Im Dezember 1999 hat der Orkan Lothar im Kanton Aargau grosse Verwüstungen im Wald verursacht: auf über 3500 ha oder 7% der Waldfläche fielen 1,3 Mio. m3 Sturmholz an. Hektisch war es damals. Zehn Jahre nach Lothar, ist es ruhiger geworden. Der junge Wald auf den Sturmflächen überragt den Förster schon deutlich. "Was bedeutet dieser Sturm für Rehe, Jagd und Wald?", wollten betroffene Jäger und Förster wissen und schauten selber genauer hin. 

Wie gedeihen die jungen Bäume auf den Sturmflächen? Wie entwickelt sich der Verbiss durch Rehe? Was bewirken die forstlichen und jagdlichen Massnah­men? Wie entwickelt sich der Rehbestand? Um diese und weitere Fragen zu klären – Bund und Kanton haben die Wiederbewaldung schliesslich mit 19 Mio. Franken unterstützt – hat die Abteilung Wald des Kantons Aargau im Jahr 2002 ihre Untersuchungen gestartet. Bis 2009 wurden die Rehe und der junge Wald in Seengen, Staffelbach und Wettingen durch die Jäger und Förster beobachtet, um zehn Jahre nach dem Sturm Lothar, eine Bilanz ziehen zu können.

Der junge Wald wächst schnell und ist vielfältig

Die jungen Bäume in den untersuchten Sturmflächen wachsen schnell. Insbeson­dere jene, welche nach Lothar nicht erst ansamen mussten, sondern gleich in die Höhe schiessen konnten, weil sie sich bereits über Jahre vor dem Sturm ansie­delten. Lothar hat ans Licht geholt, was vorher dank Förstern und Jägern ansamen, wachsen und im Schatten überdauern konnte, ohne übermässig verbissen zu werden.

Die jungen Bäume, welche häufig übersehen werden, hatten bereits ein ausgebildetes Wurzelwerk, als Lothar über die Wälder hereinbrach. Sie setzten sich bestens gegen die übrige Vegetation durch und hatten auch den notwendigen Vorsprung gegenüber den Rehbeständen. Es handelt sich vorwie­gend um in der Jugend Schatten ertra­gende Baumarten. Bereits 2005 war der junge Wald in Sarmenstorf, Seengen, Wettingen und Zeiningen dem Äser des Rehs entwachsen. In Staffelbach ist es standortbedingt etwas langsamer gelaufen, weil dort der Boden saurer ist.

Diejenigen Baumarten, welche in der Verjüngung unter Schirm fehlten – sei es wegen Lichtmangel oder weil eine üppige Konkurrenzvegetation zum Bei­spiel Brombeeren sie verhinderte – sind auch nachher im Jungwald auf den Sturmflächen nur spärlich zu finden. Es sind dies vornehmlich lichtbedürftige Baumarten wie Eichen, Kirschen, Föhren, Lärchen. Sollen sie im künftigen Bestand eine Rolle spielen, so braucht es die Ergänzung durch Pflanzungen, allenfalls mit Schutzmassnahmen.

Abschuss steigt und der Verbiss nimmt ab

Die tatsächliche Jagdstrecke hat nach Lothar zugenommen, von 4'657 Rehen im Jagdjahr 1999/2000 auf 5'189 im Jagdjahr 2003/2004. Als Nebeneffekt hat das Fallwild in derselben Zeit um 261 Tiere abgenommen. Anschliessend hat sich die kantonale Strecke bei rund 5'000 Rehen pro Jahr konsolidiert. Die jagdliche Zielsetzung wurde also über­troffen.

