Wälder entlang von Bächen erfüllen häufig mehrere Funktionen: sie stabilisieren Ufer und Einhänge, können für den Naturschutz wichtig sein und werden von Erholungssuchenden besucht. Oft schützen diese Wälder auch vor Naturgefahren: Sie verhindern, dass durch Erosion, Rutschungen, Lawinen und Steinschlag übermässig viel Geschiebe und Schwemmholz (sog. Feststoffe) in Bäche gelangt und weiter unten für Schäden sorgt. Im Wasserschloss Schweiz sind die Gerinneschutzwälder flächenmässig die häufigsten Schutzwälder (etwa 3/4 der Schutzwaldfläche)
Die Kantone schieden ihre Schutzwälder nach einheitlichen Kriterien aus, die im Projekt SilvaProtect-CH festgelegt wurden. Für die Gerinneschutzwälder bestimmten die Kantone dafür die Gewässer, die durch Murgang oder Überschwemmung für Schäden sorgen können. Als Gerinneschutzwälder wurden dann diejenigen Waldflächen ausgeschieden, von denen Feststoffe durch Naturgefahrenprozesse in diese schadenrelevanten Gewässer transportiert werden können. Kein Schutzwald gemäss SilvaProtect ist hingegen Wald, der ausschliesslich den Wasserabfluss günstig beeinflusst ("Hochwasserschutzwald"). Dieser "Hochwasserschutzwald" konnte mit SilvaProtect nicht zufriedenstellend abgegrenzt werden. Auch ist die Wirkung von waldbaulichen Massnahmen auf Abflussspitzen kaum zu beziffern und hängt z.B. von Standortsfaktoren und dem Verlauf eines Niederschlagereignisses ab. Für die Umsetzung der kantonalen Schutzwaldausscheidung war aber wichtig, dass die Gerinneschutzwälder die früheren Hochwasserschutzwälder weitgehend abdecken.
In der Vollzugshilfe für die Schutzwaldpflege NaiS (Nachhaltigkeit und Erfolgskontrolle im Schutzwald) fehlten bislang klare Anforderungen für Schutzwälder entlang von Gerinnen. Das bisherige Anforderungsprofil "Wildbach, Hochwasser" hatte v.a. zum Ziel, den Spitzenabfluss zu vermindern und Schwemmholz zu reduzieren. Die übrigen Naturgefahrenprozesse wurden nur am Rande berücksichtigt.
Aus der Praxis kam daher der Wunsch, das Anforderungsprofil zu überarbeiten und dabei auch die Zusammenarbeit zwischen Wald- und Wasserbauverantwortlichen zu stärken.
Das Bundesamt für Umwelt (BAFU) arbeitete dabei eng mit den wichtigsten Partnern – Kantone, Vertreter der Wissenschaft, Bildungsinstitutionen und Schweizerische Gebirgswaldpflegegruppe GWG - zusammen. Das erarbeitete Anforderungsprofil "Gerinneprozesse" (2021, PDF) ersetzt das bisherige Kapitel "Wildbach, Hochwasser" im NaiS-Anhang 1.
Das neue Anforderunsprofil wurde auch an die Schutzwaldausscheidung nach SilvaProtect angepasst: Gerinneschutzwälder schützen v.a. vor Geschiebe- und Schwemmholzeintrag in schadenrelevante Bäche. Auf diese Funktion sind die Anforderungen ausgerichtet. Das Profil beinhaltet Anforderungen an den Deckungsgrad, die Lückengrösse, die Lückenlänge und die Stabilität.
Unterschiedliche Anforderungen
In Gerinneschutzwäldern existieren zwei Zonen mit unterschiedlichen Anforderungen an die Schutzwaldpflege: Der Abflussbereich von Murgang/Hochwasser (Zone 1, s. Abb. 2) und der Gerinnehang (Zone 2, s. Abb. 2). Die Grenzen zwischen den beiden Zonen bildet die Hochwasser- bzw. Murganglinie bei einem Extremereignis. Je nach Situation existiert ein unterschiedlich grosser Übergangsbereich zwischen den zwei Zonen.
