Es wird eng im Wald
Studien zeigen auf, wie sich die Erholungsnutzung seit Beginn der Corona-Restriktionen im März 2020 verändert haben:
- Längere und häufigere Aufenthalte im Wald
- Erhöhung der Besucherzahlen (bspw. Anstieg um 140% zwischen April 2019 und Mai 2020, im Winter 2020/21 dreißig Prozent mehr Skilangläufer als sonst im Durchschnitt)
- Verschiebung der zeitlichen Waldnutzung (von frühmorgens und spätabends zu nachmittags sowie gleichmäßigere Waldnutzung an allen Tagen)
- „Neue“ Waldbesuchende (u. a. mehr Familien und junge Menschen)
Eine Umfrage der FVA im Freiburger Stadtwald gibt einen Einblick in die Motivation für Waldbesuche und die Rolle, die der Wald für Gesundheit und Wohlbefinden hat: „Tägliches Spazierengehen als Ausgleich zum Homeoffice. Der Wald ist da, mit seiner Vielfalt, am besten geeignet“ oder „Im Wald kann man […] den Kopf ausschalten und einmal ausblenden, in was für außergewöhnlichen Zeiten wir gerade leben“. Gleichzeitig zeigt die Studie auch kritische Wahrnehmungen der Erholungssuchenden: „Ich gehe in den Wald, um zu entspannen und/oder allein zu sein, das ist bei den Massenwanderungen kaum möglich“ oder „Auf schmalen Wanderwegen erlebe ich in den seltensten Fällen, dass Jogger oder Mountainbiker sich auch nur um Abstand bemühen, ich meide sie daher neuerdings.“.
So wie diese Personen die Zunahme an Erholungsnutzung für ihren eigenen Waldbesuch als einengend beschreiben, wird auch der Lebensraum für Wildtiere immer beengter. Problematisch wird das vor allem dadurch, dass der Lebensraum von Wildtieren durch Zersiedelung der Landschaft und Infrastrukturmaßnahmen bereits seit vielen Jahrzehnten zunehmend knapper geworden ist und die Biologische Vielfalt gefährdet. Hinzu kommen die erschwerten Lebensbedingungen für Wildtiere im Winter (Schnee, knappes Nahrungsangebot) oder durch Hochwasser (weniger Rückzugs- und Äsungsorte durch Überschwemmungen). Mit dem anhaltenden und durch die Corona Pandemie nochmals verstärkten Trend steigender Besucheraufkommen (Abb. 1), schwinden ihre Rückzugsräume weiter (Abb. 2). Für Wildtiere bedeuten die genannten Veränderungen weniger Ruhephasen, immer kleiner werdende Rückzugsbereiche, erschwerte Nahrungsbeschaffung und mehr Stress durch die ständige Anpassung der eigenen Aktivitätszeiträume und -orte. Dies kann unter anderem zu körperlicher Schwächung, vermindertem Reproduktionserfolg bis hin zu einer Bedrohung ihres Fortbestandes führen.
Aber warum sollten Waldbesuchende auf diese Folgen Rücksicht nehmen? Das im Grundgesetz (Art. 20a) verankerte Recht von Tieren: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung (…)“ macht auf die grundlegenden ethischen Aspekte aufmerksam, dass Wildtiere, unabhängig von ihrem Schutzstatus, ein „Recht“ auf Ruhe und Erhalt ihres Lebensraumes haben. Auch in der vielfältig genutzten Kulturlandschaft muss eine artgerechte Lebensweise sichergestellt werden.
Vor diesem Hintergrund stellen sich zwei grundlegende Fragen:
- Welche Aktivitäten des Menschen lösen welche Änderungen in Verhalten und Physiologie von Wildtieren aus?
- Was können wir daraus für eine wildtierverträgliche Erholungsnutzung, in Zeiten von Corona und darüber hinaus, ableiten?
Initiativen für Wildtiere
Im Jahr 2016 rief das Ministerium für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz BW (MLR) den Initiativkreis „Respekt Wildtiere“ ein. Dieser fungiert als Plattform für die landesweite Vernetzung und Abstimmung von Verbänden und Vereinen aus den Bereichen Natur und Tierschutz, Jagd, Sport und Tourismus, u.a. mit dem Ziel, Ruhebereiche für Wildtiere zu schaffen und zu erhalten.
Zur Bewusstseinsbildung und Vermittlung wildtierfreundlichen Verhaltens wurde die Kampagne „BewusstWild“ des Vereins „Auerhuhn im Schwarzwald“ gegründet, die zusammen mit dem Naturpark Südschwarzwald derzeit verbreitet wird.
Merheit der Erholungsaktivitäten stört Wildtiere
Tab. 1: Die Tabelle zeigt Aktivitäten des Menschen (Zeile oben), die eine Reaktion bei Wildtieren hervorrufen (linke Spalte). Negatives Vorzeichen (-): negativer Effekt der menschlichen Aktivität auf Wildtiere, kein Effekt: 0, keine Angabe: x. Keine der Studien konnte eine positive Reaktion von Wildtieren auf menschlichen Einfluss belegen. Der Faktor Physiologie beinhaltet Reproduktionsrate, Geschlechterverhältnis und Fitness.
