Kastanienhaine, sogenannte Selven, waren in einigen Regionen der Schweiz einst weit verbreitet. Die Edelkastanie bildete hier die Ernährungsgrundlage und prägte Leben und Landschaft. Infolge gesellschaftlicher Umwälzungen geriet diese "Kastanienkultur" im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts weitgehend in Vergessenheit. Der Anblick verfallender Selven weckte in den 1980er-Jahren bei Bevölkerung und Behörden das Bewusstsein, dass ein wertvolles Erbe zu verschwinden drohte. Es starteten zahlreiche Projekte, um die Selven wiederherzustellen und zu bewirtschaften.
Niedergang der Kastanienkultur
Die Geschichte der Kastanienkultur ist geprägt durch eine lang währende Entwicklungsphase und eine Phase des Niedergangs. Der Aufschwung reicht von den Griechen über die Römer bis ins Mittelalter, als die Kastanienkultur auch in die oberen Südalpentäler der Schweiz und auf die Schweizer Alpennordseite gelangte. Auf der Alpennordseite waren es vor allem Gebiete der Alpenrandseen und der Föhntäler: Wallis, Chablais, Genfersee, Neuenburger-/Bielersee, Vierwaldstätter-/Zugersee, Walensee und Rheintal.
Der Niedergang der Kastanienkultur setze zur Zeit der Industrialisierung ein. Neue Formen der Landwirtschaft und Anbau neu eingeführter Nahrungsmittel (Kartoffel, Mais) sowie die sozioökonomische Entwicklung (neue Wirtschaftszweige, zunehmende Mobilität) verringerten die Bedeutung der Kastanienselven immer mehr. Im Kanton Tessin verringerte sich die registrierten Selven von 8800 ha zu Beginn des 19. Jahrhundert auf etwa 2000 ha Waldfläche mit noch erkennbarer Selvenstruktur im Jahr 2000. Auf der Alpennordseite sind die Selven völlig verschwunden. Es blieben lediglich vereinzelte Selvenrelikte und Einzelbäume übrig.
Abb. 2. Verwahrloste Selve in Aquila im Bleniotal. Foto: Giorgio Moretti
Selven und Sortenvielfalt erhalten
Durch die andauernde Vernachlässigung der Kastanienbäume und Selven gehen einzigartige Landschaftselemente, Knowhow und Infrastruktur der Kastanienbewirtschaftung und -verarbeitung sowie eine grosse Vielfalt an alten lokalen Kastaniensorten unwiederbringlich verloren. Um dies zu verhindern, wurden insbesondere auf der Alpensüdseite Bestrebungen zur Erhaltung und Förderung der Kastanienselven umgesetzt. Dabei lassen sich zwei Ansätze und Motive ausmachen:
- Erhaltung wertvoller Landschaftselemente und spezieller Habitate mit Fokus auf Selvenstruktur, -bewirtschaftung und -restauration, Landschaftsschutz und Tourismus, Naturund Artenschutz
- Erhaltung der Kastaniensorten als wertvolle pflanzengenetische Ressource für Ernährung und Landwirtschaft mit Fokus auf alte lokale Kultursorten, deren Merkmale (Sortenerkennung) und deren Fruchteigenschaften (Verwendung)
Selvenrestaurationsprojekte von 1979 bis 2006
Die Autoren haben mittels schriftlicher Umfrage bei einem Grossteil der bisherigen Selvenrestaurationsprojekte in der Schweiz die wichtigsten Kennziffern zu Organisation, Umfang, Kosten, Finanzierung und den einzelnen Restaurationsarbeiten erhoben. Ziel war es, die bisherigen Erfahrungen zusammenzufassen und Referenzwerte für zukünftige Selvenrestaurationsprojekte zu ermitteln. Die Befragung, die sich an beteiligte Personen von 46 Restaurationsprojekten richtete, ergab folgende Ergebnisse:
- Die Projekte betreffen ein Areal von insgesamt 210 ha. Der mittlere Projektperimeter beträgt 4,6 ha, wobei das grösste Projekt 78,5 ha umfasst und das kleinste 0,2 ha.