In den untersuchten Gebieten Seen­gen, Staffelbach und Wettingen beträgt der Abschuss von 1999 bis 2009 durch­schnittlich 13 bis 15 Rehe pro 100 ha Wald und Jahr, was gesamtschweizerisch hohe Werte sind. 50 bis 60% wurden im Wald, 10% in den Sturmflächen und 30 bis 40% ausserhalb des Waldes er­legt. In Seengen hat der Abschuss um 19% zugenommen, in Wettingen liegt ebenfalls eine Zunahme vor. An beiden Orten konnten Abnahmen des Ver­bisses sowohl in den Sturmflächen wie im umliegenden Wald gemessen werden. Er ist hier auf ein tiefes Niveau von 2% und 4% gesunken, bei nach wie vor hohen Jagdstrecken. In Staffelbach verläuft die Entwicklung anders. Hier ist der Abschuss auf hohem Niveau konstant geblieben. Der Verbiss pendelte lange um 10%, ohne klare Entwicklungsrichtung. Ursprünglich war er der tiefste der drei Vergleichsgebiete, heute ist er deutlich grösser als in Seen­gen und Wettingen. Ähnliche Ergebnisse liegen auch aus anderen Sturmgebieten im Schweizeri­schen Mittelland vor. Mit einem zuneh­menden Abschuss kann der Verbiss an jungen Bäumen genügend gesenkt wer­den. Der Rehbestand selber bleibt trotz­dem so produktiv, dass anhaltend hohe Jagdstrecken erzielt werden können.

Hat der Kanton Aargau ein Tannenproblem?

Der Verbiss liegt bei den meisten Baumarten unter den kritischen Grenzwerten. Diese Baumarten entwickeln sich gut. Bei Tanne ist er oft über dem Grenzwert. Diese Baumart kann sich verbissbedingt nur ungenügend entwickeln. Sie samt wohl gut an und ist auch in der Kraut­schicht noch gut verbreitet. Sie bleibt aber dort, wird seltener und kann ge­bietsweise kaum aufwachsen. Lediglich Teilgebiete mit weniger Verbiss oder überdurchschnittlich guten Bedingungen für Tanne zeigen grössere Tannenanteile im Aufwuchs. Dort, wo die Tanne wichtig ist, sind solche Alarmsignale ernst zu nehmen.

Unsichtbare Rehe können nicht gezählt werden

Anhand der Kilometertransekte wurde versucht, die Rehbestandesentwicklung zu ermitteln. Die Jagdpächter gingen auf vorgängig festgelegten Strecken mehr­mals zu Fuss zum Zeitpunkt der Kirsch­baumblüte und notierten die Anzahl der beobachteten Rehe. Dabei wurden pro Jahr bis zu 350 km Aufnahmestrecken abgelaufen. Die Resultate schwankten von Jahr zu Jahr sehr stark. Zufallssituationen, Wetter usw. hatten grossen Ein­fluss. Auf den Sturmflächen finden Rehe Äsung und Deckung auf kleinem Raum. Sie müssen sich wenig bewegen und sind dadurch für den Beobachter unsichtbar und können kaum mehr gezählt werden. Nicht einmal die erhofften zuverlässigen Trends liessen sich unter den konkreten Verhältnissen in den fünf Untersuchungs­gebieten herleiten.

Die Hypothese, dass Sturmflächen zu Verlagerungen des Rehbestandes führen, kann mit den vorliegenden Untersuchun­gen – methodik- oder naturbedingt – nicht klar bestätigt werden. Massive Bestandeszunahmen scheinen in den untersuchten Sturmgebieten jedoch nicht stattgefunden zu haben, keine der unter­suchten Grössen weist in diese Richtung. Der Anteil der Sturmflächen an der Gesamtwaldfläche scheint zu klein und die Güte des übrigen Waldes als Rehbiotop zu hoch zu sein, als dass die Sturmflächen starke Lebensraumveränderungen für das Rehwild bedeuten würden.

Freihalteflächen

In Sturmgebieten ab zwei Hektar Grösse mussten Freihalteflächen ange­legt werden. Diese sind in der Regel zwi­schen 10 bis 50 Aren gross und werden einmal jährlich gemäht. All­mählich werden sie zu Waldwiesen und ver­bessern den Lebensraum. Zum einen kön­nen die Rehe innerhalb des Waldes austreten und finden Äsung. Zum anderen sind offene Flächen im Wald aber auch Wärmeinseln mit einem geschützten, milden Klima und oft einer speziellen Artenpalette. Profitieren davon können zahlreiche Tagfalter-, Heuschre­cken-und Vogelarten. Gleichzeitig helfen Freihalteflächen, die Rehe besser bejagen zu können.