Quelle: Studie der FVA
Die eingangs beschriebenen, pandemiebedingten Änderungen in der Erholungsnutzung verstärken einen bestehenden Trend: Viele Menschen entdecken den Wald und Wildtierlebensräume neu für sich. Dies hat einerseits sehr viele positive Auswirkungen für den Menschen wie Stressabbau, Gesundheitsförderung und gesteigerter Achtsamkeit für die Natur. Andererseits führen diese Entwicklungen auch zu einem erhöhten und veränderten Besucheraufkommen in Wildtierlebensräumen, mit zum Teil weitreichenden Konsequenzen für die dort lebenden Tiere.
Der Blick in einschlägige Studien zeigt, dass die Mehrheit der untersuchten Erholungsaktivitäten negative Reaktionen in Verhalten und Physiologie von Wildtieren hervorruft. Ungestörte Rückzugräume für Wildtiere werden kleiner und seltener, Flucht und Stressreaktionen nehmen zu. Gleichzeitig benennen die Studien aber auch Empfehlungen für eine gemeinsame „Naturnutzung“ von Mensch und Wildtier. Die größte Bedeutung wird dabei der Einrichtung von Ruhezonen für Wildtiere zugedacht. Diese beinhalten die am zweithäufigsten genannten Empfehlungen für Regelungen für das Betretungsrecht und eine zeitliche Sperrung bestimmter Wege während sensibler Zeiten. Für die Umsetzung solcher Ruhezonen, die als Rückzugsorte für Wildtiere eine große Bedeutung haben, sind entsprechende Konzepte und rechtliche Instrumentarien vorhanden (bspw. in Baden-Württemberg §42 Jagd- und Wildtiermanagementgesetz). Mit solchen rechtlichen Instrumentarien können temporär oder langfristig Ruhebereiche für Wildtiere in intensiv genutzten Lebensräumen geschaffen werden, vor allem während sensibler Reproduktions- und Balzzeiten, oder in Zeiten besonderer Umweltbedingungen (z. B. Schnee, Überschwemmungen).
Die in vorhandenen Studien formulierten Empfehlungen für eine wildtierfreundliche Erholungsnutzung und Tourismusentwicklung richten sich in erster Linie an die Verantwortlichen in Politik, Praxis und Verwaltung. Manche lassen sich kurzfristig umsetzen (z. B. Wegegebot, Leinenpflicht, Wegesperrung in sensiblen Zeiten, ebenso wie Einrichten von Sichtschutzzonen und Anpassung der Jagd, aber auch Öffentlichkeitsarbeit). Andere Empfehlungen lassen sich eher längerfristig umsetzen und bedürfen mehr Abstimmung mit relevanten Akteuren (z. B. Einrichten eines Wildruhegebiet, Umsetzung einer Gebietskonzeption).
Bei ausnahmslos allen vorgeschlagenen Maßnahmen ist dabei auch entscheidend, dass Freizeitaktive und Erholungssuchende vor Ort informiert werden, dass und warum sie sich an die Regelungen halten müssen. Ergänzt werden sollte dies auch durch die Information und das Aufzeigen von Alternativen wo und wie wildtierverträgliche Erholungsnutzung möglich ist. Auch wenn sich die oben genannten Empfehlungen an Politik, Verwaltung und Praxis richten, kann auch jeder Waldbesuchende dazu beitragen, bereits bei seinem nächsten Ausflug den Wildtieren etwas mehr Ruhe zu gönnen. Wildtiere können lernen, sich an die regelmäßige Anwesenheit des Menschen zu gewöhnen, dafür muss der Mensch für sie jedoch ein kalkulierbares Risiko darstellen, d. h. für den nächsten Waldbesuch: möglichst auf Wegen oder festen Routen bleiben. Im Winter ist das natürlich bei Schneeschuhgehen, Variantenfahren oder Skitouren nicht gewollt. Hier gilt: möglichst gekennzeichnete Schneeschuh- und Skitourentrails nutzen. Bewegung auf Freiflächen ist kein Problem solange 50 Meter Abstand zum Waldrand gehalten werden. Gerade in Schutzgebieten sollte man besonders auf Hinweise achten, und generell Dämmerung und Nachtzeiten meiden und Hunde anleinen.
Alles in allem kann festgehalten werden, dass die Einschränkungen des öffentlichen Lebens aufgrund der Corona-Pandemie den bestehenden Trend einer zunehmenden Erholungsnutzung in Wildtierlebensräumen verstärken. Die zugrundeliegende Problematik und die bekannten Lösungsansätze bleiben aber dieselben. Die herausgearbeiteten Empfehlungen bieten auch bei einem anhaltenden Trend steigender Besucherströme Lösungen, um ein wildtierfreundliches Miteinander sicherzustellen. Die Umsetzung darf jedoch nicht hinausgezögert werden, die aktuellen Entwicklungen fordern ein schnelles Handeln. Die wissenschaftlichen Grundlagen und Umsetzungskonzepte hierfür sind vorhanden.