Zone 1: Schützen oder schaden Bäume?
In Zone 1 werden durch Murgänge oder Hochwasser Geschiebe und Schwemmholz Richtung Siedlungsgebiet transportiert. Die Wirkung von Bäumen ist in dieser Zone je nach Situation sehr unterschiedlich. Beim Wildbach (Drostobel) in Abbildung 3 (links) kann ein Murgang auch stabile Bäume mitreissen und dadurch seine Zerstörungskraft vergrössern. Entlang des eher schmalen, flach verlaufenden Schmittenbachs hingegen können stabile, starke Bäume vor Ufererosion schützen.
In der einen Situation verbessern Bäume in Zone 1 den Schutz vor Naturgefahren, in der anderen erhöhen die Bäume das Risiko für das Schadenpotenzial noch zusätzlich. Dementsprechend unterscheiden sich auch die Zielsetzungen für die Schutzwaldpflege deutlich. Entscheidend für die waldbauliche Zielsetzung ist zudem die Wahrscheinlichkeit, dass Geschiebe und Holz von einer Eingriffsfläche zu Schäden führen können. Beispielsweise kann ein Baum an einer Brücke verklausen und so dafür sorgen, dass Siedlungsgebiete überschwemmt werden. Bei der Brücke in Abbildung 3 (rechts) können bei Hochwasser bereits kürzere Stämme und Wurzelstöcke verklausen und für Schäden sorgen, während bei einer höheren Brücke kaum ein schadenrelevante Verklausungsgefahr besteht. Entsprechend unterscheiden sich die waldbaulichen Ziele.
Vielleicht liegt zwischen der Eingriffsfläche und der Brücke eine Flachstelle oder ein Bachabschnitt mit rauer Sohle durch grobe Blöcke, an welchen Schwemmholz bei Hochwasser abgelagert würde (s. Abb. 4). Dann gefährdet dieses Holz die Sicherheit der Siedlung nicht unmittelbar. Es genügt bei Massnahmen im Gerinneschutzwald darum nicht, nur die Eingriffsfläche zu betrachten. Um sinnvolle Massnahmen festzulegen, muss die ganze Prozesskette von der Eingriffsfläche bis zum möglichen Ort der Gefährdung berücksichtigt werden.
Diese Beispiele zeigen, dass NaiS für die Zone 1 keine allgemein gültigen Anforderungen an den Schutzwald festgelegt werden können. Dafür sind die Eigenschaften der Einzugsgebiete zu unterschiedlich. Die Anforderungen an den Schutzwald in der Zone 1 müssen darum jeweils lokal festgelegt werden. Damit dies gelingt, sind nebst waldbaulichen Fachkenntnissen jene von Wasserbau- bzw. Naturgefahrensituation und den Prozessen in Bächen und haben in vielen Kantonen auch die Aufsicht über Gewässer, Forst- und Wasserbauverantwortlichen beurteilen darum gemeinsam das Gerinne und legen im Abflussbereich von Murgang und Hochwasser (Zone 1) die waldbaulichen Ziele fest. Dabei werden die Naturgefahrensituation im Einzugsgebiet, Gewässereigenschaften, die Vegetationswirkung und Standortsanforderungen berücksichtigt. Wenn weitere Interessen bestehen, wie z.B. von Seiten des Naturschutzes oder der Fischerei, sollen diese in die Entscheidungen einfliessen.
In welcher Form die Zusammenarbeit zwischen Wasserbau- und Waldverantwortlichen erfolgt, legt jeder Kanton eigenständig fest und hängt von der jeweiligen administrativen Struktur ab. Im neu publizierten NaiS-Kapitel zum Anforderungprofil finden sich wertvolle Hinweise zu diesen Aspekten. Die relevanten Punkte wurden zudem in einer Checkliste (Tabelle 2 in PDF) zusammengefasst, welche die Praxis bei der Herleitung der Waldbaulichen Massnahmen unterstützt.