Sollen Freihalteflächen zur Steigerung der jagdlichen Effizienz beitragen, so müssen sie mit Hochsitzen und Pirschwegen ausgestattet und konsequent in den Jagdbetrieb integriert werden.

In den beteiligten Jagdrevieren wurden die Freihalteflächen vorbildlich angelegt und unterhalten. Die Rehe haben sie an allen Orten angenommen. Verbissspuren entlang der Ränder, aber auch Setz-und Liegeplätze innerhalb sind vorhanden. Zur Bereicherung des Lebensraumes Wald sind die Freihalteflächen von Anfang an wirksam.

Auch die Hypothese, dass mit dem Aufwachsen des jungen Waldes auf Sturmflächen die Freihalteflächen für die Jagd wichtiger werden, kann bestätigt werden. Ob die Freihalteflächen für die Jagd eine entscheidende Bedeutung er­langen, hängt aber vor allem von den Jagdzielen und vom praktizierten Jagdbetrieb ab. Die Ansitzjagd im Wald wird in jedem Fall durch Freihalteflächen er­leichtert. Je grösser zusammenhängende Waldgebiete sind, desto bedeutender werden Freihalteflächen im Waldesinnern für den Jagdbetrieb. Wo dem Rehwild in der Nähe der Sturmflächen andere, "tra­ditionelle" und den Jägern seit Langem bekannte Austrittsmöglichkeiten zur Ver­fügung stehen, nutzten die Jäger diese für den Ansitz statt der Freihalteflächen. Wer aber jagt die Rehe, welche sich ganz­jährig im Wald aufhalten?

Ebenso ist der Aufwand für die jährliche Pflege nicht zu unterschätzen. Obwohl sie mit genügenden finanziellen Abgeltungen sichergestellt werden kann, werden in allen drei Revieren vorläufig keine weiteren Freihalteflächen mehr er­stellt.

Jagdstrategie: ein erhöhter jagdlicher Eingriff und eine klare Führung der Jäger durch den Jagdleiter

Weil Rehe in den Sturmflächen sehr schnell Deckung finden und ihr Bestand meist unterschätzt wird, soll in der ersten Jagdzeit unmittelbar nach dem Sturmereignis der Abschuss erhöht werden, mindestens so lange, bis die Verjüngungskontrolle Ergebnisse liefert.

Später leitet sich der erforderliche Jagddruck vornehmlich aus den jährlichen Verbisskontrollen ab, während "Wildzählungen" kaum stichhaltige Ab­schusspläne begründen können.

Wird diese Strategie beharrlich genü­gend lange vollzogen, nimmt der Verbiss sowohl in den Sturmflächen wie im um­liegenden Wald ab. Das zeigen die Bei­spiele von Seengen und Wettingen. Noch mehr: Auch bei anhaltend tiefem Verbiss kann die Jagdstrecke hoch behalten wer­den.

Die Freihalteflächen, versehen mit Hochsitzen, können ein wichtiges Instru­ment zur Ansitzjagd im Wald sein, wenn sie konsequent in den Jagdbetrieb integ­riert werden und in den Sturmflächen eine Schwerpunktbejagung praktiziert wird.

In Seengen ist es ein erklärtes Ziel des Jagdleiters, dass die Jäger innerhalb der Sturmflächen und in den Freihalte- flächen Abschüsse tätigen und dass sie die Jagd in den Sturmflächen konzentrieren. Sie gehen schon ab 1. Mai auf die Ansitzjagd innerhalb des Waldes, können auf den Freihalteflächen die Rehe in Ruhe anspre­chen und hier den Sommerbock und die Schmalrehe erlegen. Auch auf der Gesell­schaftsjagd werden Abschüsse auf Frei­halteflächen erzielt. Insgesamt fällt rund ein Zehntel der gesamten Strecke auf Freihalteflächen an, die Tendenz ist mit dem Aufwachsen des jungen Waldes zu­nehmend.

