Abstieg. Nach der Rast am Gipfel geht es jetzt runter ins Tal. Noch kurz ein Blick auf die Siedlung im Tal, die Landesstraße, die weiter im Talboden die Nebenbahngleise kreuzt. Diese ganze Infrastruktur profitiert von dem bewaldeten Hang, der oberhalb liegt. Genannt Schutzwald. In Fachkreisen wird zwischen Objekt- und Standortsschutzwald unterschieden. Objektschutzwald schützt Menschen und deren Siedlungen, Infrastruktur oder kultivierten Boden vor Gefahren wie Lawinen, Steinschlag, Rutschungen und Hochwasser. Standortschutzwälder sind Wälder, deren Standorte durch abtragende Kräfte von Wind, Wasser oder Schwerkraft gefährdet sind. Fast jede vierte Österreicherin bzw. jeder vierte Österreicher profitiert von der Schutzwirkung des Waldes.
Der Wanderpfad führt über die Almfläche zwischen Latschenfeldern durch und mündet in einen geschlossenen Nadelwald mit Fichten, Tannen und Zirben. Solche Schutzwälder verhindern gerade in den höheren, schneereichen und steilen Lagen der Alpen den Anbruch von Lawinen. Schnee, der auf die Baumkronen fällt, verdunstet zum einen dort, zum anderen fällt er ungleich verteilt hinunter, was den schichtweisen Aufbau der Schneedecke und die Bildung von störungsanfälligen Schwachschichten verhindert. Ausgangspunkt für Schneebretter etwa.
Und in einem beschränktem Ausmaß kann er auch kleinere und mittlere Lawinen, die durch den Wald fließen, selbst bremsen oder sogar stoppen. Sind ausreichend genug Baumstämme vorhanden, behindern sie die Gleitbewegung der Schneedecke. Die Schneemasse wird hinter dichten Baumgruppen gestoppt und sozusagen aus der Lawine „entfernt“. Ebenso wirken stammzahlreichere Laub- und Mischwaldbestände. Lawinen mit Geschwindigkeiten von mehr als 140 km/h übersteigen jedoch die Schutzkapazitäten des Waldes deutlich.
Kurze Rast an einem Übergang über eine Geröllrinne: Jetzt fließt nur ein kleiner Bach hinunter, man möchte es sich gar nicht ausmalen, wie sich hier im Frühling ein Sturzbach verhält. Recht früh erkannten die Menschen die Wirkung von Waldvegetation auf Hochwässer: Im Zuge der großflächigen Abholzung für die Eisenverhüttung und die Holzkohlenherstellung kam es vermehrt zu Überschwemmungen. Recht rasch wurde vielen klar, dass das mit der abgesenkten Waldgrenze und dem gering bewaldeten Wildbacheinzugsgebiet zusammenhängt.
Schutzwälder können vor allem die Hochwasserspitzen dämpfen: Je nach Baumart werden zwischen 4 und 6 mm je Niederschlagsereignis im Kronenraum zurückgehalten. Viel wichtiger ist jedoch: Bei Starkregen werden die mit hoher Geschwindigkeit auftreffenden Tropfen dosiert über das Kronendach, die Strauchschicht, Bodenvegetation und Humusauflage in den Boden abgeleitet. Ein großer Teil des Niederschlages sickert insbesondere bei Baumarten mit Stammablauf entlang der Wurzeln in den Boden ein.
Gefährlich ist die Kombination hohe Niederschlagsmenge, hohe Vorfeuchte und hoher Zwischenabfluss, denn dann kann jedoch auch für Waldstandorte eineÜberlastungssituation entstehen. In solchen Fällen nähert sich das Abflussverhalten von Waldflächen jenem der umgebenden waldfreien Bereiche an.
Nicht mehr weit ins Tal: Die Landesstraße ist schon in Sicht, noch eine Querung – und jetzt rutscht doch dieser Stein ab und überschlägt sich mehrmals, trifft auf einen Baumstamm, wird pingpongmäßig zwischen weiteren Stämmen hin und her gespielt, bis er von einem querliegendem Totholzbaum gestoppt wird.
Wälder können Steine aufhalten, aber nicht unbegrenzt. Sie reduzieren die Ausbreitung und die Intensität von Steinschlag, da Stöße auf Bäume und Baumstämme entlang der Strecke kinetische Energie abbauen und Steine von den Stämmen erfasst werden. Rund 13 % des österreichischen Waldes (440.000 ha) haben nach Berechnungen des Bundesforschungszentrums für Wald eine Schutzfunktion bei Steinschlag. Wälder widerstehen allerdings nicht großen Gesteinsmassen in Bewegung. Ab diesem Punkt kommen technische Verbauungen wie Netze und Dämme zum Einsatz.
Bäume reduzieren die Ausbreitung und die Intensität von Steinschlag. Foto: BFW
Herausforderungen hier und jetzt
Inzwischen im Dorf angekommen, den kurzen Weg rüber zur Bahnstation gegangen und jetzt sonnt man sich auf der Bank. Mit dem Blick auf den gerade durchquerten Schutzwald. Sinnierend: Wie wird es hier in hundert Jahren aussehen? Was sind die Herausforderungen der Zukunft für den Wald? Die Zukunft ist bereits in der Gegenwart angekommen: Mitte September 2021 haben Expert*innen der Landesforstdienst Kärnten und Tirol auf gravierende Borkenkäferprobleme im Schutzwald aufmerksam gemacht. Der warme Herbst und die Trockenheit führten dazu, dass sich die Borkenkäferplage im Mölltal und im Lesachtal ausbreitete. Durch die Klimaerwärmung ist der Buchdrucker bereits bis in Höhenlagen von 1700 m Seehöhe vorgedrungen, 600 ha Schutzwald sind betroffen.
