Digitalis purpurea L., der Rote Fingerhut, profitiert vom vollen Licht auf den Kahlflächen, die der Orkan "Kyrill" im Januar 2007 hinterlassen hat. Neben den Weidenröschen und Kreuzkräutern, den Gräsern, Farnen und Gehölzen der natürlichen Sukzession sind es besonders die Blütentrauben des Fingerhutes, die das Bild der Sturmflächen prägen.
Die roten, rosafarbenen und vereinzelt auch weißen Blüten hängen einseitswendig an bis zu mannshohen und weitgehend unverzweigten Stängeln. Weiche, gekerbte Blätter umrahmen die Basis der Pflanze am Boden und wachsen wechselständig am Spross. Damit ist der Fingerhut durch seine Gestalt und die namensgebende Blüte nicht nur auffallend attraktiv, sondern auch nahezu unverwechselbar.
In der Pflanzenfamilie der Wegerichgewächse (früher Braunwurzgewächse) vertritt er zusammen mit dem Großblütigen Fingerhut und dem Gelben Fingerhut die Gattung Digitalis in Deutschland. Letztgenannte, geschützte, Arten stehen in ihrer Häufigkeit allerdings deutlich hinter dem Roten Fingerhut.
Abb. 2: Der aufgrund seiner Gestalt und seiner namensgebenden Form unverwechselbare Fingerhut. Foto: J. Preller
Abb. 3: Blattrosette des Fingerhutes. Die langen Blätter schützen den Boden vor Austrocknung und Erosion. Foto: J. Preller
Felder voller Fingerhüte
Eine seltene Pflanze ist der Fingerhut hierzulande nicht. Er gehört seit jeher in das Repertoire unserer Wälder, mag kalkarme und ausreichend mit Stickstoff versorgte Böden mittlerer Feuchte. Profitiert hat der Rote Fingerhut in der Vergangenheit vom Nadelholzanbau und von Kahlschlägen. Zusammen mit dem Waldweidenröschen stellt er die typische Kahlschlagsfolgeflora dar. Auf den Orkanflächen wird man den Fingerhut noch so lange in großer Menge finden, bis Gehölze der natürlichen Verjüngung oder aus menschlicher Pflanzung das Licht wieder einschränken. Bis dahin können sich Waldbesucher am Anblick der unzählbaren Blütentrauben freuen.
Waldbauern und Forstleute stört der Fingerhut nicht. Im Gegenteil, er bindet die aus der Mineralisierung der Humusauflage frei werdenden Nährstoffe und schützt den Boden mit seinen bis zu 20 Zentimeter langen Blättern vor Austrocknung und Erosion. Typisch für eine Pionierpflanze, verbreitet der Wind Massen der winzigen Samen des Fingerhutes. Zur Keimung brauchen sie Licht. Nach der Keimung beginnt die zweijährige Entwicklung der Pflanze, in dessen erster Saison noch nichts von der üppigen Farbenpracht zu sehen ist. Es erscheint lediglich eine einfache Blattrosette am Boden. Erst im Folgejahr schiebt sich aus der Rosette ein Spross nach oben. Während der Blüte von Juni bis August stehen die Fingerhüte dann wie Leuchttürme auf der Lichtung.
Den Hummeln sei Dank
Die Kronblätter der Blüten sind, ähnlich einem Fingerhut aus dem Nähkasten, zu einer Röhre verwachsen, die der Pflanze nicht nur den deutschen sondern auch den botanischen Artnahmen gaben. Der deutsche Botaniker Leonhart Fuchs (1501-1566) beschreibt ihn in seinem Kräuterbuch von 1542 erstmals als "Digitalis" (lat. von digitus "Finger") und bewertet den Fingerhut so: "Ist in summa ein schön lustig kraut anzusehen".
Das finden auch die Hummeln als fleißige Bestäuber des Fingerhutes. Auf der Suche nach Nektar fliegen sie ihn intensiv an und nutzen die ausgezogene Unterlippe der Blüten als Landebahn. Das rot-weiße Fleckenmuster im Innern der leicht hängenden Blütenglocke verstärkt die Lockwirkung auf die Insekten. Beim Einkriechen in die tiefe Blüte streifen sie dann den Pollen von den Staubgefäßen. Um eine Selbstbestäubung der zwittrigen Blüten zu verhindern, produzieren die männlichen Staubblätter die Pollen bevor die weiblichen Fruchtblätter geschlechtsreif sind (so genannte "Vormännlichkeit"). Die Blüten an der Hauptachse des Fingerhutes blühen nacheinander von unten nach oben. Nach etwa einwöchigem Blühen bildet sich aus der Einzelblüte eine vielsamige Kapselfrucht.
Heilsam und zugleich tödlich giftig
Es war der britische Arzt William Withering (1741-1799), der im Jahr 1775 auf die medizinische Wirkung von Fingerhut-Inhaltsstoffen stieß und damit die Entwicklung eines der ältesten und wirksamsten Herzmedikamente überhaupt einleitete. Mithilfe von Präparaten aus den Blättern des im Englischen als foxglove ("Fuchshandschuh") bezeichneten Fingerhutes therapierte er erfolgreich Patienten mit herzbedingten Ödemen (Wassersucht) und legte mit seinen systematischen Studien gleichzeitig Grundlagen der heutigen Arzneimittelforschung. Im 19. Jahrhundert wurden Witherings Ergebnisse und somit die Herzwirksamkeit der Fingerhut-Inhaltstoffe bestätigt. Noch heute finden Digitalis-Präparate Anwendung in der Kardiologie. Sie stärken den Herzmuskel und regulieren die Herzfrequenz.
Und wie in Witherings Patientenstudien spielt noch heute die Dosierung eine entscheidende Rolle. Denn der Rote Fingerhut zählt zweifelsohne zu den giftigsten heimischen Wildpflanzen. Alle Pflanzenteile sind für Menschen und auch Tiere tödlich giftig. Giftinformationszentralen schreiben von wenigen Gramm frischer oder getrockneter Blattmasse, die als todbringende Menge genügen kann. Für Kinder bietet der Fingerhut glücklicherweise keine verlockenden Früchte wie die Tollkirsche oder der Bittersüße Nachtschatten an. Außerdem schmecken seine Blätter bitter. Trotzdem ist Vorsicht und Aufklärung geboten, weil der Fingerhut nicht selten direkt an Weg- und Waldrändern vorkommt und schon vor Jahrhunderten zu einer beliebten Gartenpflanze geworden ist.
Blume der Elfen und des Teufels
Ein Großteil der überlieferten Mythen über den Fingerhut entstammt dem Volksglauben von den Britischen Inseln. Dort sollen Feen und Elfen seine Blüten unter anderem als Kopfbedeckung benutzt haben. Im Irland des 16. Jahrhunderts half der Fingerhut bei Riten gegen den bösen Blick und schon im Mittelalter fand er dort Anwendung in der Volksmedizin. Einer Schweizer Sage nach benutzt der Teufel die Blüte als Fingerhut.
Das ist Mythologie, Wirklichkeit dagegen ist die große Bedeutung der Fingerhutblüten für einen kleinen Schmetterling, den Fingerhut-Blütenspanner (Eupithecia pulchellata). Seine Raupen fressen im Juli und August in der versponnenen Blüte.