Effekte von Baumart, Stammdurchmesser und Stammzahl auf den Steinschlagschutz
Im Gebirge gehören Steinschläge zu den natürlich vorkommenden Naturereignissen, stellen aber für Siedlungen oder Verkehrswege wegen des spontanen Auftretens und der extremen Geschwindigkeit ein hohes Sicherheitsrisiko dar. In den Alpen können Bergwälder langfristig Schutz gegen Steinschlag bieten. Wie ein optimaler Schutzwald gegen Steinschlag aussieht, erarbeitet Cemagref Grenoble in verschiedenen Forschungsarbeiten. Im Folgenden werden ihre Arbeit und die bisher wichtigsten Erkenntnisse vorgestellt.
Unter Steinschlag versteht man den Absturz von Einzelblöcken (< 5m3), die durch Verwitterung und mechanische Einflüsse aus einem felsigen Steilhang gelöst wurden. Steinschlag tritt an allen steilen Felswänden auf. Obwohl sich die Verbauungstechnik in den letzten Jahren rasant entwickelt hat, sind die technischen Sicherungsmöglichkeiten noch immer beschränkt und kostenintensiv.
Ein fachlich richtig bewirtschafteter Steinschlag-Schutzwald stellt eine nachhaltige und kostengünstige Alternative zu den bisherigen technischen Maßnahmen dar. Die oben genannte Forschungsgruppe versucht mit ihrer Arbeit die hierfür erforderlichen Erkenntnisse über die Interaktion zwischen Steinschlag und Wald zu gewinnen.
Zusätzlich entwickelt sie in Geländeversuchen und Computermodellen praxistaugliche Methoden zur Gewinnung von Informationen über die gegenwärtige Schutzfunktion des Waldes gegen Steinschlag und über die zukünftige Entwicklung des Schutzwaldes.
Steinschlagforschung im Schutzwald
Lange Zeit ließ sich die Wirkung des Waldes gegen Steinschlag nicht quantifizieren. Erst seit den 1980er Jahren wurde die Interaktion von Wald und Steinschlag Gegenstand der Forschung (Jahn 1988).
Um die Schutztauglichkeit von Beständen im Steinschlag-Schutzwald zu beurteilen, präsentierte Gsteiger (1993) das Konzept der "mittleren baumfreien Strecke". Darunter versteht man jene Strecke, die ein Stein durchschnittlich zwischen zwei Baumkontakten zurücklegt. Diese Strecke sollte nicht mehr als 40 m betragen, da der Stein sonst wieder zuviel kinetische Energie aufbaut und sein Sturz nicht wirksam abgebremst werden kann.
Darüber hinaus bestimmen
- die Stammzahl,
- der mittlere Stammdurchmesser in Brusthöhe (BHD),
- die Baumart,
- die Größe des Steines und
- dessen kinetische Energie
die Schutztauglichkeit von Steinschlag-Schutzwäldern.
Grundsätzlich haben kleine Steine eine geringere Kontaktwahrscheinlichkeit als große Steine. Außerdem steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Stein mit einem Baum kollidiert, je höher die Stammzahl und der mittlere BHD sind. Eine hohe Stammzahl dicker Bäume lässt sich jedoch waldbaulich auf Grund der Bestandesdynamik nicht in die Praxis umsetzen. Während in der Jugendphase eine hohe Stammzahl mit geringen Durchmessern anzutreffen ist, ist die Altersphase von wenigen, aber dicken Bäume gekennzeichnet.
Darüber hinaus stellte man im Verlauf der Versuche fest, dass einzelne Baumarten mit gleichem BHD unterschiedliche Energiemengen aufnehmen können.
Abb. 2: Beziehung zwischen BHD und der maximalen Energieaufnahme (Ea-max) während eines Kontaktes zwischen Stein und Baum getrennt nach Baumarten.
Wichtige Fragen im Hinblick auf Steinschlag-Schutzwälder sind:
- Welche Baumart kann die meiste Energie aufnehmen?
- Wie gut ist ihre Wundheilung nach einem Steinschlagereignis?
- Welche Stammzahl und welche Durchmesserverteilung wird benötigt?
- Welche Kombinationen von Baumarten, Stammzahl und Durchmesserverteilung lassen sich nachhaltig waldbaulich umsetzen?
Um diese Fragen zu beantworten, werden Steinschlagexperimente auf bewaldeten und unbewaldeten Hängen durchgeführt und mit Hochgeschwindigkeits-Kameras dokumentiert (Abb. 1). Im Rahmen des EU-Projektes RockFor (2001-2004) können die Experimente ausgebaut und intensiviert werden.
Nicht bewaldeter Sektor (n=100) | Bewaldeter Sektor (n=102) | |
Mittlere maximale Geschwindigkeit in ms-1 | 15,4 | 11,7 |
Maximale Geschwindigkeit in ms-1 | 30,6 | 24,2 |
Anteil der gestoppten Blöcke nach 223,5m in % | 5 | 66 |
Anteil der gestoppten Blöcke auf der Forststraße in % | 15 | 13 |
Anteil der Blöcke, die den Wald durchlaufen in % | n.a. | 34 |
Mittlere Sprunghöhe in m | 1,5 | 1 |
Maximale Sprunghöhe in m | 8 | 2 |
Anzahl der Blockwürfe bis zur Entstehung einer Steinschlag-Schneise | n.a. | 72 |
Tab. 1: Zusammengefasste Ergebnisse der Steinschlag-Experimente. |
Praktische Steinschlagexperimente
Das Studiengebiet liegt im Forêt Communale de Vaujany (Vallée de l’Eau d’Olle, Isère) in Frankreich. Es umfasst ca. 0,9 ha auf einem bewaldeten, nordwestorientierten Hang, der zwischen 1200 m und 1400 m über NN liegt und eine mittlere Hangneigung von 38° aufweist.