- Selvenrestaurationen erfolgten fast ausschliesslich auf der Alpensüdseite - im Tessin sowie in den Bündner Südtälern Misox und Bergell. Das erste Selvenrestaurationsprojekt wurde 1979 im Bergell gestartet. In den anderen Kastanienregionen hat die Zahl von Selvenrestaurationen vor allem seit 1998 stark zugenommen. Bereits sind auch erste Selvenrestaurationen oder -neubegründungen ausserhalb der Südschweiz zu verzeichnen.
- Die Summe der Projektkosten der 46 Selvenrestaurationen belief sich auf insgesamt 6,5 Millionen Franken. Ein einzelnes Projekt kostete also im Mittel rund 140'000 Franken Dies entspricht einem durchschnittlichen Hektarwert von 30'800 Franken.
- Ein Grossteil der Projektkosten betraf die Ausführung der eigentlichen Restaurationsarbeiten (73 %). Der Anteil für die Querschnittsaufgaben Administration, Management und Kommunikation war mit rund 16 % relativ gering.
- Bund und Kantone trugen je zirka einen Viertel der Projektkosten. Stiftungen und Fonds leisteten einen beachtlichen Anteil von rund 30 %. Hierbei handelte es sich vorwiegend um Beiträge des Fonds Landschaft Schweiz (FLS) sowie lokaler Stiftungen. Den Rest übernahmen zum grössten Teil die lokalen Gemeinden und die Grundeigentümer.
Die Autoren gehen davon aus, dass sie mit ihrer Befragung einen Grossteil der Selvenrestaurationprojekte in der Schweiz erfasst haben (schätzungsweise 80 %). Die Ergebnisse der Umfrage liefern eine gute Grundlage für neue Selvenrestaurationsprojekte. Sie dienen als grobe allgemeine Referenzwerte zur Abschätzung der Projektkosten und deren Entwicklung in Abhängigkeit von der Projektgrösse. Ausserdem geben sie Hinweise zu spezifischen Arbeiten und Problemen bei Selvenrestaurationen und zu möglichen Modellen der Projektfinanzierung.
Kastanie als Marketinginstrument
Die Edelkastanie ist durchaus eine zukunftsträchtige Baumart. Aktuelle Bestrebungen zur Erhaltung der Kastanienkultur sollten nicht nur als konservativer Schutz und statische Erhaltung von Vergangenem betrachtet werden. Sie sollen vermehrt dynamische Erhaltungskonzepte verfolgen, die auf der Entwicklung einer modernen Kastanienkultur und dem Einbezug von Produkteinnovation und Absatzförderung beruhen. Dies erfordert die Koordination aller Aspekte rund um die Edelkastanie und die Zusammenarbeit aller Akteure aus den entsprechenden Bereichen Natur- und Landschaftsschutz, Biodiversitäts- und Artenschutz, Wald- und Holzwirtschaft, Landwirtschaft und Ernährung, Tourismus und Gastronomie.
Abb. 3. Langezeit bildeten Kastanien die Ernährungsgrundlage. Heute kommen verschiedene Kastanienprodukte wieder in Mode. Foto: Thomas Reich (WSL)
Auf der Alpensüdseite hat sich als wichtigstes Produkt der ersten Stunde der Imagegewinn der "Kastanienregionen" im Bereich Tourismus herausgestellt. Die Kastanie weist ein grosses Identifikationsmoment auf und eignet sich deshalb als Marketinginstrument - sei es nun das typische Landschaftsbild, der Erholungswert der landschaftlich schönen und ökologisch wertvollen Selven, ein Kastanien-Themenweg, Kastanien-Menüs oder ein Gastronomiebetrieb "il castagno".
Auch im Bereich der Nahrungsmittelproduktion ist bereits eine beachtliche Eigendynamik zu verzeichnen und es gibt erste regionale Produktelinien mit einer ansehnlichen Palette an Kastanienprodukten. Aber die Produktion hinkt der jährlich steigenden Nachfrage noch weit hinterher. Einen Flaschenhals beim Ausbau der Produktion bildet der fehlende Anreiz zum aufwändigen und kaum rentablen Sammeln der Früchte. Auch regionale Sammelstellen für den Zusammenzug der Kastanien bringen bisher nicht ausreichende Mengen zusammen, um grössere Investitionen in die Rationalisierung von Fruchtverarbeitung und Produkteabsatz zu ermöglichen.