicklung. Nutzungsspuren durch Holzschlag sind kaum zu finden. Die Entwicklung der Stammzahlen von 1904 bis 2013 lässt erahnen, wie sich die Nutzung auf die Waldstruktur auswirkte: Nach Aufgabe der Beweidung nimmt die Stammzahl stark zu, die Verjüngung (Abb. 8) erholt sich – und somit auch der Wald insgesamt. Das nun liegen gelassene und heute bereits reichlich vorhandene Totholz bietet vielen teilweise bedrohten Organismen Lebensraum, und die hohe Dichte an wichtigen Habitatstrukturen wie Stammlöchern und Giganten trägt zum ökologischen Wert dieses Waldes bei. Allerdings zeigt die beeindruckende Zunahme von Stammzahl, Vorrat und Totholzvolumen auch, dass der God da Tamangur noch kein Urwald und schon gar nicht ein Urwald im Gleichgewicht ist.
Eine starke Stammzahlzunahme zeigte sich in den letzten Jahrzehnten auch im ehemals stark genutzten Aletschwald, auch wenn dort hohe Schalenwilddichten die Verjüngung seit einigen Jahrzehnten stark bremsen. Im NWR Tamangur scheint sich das Schalenwild bisher nicht negativ auf die Waldentwicklung auszuwirken. Bis zur im Jahr 2028 geplanten Folgeinventur hat der God da Tamangur nun Zeit, sich langsam weiter in Richtung Urwald zu entwickeln und alle Besucher/innen mit seinen Farben, seinen knorrigen Baumgestalten und arbeitsamen Tieren zu bezaubern.
(TR)