Es ist wie im Märchen. Der Schein trügt. Jemand ist verzaubert, im Grunde aber ein ganz anderer. Wer den Borkenkäfer so sieht, würde nicht vermuten, dass dieses kleine unscheinbare Käferchen die Macht hat tausende Hektar Wald radikal umzugestalten. Diese Macht aber macht ihn für viele Waldbesitzer zum Monster, zum Biest, das es zu bekämpfen gilt. Der Schöne jedoch ist der, der gegen ihn in die Schlacht zieht. Je schrecklicher das Biest, desto schöner erscheint der Schöne, der strahlende Ritter, der sich gegen den Drachen wendet. Für den Drachen, ich meine den kleinen Käfer, sieht die Welt natürlich gerade andersrum aus: Die Monster sind die, die ihm nachstellen und Böses wollen. Ein tödlicher Konflikt. Wer wagt da an ein Happy End zu denken?
Nur eine Schlacht im Krieg
Wenn wir diesen Konflikt etwas genauer betrachten, zeigt sich, dass es sich hier nur um eine Schlacht in einem weitaus größeren Krieg handelt, der schon seit Jahrtausenden wütet. Der französische Philosoph Michel Serres sieht Mensch und Natur in einen Konflikt verwickelt, der beide bedroht und beider Überleben gefährdet. Mensch und Natur befinden sich in einer Situation, die analog zur Geburtsstunde der menschlichen Gesellschaft zu denken ist. Im Urzustand ohne Recht und Gesetz bedrohte jeder Mensch den anderen. "Homo homini lupus. Der Mensch ist des Menschen Wolf.", sagte Thomas Hobbes, der das in den schrecklichen Bürgerkriegen seiner Zeit erfahren musste. Über einen fiktiven Vertrag, den Gesellschaftsvertrag, wird Frieden vereinbart und das Recht Gewalt anzuwenden an eine übergeordnete Instanz abgegeben, den Staat. Michel Serres fordert nun einen zweiten fiktiven Vertrag, diesmal zwischen Natur und Mensch, den er in Anlehnung an den Gesellschaftsvertrag, Naturvertrag nennt.
Der Mensch nimmt von der Natur was er braucht und gestaltet sie um. Nicht immer ist das, was er ihr antut gewollt. Dennoch geschieht es. Die Natur aber ist nicht machtlos. Sie kann sich gegen Verschmutzung und Übernutzung wehren. Das vergiftete Wasser vergiftet die Menschen. Die Klimaveränderung lässt die Meere steigen und überflutet die Küsten. Die Wüsten greifen sich die produktiven Böden der Bauern. Der Borkenkäfer frisst sich durch die Fichtenforste. In diesem Sinne ist der Borkenkäfer eine Lanzenspitze der Natur, die sich gegen den Menschen richtet. Als Agent der Natur ist er mit der Lizenz zum Töten unterwegs, um den unnatürlichen da naturfernen Wald zu beseitigen und das alte Recht der Natur wieder in Kraft zu setzen.
Wald als Teil der Identität und Umweltkontrolle des Menschen
Natürlich bedroht der Borkenkäfer nicht Leib und Leben des Menschen. Und letztendlich bedroht er auch nicht den Wald. Denn Wald entsteht wieder, dort wo er gewütet hat, nur eben in anderer Gestalt. Er bedroht vielmehr die Investitionen der Menschen. Er schmälert das Betriebsergebnis. Aber nicht nur das. Wir würden dem Waldbesitzer Unrecht tun, wenn wir seine Person auf die Rationalität eines Homo oeconomicus reduzierten. Oft ist er mit dem Wald viel tiefer verbunden. Er hat ihn wachsen sehen und wahrscheinlich von seinen Vorfahren dankend übernommen. Er identifiziert sich mit ihm und spürt das Absterben seiner Bäume am eigenen Leib. Wenn er seinen Wald verteidigt, verteidigt er sich selbst. In der Psychologie gibt es das für die Erklärung menschlichen Verhaltens sehr leistungsfähige Konzept der Kontrolle: Der Mensch strebt nach Kontrolle seiner Umwelt und reagiert entsprechend entschieden, vielleicht sogar aggressiv, wenn die Kontrolle in Gefahr ist. Im Moment da sich der Borkenkäfer unter die Rinde gräbt, untergräbt er zugleich diese Kontrolle und zeigt dem Menschen, dass er einer Illusion nachhing, denn nicht er, sondern die Natur hält das Heft in der Hand. Dagegen will der Mensch etwas tun.
Natur- und Kulturstrategien
Wir Menschen befinden uns also im Krieg. Wenn man Krieg führt, ist es ratsam seinen Gegner zu kennen. Wie arbeitet dieser Käfer? Was sind seine Strategien? Seine Stärke, das wissen wir, ist eine Stärke der Zahl. Er kann sich unglaublich schnell vermehren und Generation um Generation als neue Angriffswellen gegen die Bäume werfen. Der Tod von Artgenossen wird billigend in Kauf genommen. Sie schwächen und zermürben die Bäume bis in ihnen das Harz versiegt, mit dem sie die ersten Angreifer noch verklebten. Die kraftlosen Bäume sind fruchtbarer Boden für die nächsten Bruten, die bald kampfbereit ausfliegen und sich auf die nächste Beute stürzen. Die Käfer arbeiten koordiniert. Mit Düften setzen sie Zeichen und locken ihre Mitstreiter zum Brutbaum. Ist der Brutbaum überfüllt kommunizieren andere Düfte, das hier nichts mehr zu holen ist. Trotz all dieser Raffiniertheit sind die Käfer dennoch nicht intelligent. Die Evolution hat sie mit diesen effektiven aber unbewussten Strategien versehen. Unser Gegner arbeitet mit Naturstrategien.