„Es sind wertvolle Objektschutzwälder, die jetzt vom Borkenkäfer befallen sind und drohen abzusterben. Damit geht auch die Schutzwirkung vor Steinschlag, Muren oder Lawinen für Siedlungen und Infrastruktur verloren“, sagt Jan-Thomas Fischer vom Institut für Naturgefahren des BFW. Und weiter: „Gar nicht zu reden von häufigeren Waldbränden, die uns drohen.“
Klimaerwärmung fördert Waldbrände
Reden wir doch darüber: In sonnseitigen Hanglagen ist auch mit häufigeren Waldbränden zu rechnen. Die Bilder von den Löscheinsätzen beim Waldbrand in der Nähe von Hirschwang an der Rax sind noch vielen im Gedächtnis. Das könnte künftig häufiger vorkommen. Derzeit treten in Österreich etwa 250 Waldbrände pro Jahr auf, mit einem Schwerpunkt im Frühjahr und Hochsommer. 85 % aller Waldbrände werden direkt oder indirekt durch den Menschen ausgelöst. Als häufigste Brandursachen gelten weggeworfene Zigaretten, Lagerfeuer, ausgebrachte heiße Asche und Brandstiftung. 15 % der jährlichen Waldbrände in Österreich werden durch Blitzschläge ausgelöst.
Baumartenvielfalt erhöhen
Um Waldökosystemleistungen nachhaltig zu sichern, insbesondere die Schutzwirkung gegen Naturgefahren, den Erhalt der Biodiversität sowie den Wasserrückhalt, wird es notwendig sein, den Mischbaumartenanteil von Lärche, Tanne, Buche, Bergahorn, Bergulme, Esche, Weißkiefer, Eberesche und Birke zu erhöhen.
Jetzt kommt das Wild ins Spiel: Die verzögerte Wiederbewaldung im Schutzwald stellt vielerorts ein großes Problem dar. Viele Schutzwälder weisen eine mangelhafte Waldverjüngung auf, das belegen die Auswertungen der österreichischen Waldinventur: Auf etwa der Hälfte der verjüngungsnotwendigen Schutzwaldfläche ist keine Verjüngung vorhanden und nur auf etwa 30 % der Schutzwaldflächen mit notwendiger und vorhandener Verjüngung wird kein Wildschaden ausgewiesen.
Schutzwälder werden zunehmend vom Schalenwild (Rot-, Reh- und Gamswild) auch als Rückzugsgebiete genutzt. Die ohnehin hohen Schalenwildbestände weichen immer öfter in die für Menschen schwer zugänglichen und damit relativ ruhigen Schutzwaldbereiche aus; sei es, um dem Jagddruck oder der zunehmenden Störung durch die Freizeitgesellschaft zu entgehen. Auf den oft seichtgründigen, steilen oder vergrasten Schutzwaldstandorten wird das Aufkommen von Verjüngung durch den Wildeinfluss stark verzögert oder zum Teil ganz verhindert. Die Problemlösung im Schutzwald erfordert daher eine umfassende Betrachtung und Abstimmung der Sektoren Wildbach und Lawinenverbauung, Forst, Jagd, Landwirtschaft, Freizeit/Tourismus sowie Siedlung/Gewerbe und Infrastruktur im gesamten „Wild-Einzugsgebiet“ des betreffenden Schutzwaldes.
Herausforderungen im Alpenraum
Zentrale Probleme für den Schutzwald entstehen aus der verstärkten Freizeitnutzung des Schutzwaldes. Foto: BFW
Eine Gruppe Mountainbiker*innen quietscht sich bei der Bahnstation ein. 2017 wurden in Österreich über 100 000 Mountainbikes verkauft, davon waren 67 000 E-Mountainbikes. 700 000 Menschen sind in Österreich mit Tourenskiern unterwegs. In Zeiten von Corona vergrößerte sich dieser Personenkreis. Zentrale Probleme für den Schutzwald entstehen aus der verstärkten Freizeitnutzung des Schutzwaldes sowie ungelösten Nutzungskonflikten.
Die Herausforderungen im Alpenraum sind beachtlich: Begrenzung des Siedlungsraums, steigende Kosten für den Schutz von Infrastruktur, Konflikte aufgrund steigender Anforderungen und Erwartungen. Ohne eine angemessene, spezifische Umsetzung von national und international abgestimmten Schutzwaldstrategien mit einem entsprechenden Naturgefahrenmanagement wird eine nachhaltige Entwicklung im Alpenraum schwer zu erreichen sein.
Diesen aktuellen Aufgaben stellte sich auch das Forschungsprojekt „GreenRisk4Alps“, in welchem Methoden und Werkzeuge zum Schutzwald- und Naturgefahrenmanagement entwickelt wurden. Ein Beispiel ist ein webbasiertes Risikomodell, das ermöglicht, Kosten und Nutzen von Schutzwäldern für Naturgefahren mit technischen Maßnahmen und Vermeidungsstrategien in einem ausgewählten Gefahrengebiet zu vergleichen. Neben diesen Werkzeugen bieten neue Schutzwaldhandbücher die Basis für Handlungsanleitungen und einen Blick in das aktuelle Wissen rund um Schutzwald- und Naturgefahrenmanagement.
Der Regionalzug fährt ein. Ein letzter besorgter Blick zurück auf die gegangene Route. Abfahrt.