Zu den wichtigsten Baumarten zählen die Weißtanne (Abies alba) mit 50 %, die Fichte (Picea abies) mit 25 %, die Rotbuche (Fagus sylvatica) mit 17 % sowie der Bergahorn (Acer pseudoplatanus) mit 4 %. Insgesamt wurden 271 Bäume kartiert und vermessen. Daraus ergibt sich eine Stammzahl von 290 Bäumen pro Hektar. Der mittlere BHD liegt bei 31 cm.
Während der Experimente stieß ein Bagger große, einzelne Blöcke in einen bewaldeten Hangsektor und einen unbewaldeten Hangsektor (Lawinenschneise). Die Blöcke waren kugelförmig und hatten einen mittleren Durchmesser von 0,95 m. Für jeden einzelnen Blockversuch wurden mit Hilfe der digitalen Videoaufnahmen die Sturzbahn, die Ablagerungsposition und sämtliche Baumkontakte kartiert.
Die Ergebnisse für die Weißtanne weisen auf eine Exponentialbeziehung zwischen dem BHD und der maximalen Energieaufnahme (Ea-max) während eines Kontaktes zwischen Stein und Baum hin (Abb. 2). Anhand von Literaturangaben zur Bruchschlagarbeit konnten wir diese Beziehung auch auf andere Baumarten übertragen. Für weitere Details und Resultate wird auf Dorren, Berger (2006) verwiesen.
Im Testgelände betrug sowohl die maximale Sprunghöhe als auch die maximale Aufprallhöhe 2 m. Der uns bekannte höchstgelegene Treffer an einem Baum liegt bei einer Höhe von 8 m. In Tabelle 1 sind weitere Resultate dargestellt. Die Experimente zeigten darüber hinaus, dass selbst kleine Bäume große Steine stoppen können, sofern ein Großteil der Energie bereits zuvor durch Kontakte mit größeren Bäumen verringert wurde.
Die gewonnenen Ergebnisse ermöglichten es, die Computermodelle zur Simulierung der Schutzwirkung einzelner Bäume und Bestände weiterzuentwickeln und zu validieren. Gegenwärtig können einzelne Bewegungsabläufe der Steine simuliert und Zonen mit Steinschlagrisiko mit oder ohne Waldwirkung modelliert werden.
Funktionsweise des Werkzeuges RockForNET
Abb. 3: Das Grundprinzip von RockForNET zur Berechnung eines Steinschlagrisikos.
Das kostenlose und öffentlich zugängliche Programm RockForNET auf der Internetseite www.rockfor.net erlaubt jedem Benutzer, die wahrscheinliche Steinschlaggefahr am Fuße eines Steinschlag-Schutzwaldes zu berechnen. Das Programm wandelt die bestehende Waldstruktur in virtuelle Reihen nebeneinander stehender Bäume um. Hierbei beträgt der Abstand zwischen zwei Bäumen in einer Reihe 90 % des mittleren Steindurchmessers und der Abstand zwischen zwei Reihen 33 m (Abb. 3). Diese Distanz wurde von der mittleren baumfreien Strecke auf unserem Testgelände abgeleitet (Dorren et al. 2005). Die Wirksamkeit der Reihe wird bestimmt von der Baumart und den gleichen mittleren BHD der Bäume einer Reihe.
Um die wahrscheinliche Steinschlaggefahr zu berechnen, evaluiert RockForNET, wie viele Reihen mit welchem BHD nötig sind, um den Hangfuß hundertprozentig zu schützen und gleicht diesen Wert mit dem bestehenden Wald ab.
Fazit
Die Experimente haben gezeigt, dass nicht nur große Bäume die Wirksamkeit eines Steinschlag-Schutzwald ausmachen, sondern dass wohlstrukturierte Bestände mit einem breiten Durchmesserspektrum und einem Mosaik unterschiedlicher Waldentwicklungsphasen den besten Schutz vor Steinschlag darstellen.
Des Weiteren zeigte sich, dass Laubholz bei Stein-Baum-Kontakten mehr Energie aufnehmen kann als Nadelholz. Insbesondere die Rotbuche und der Bergahorn sind auch in Zukunft eine wesentliche Stütze der stabilen Bergmischwälder (Schmidt 2005).
Vielleicht versteht sich die Bergwaldbewirtschaftung in Zukunft zum Teil auch als Eco-Engineering und schenkt den spezifischen Strukturanforderungen bestimmter Waldwirkungen wie z. B. der Steinschlag-Schutzwirkung mehr Aufmerksamkeit.
Werkzeuge wie beispielsweise RockForNET bieten in diesem Zusammenhang dem Praktiker eine wertvolle Hilfestellung.