Auch wir, die Menschen, nutzen Naturstrategien. So verstehen wir uns auf die Spurensuche: Das Bohrmehl verrät uns den Aufenthaltsort des Feindes. Wir stellen ihm Fallen. Heimtückisch nutzen wir sein Kommunikationsmittel, die Düfte, um ihn hineinzulocken. Die Fangzahlen nennen uns die Stärke des Gegners und die Zeitpunkte seiner Angriffswellen. Wir können aber noch viel mehr. Schon bei den Fallen zeigt sich unsere "übernatürlichen" Fähigkeiten, denn die Lockstoffe stellen wir mit technischen Verfahren künstlich her. Überhaupt potenziert die Technik unsere Handlungsmacht: Mit Motorsäge, Harvester und Entrindungsmaschine ziehen wir dem Käferchen den Boden unter den Füßen weg. Wir nehmen ihm die Brutmöglichkeiten und treffen ihn so an entscheidender Stelle. Hinzu kommt unser ausgefeiltes und flexibles Kommunikationssystem, dass eine in der Natur noch nie dagewesene Koordinationsfähigkeit ermöglicht. Wir nutzen Presse, Funk und Fernsehen. Die Kriegslage wird periodisch im Bayerischen Landwirtschaftlichen Wochenblatt und ständig im Internet geschildert. Auf breiter Front sind die neuesten Informationen zeitnah verfügbar.
Positive Identität
Wir haben den Bereich der Naturstrategien also längst verlassen und unser Arsenal um einer ganzen Reihe schlagkräftiger Kulturstrategien erweitert. Die Staatsforstverwaltung und in ihr ganz besonders die LWF konnten mit diesen Mitteln der Bevölkerung zwei wichtige Botschaften mitteilen:
- Die Lage ist bedenklich. Unsere Wälder sind bedroht.
- Experten beschäftigen sich mit diesem Problem. Sie haben alles im Griff. Ihnen entgeht nichts. Der Wald ist in guten Händen.
Die erste Botschaft soll beunruhigen, die zweite beruhigen. Beide kamen an.
Die LWF hat also vor allem im zwischenmenschlichen Bereich gewirkt. Bei anderen Gegnern wie dem Schwammspinner zückt sie schon mal die chemische Keule. Was sie natürlich so sanft wie möglich tut. In diesem Fall aber nicht, hier war ihre Waffe die Kommunikation. Zweifellos transportierte diese strategisch wichtiges Wissen an die Front, aber nicht nur das: Sie entfaltete psychologische Breitenwirkung. Menschen haben das Bedürfnis ihre Einschätzung der Lage zu überprüfen. Dazu kommunizieren sie mit anderen. LWF und Forstverwaltung haben dieses Bedürfnis gestillt. Menschen haben ein Bedürfnis nach Umweltkontrolle. Der Borkenkäfer gefährdete das, aber LWF und Forstverwaltung konnten zeigen, dass sie die Lage erkannt haben, beobachten und agieren. Dadurch erscheint die Umweltkontrolle wieder hergestellt. Mit dem Borkenkäfermonitoring als erfolgreicher Forstarbeit, entstand auch eine Identifikationsmöglichkeit für die Förster. Man kann es als eine Art Symbol auffassen, das die Förster im Kampf gegen den Borkenkäfer zusammenfügt und eine gemeinsame positive Identität hervorhebt.
Wald und Mensch
Eigentlich heißt das Motto der LWF ja: "Der Wald ist unser Thema." Berücksichtigt man aber das eben Dargestellte müsste es wohl eher heißen: "Der Mensch ist unser Thema." Erkennt man die Wahrheit beider Sätze und bringt das darin Gesagte zusammen, so entsteht eine verheißungsvollen Synthese: "Wald und Mensch ist unser Thema."
Ein solches Motto bringt entsprechende Zusammenhänge von vorneherein ins Blickfeld. Ein Beispiel: Angeblich sind Fichtenforste im Flachland instabile Gebilde. Ihre Anfälligkeit gegen Stürme, Insekten und Pilze scheint das zu bestätigen. Wenn sie aber so instabil sind, warum gibt es sie dann dort seit Jahrhunderten? Des Rätsels Lösung liegt im Menschen, der in sturer Ameisenmanier die eingestürzten Bauten immer wieder aufrichtet und gegen Angriffe verteidigt, aus welchen Gründen auch immer. Das System Mensch-Fichte ist zäh und stabil. Es wurde vielleicht kurzfristig durch eine Laubholzanbauwelle geschwächt, aber es sind schon wieder erste Stimmen hörbar, die das alte System erneut stärken. Mal sehn wie es auf die Klimaerwärmung reagiert. Borkenkäferkalamitäten hat es schon viele überstanden.
Der Schöne dankt
Wir Forstleute haben dem Borkenkäfer viel zu verdanken. Er hat uns in den Schönen verzaubert. Durch ihn konnten wir zeigen, dass die Gesellschaft uns braucht. Wir konnten zeigen, dass der alte Spruch "Am schönsten hat’s die Forstpartie: Der Wald, der wächst auch ohne sie." so nicht stimmt. Wir konnten unseren Sachverstand beweisen und zeigten uns als Garanten der Kontrolle über die Natur und damit der Sicherheit. Eigentlich müsste der Hans-Karl-Göttling-Preis daher dem Borkenkäfer überreicht werden. Zumindest aber kommt es wie im Märchen zum Happy End: Der Schöne und das Biest sind glücklich vereint. In dieser Vereinigung halten sie die gegenseitige Verzauberung als Schöner und Biest aufrecht. Und wenn sie nicht gestorben sind ...