Da für die Zone 1 in NaiS keine allgemein gültigen Minimal- und Idealprofile definiert werden können, kann die Herleitung des Handlungsbedarfs auch nicht mit dem üblichen NaiS-Formular 2 erfolgen. Wie im restlichen Schutzwald muss die Herleitung des Handlungsbedarfs jedoch nachvollziehbar sein und dokumentiert werden. Wie das umgesetzt wird, ist grundsätzlich den Kantonen überlassen. Auf der Webseite nais-form2.ch steht aber eine Möglichkeit zur Verfügung.
Weniger Material aus den Einhängen
Schutzwälder in Gerinneeinhängen haben die Aufgabe, den Materialeintrag in Bäche zu verringern. Dadurch wird bei einem Murgang oder bei Hochwasser weniger Geschiebe- bzw. Schwemmholz transportiert, was das Risiko für das Schadenpotential reduziert.
Geschiebe und Holz werden am häufigsten durch Rutschungen und Erosion in die Bäche transportiert (s. Abb. 5). In höheren Lagen kommt der Holzeintrag durch Lawinen dazu. Steinschlag ist nur in seltenen Fällen der dominante Geschiebelieferant. Häufig überlagern sich in Gerinneeinhängen mehrere Naturgefahrenprozesse. Es ist daher in der Praxis oft schwierig, den ausschlaggebenden Naturgefahrenprozess auf einer Eingriffsfläche zu bestimmen.
Um das Anforderungsprofil "Gerinneprozesse" praxisgerecht zu gestalten, wurden die bestehenden Anforderungsprofile "Rutschungen, Erosion, Murgänge" und "Lawinen" kombiniert und auch neue Forschungsergebnisse miteinbezogen: Lücken sollen nicht zu gross ausfallen und eine bestimmte Länge in Falllinie nicht überschreiten. So können die Wurzeln den Boden verstärken, Erosion vermindert und Lawinenanrisse verhindert werden. Ein minimaler Deckungsgrad stellt die Wurzelverstärkung über die Fläche sicher und stört einen gleichmässigen Schneedeckenaufbau. Wie bei den anderen Anforderungsprofilen gelten natürlich auch die Anforderungen gemäss Standort. Dies dient dazu, die Schutzwaldpflege an die standörtlichen Verhältnisse anzupassen und die Schutzwirkung nachhaltig und naturnah sicherzustellen.
Wälder wirken sich auch immer auf den Wasserkreislauf aus. Je nach Situation können sie das Wasserspeicherungsvermögen verbessern. Diese Wirkung des Waldes soll auch Gerinnehängen genutzt werden. Die Anforderungen, sie sich daraus ergeben, decken sich grundsätzlich mit jenen aufgrund der Naturgefahren Rutschungen und Lawinen: Grössere Lücken sind zu vermeiden, und ein stufiger, baumartenreicher Bestand fördert eine intensive Durchwurzelung des Bodens. Mit den Anforderungen des Profils "Gerinneprozesse" wird damit gleichzeitig auch die Hydrologische Wirkung der Wälder sichergestellt und gefördert.
Verhältnismässigkeit im Gerinneschutzwald
Im Gerinneschutzwald ist es besonders wichtig, die Verhältnismässigkeit von Massnahmen sorgfältig zu beurteilen und dabei die "Eigenheiten" von Gerinneschutzwäldern zu berücksichtigen. Dazu gehört auch die Beurteilung, inwieweit von der Eingriffsfläche tatsächlich eine Gefahr für das Schadpotential ausgeht. Je nach Situation kann ein Eingriff auch unverhältnismässig sein. Beispielsweise dann, wenn die Massnahmen teuer sind und Prozesse auf der Eingriffsfläche das Schadpotenzial nur wenig gefährden.
Um dies zu beurteilen, ist auch bei Eingriffen in der Zone 2 eine Beurteilung der Prozessketten und Naturgefahrensituation über das ganze Einzugsgebiet notwendig. Der Detaillierungsgrad dieser Beurteilung ist jedoch der jeweiligen Situation anzupassen. Diese Aspekte sind auch wichtig bei der Priorisierung von Massnahmen im Gerinneschutzwald.