Enge Zusammenarbeit von Jäger, Förster und Waldeigentümer

Die Wiederbewaldungsstrategie des Kantons Aargau, auf Naturverjüngung zu setzen und nur ausnahmsweise mit er­gänzenden Pflanzungen zu arbeiten, ist aufgegangen und hat sich bewährt. Sie funktioniert dann gut, wenn Förster, Jäger und Waldeigentümer eng zusam­menarbeiten, wenn der Förster im Wald auf eine starke Holzerei setzt und genü­gend Licht auf den Waldboden bringt, so dass die Verjüngung anwachsen und verweilen kann und die Jäger für eine kräftige und ausgewogene Bejagung sor­gen.

Was ist nach dem Sturm alles anders?

Der Orkan Lothar hat eine neue Ausgangssituation geschaffen. Vorerst dadurch, dass heute auf 3500 ha ehema­liger Sturmfläche oder 7% der Aargauer Waldfläche ein artenreicher Jungwald zu finden ist.

Anders ist heute, dass das Reh im Aus­tritt weniger sichtbar ist, sondern sich vermehrt in den deckungsreichen Wäl­dern aufhält. Selbst Trends der Bestan­desentwicklung sind beim Reh schwierig zu ermitteln. Ihre Bedeutung für die Jagdplanung sinkt zugunsten von Lebensraummerkmalen, wie sie die Verjün­gungskontrolle mit Informationen zu Verjüngung und Verbiss liefert. Die Erfah­rungen in den untersuchten Gebieten zeigen, dass objektiv erhobene und reproduzierbare Informationen zur Ver­bisssituation zur Planung einer nachhalti­gen Jagd sehr wichtig sind.

Lothar ermöglichte es auch, im Be­reich von Wald und Wildtieren neue Wege anzugehen. Er ist deshalb weniger wegen der Grösse der Sturmflächen be­deutend, sondern weil er neue Strategien zu Wald und Wild erproben liess, zu neuen Wegen motivierte und den Voll­zug von aktiven Massnahmen erleich­terte. Den Abschuss zu erhöhen, verstärkt die Ansitzjagd im Wald zu praktizieren, mit Freihalteflächen und Hochsitzen die entsprechende Infrastruktur zu schaffen und damit den Verbiss und das Fallwild zu reduzieren und trotzdem anhaltend hohe Jagdstrecken zu erzielen. Der Sturm hat also denjenigen Jägern und Förstern den Rücken gestärkt, welche in guter Zu­sammen-
arbeit auf ihr eigenes Handwerk vertrauen: auf eine starke Jagd und Hol­zerei.

Die Ausgangslage/Strategie des Kantons Aargau

Die Förderung der natürlichen Verjüngung, punktuell ergänzt mit Pflanzungen standortgerechter Baumarten, stand im Zentrum. Flächige Anpflanzungen wurden nur unterstützt, wo aufgrund des Vorgängerbestandes mit erheblichen Verjüngungsschwierigkeiten gerechnet werden musste und wo standortfremde Bestände durch Pflanzungen in naturnahe Bestände umgewandelt werden sollten oder zur Begründung von Eichenbeständen. Dazu schloss die Abteilung Wald mit den Waldeigentümern Vereinbarungen ab. Insgesamt wurden die Wiederbewaldungsmassnahmen mit Fr. 19 Mio. unterstützt.

Rehe haben einen erheblichen Einfluss auf Qualität und Tempo der Waldverjüngung. Befriedigende Resultate sind nur möglich, wenn die Jäger, Förster und Waldeigentümer eng zusammenarbeiten. Im Herbst 2001 wurden Weiterbildungstage für Jäger, Förster und Waldeigentümer angeboten, in welchen Zusammenhänge zwischen Waldverjüngung, Rehwilddichte und Bejagung aufgezeigt und jagdliche und forstliche Massnahmen vorgestellt und diskutiert wurden.

Den Bezirksjagdkommissionen und den Jagdgesellschaften wurden für die Abschussplanung 2002 folgende Ziele gesetzt:

  • Die Jagdstrecke in sturmschadenfreien Jagdrevieren beibehalten oder allenfalls erhöhen.
  • Die Jagdstrecke in sturmgeschädigten Jagdrevieren um 10 bis 15% erhöhen.
  • Erhöhung der kantonalen Strecke um ca. 500 Rehe auf 5100 Tiere (ohne Fallwild) pro Jahr.
  • In den Sturmgebieten soll eine Schwerpunktbejagung in Intervallen betrieben werden.