Eine wichtige Funktion des Schweizer Bergwaldes ist sein Schutz vor Naturgefahren wie zum Beispiel Lawinen, Murgängen oder Steinschlag. Letzterer ist insofern interessant, weil der Wald bei einem Steinschlag Schutz bietet, indem er anhand der Vielzahl zufällig verteilter Einzelbäume und auf eine lange Strecke den Steinschlag bremsen kann. Für einen optimalen Steinschlagschutz spielt dabei der durchschnittliche Brusthöhendurchmesser und die Bestandesdichte eine Rolle. Beide beeinflussen die Steinschlagenergie, die ein einzelner Baum abbauen kann, und die Anzahl der zu erwartenden Baumtreffer.

Im früheren Projekt "Baumstabilität" haben wir den Einfluss von Steinschlag auf Einzelbäume umfassend untersucht. Ein Resultat dieses Projekts war eine Formel, mit der bestimmt werden kann, ob ein Baum mit einem bestimmten Brusthöhendurchmesser und einer entsprechenden Höhe bei einem Steinschlag bricht oder nicht. Hierbei spielt es eine Rolle, in welcher Höhe der Stein einschlägt, wie schnell und wie schwer er ist und ob er den Baum frontal trifft oder vielleicht auch nur streift.

Der Stein wird dabei auf unterschiedliche Weise durch den Baum abgebremst: Zum einen verbiegt sich der Baum und erzeugt dadurch Widerstand, zum anderen werden Stamm und Äste in Bewegung versetzt. Diese Mechanismen wurden bei speziellen Versuchen im damaligen Projekt gemessen, detailliert erfasst und erörtert.

Ein Hauptbestandteil des Projekts waren dabei sogenannte Baumschlagversuche. Hierbei wurde ein keilförmiger Metallschlitten entlang einer Seilbahn beschleunigt und traf dann den Baum (Abb. 2). Bei den Experimenten massen wir die Beschleunigungen des Wagens und des Baumes entlang des Stammes, jeweils ungefähr in Einschlagrichtung. Nachträgliche Computersimulationen zeigten, dass Bäume beim Einschlag des Wagens im Wurzelbereich bis zu 30 % der Steinschlagenergie auffangen. Der gesamte Wurzelballen verschiebt sich in der Einschlagrichtung. Dabei werden zwangsläufig einzelne Wurzeln abgerissen. Zusätzlich zur Verschiebung erwarten wir auch noch eine Verdrehung des Wurzelballens.

Wurzeln stabilisieren den Stamm

Die Stabilität und damit die potenzielle Schutzwirkung eines Baumes gegen Naturgefahren hängt unter anderem vom Holzaufbau (z. B. Elastizität) und Gesundheitszustand (z. B. Kernfäule) sowie von der Stammform und dem Aufbau der Krone ab. Eine entscheidende Rolle bezüglich der Stabilität spielt die Verankerung des Baumes im Boden. Man darf in dieser Hinsicht den Wurzelbereich nicht unterschätzen. Die Ausbreitung der Wurzeln im Untergrund trägt massgeblich zur Stabilität eines Baumes bei. Eine optimale Stabilisierung würde dann erreicht, wenn alle Wurzeln gleichmässig um den Stamm herum verteilt wären, da ein so aufgebautes Wurzelsystem eine gleichmässige Verteilung der auftretenden Kräfte entlang der Wurzeln garantiert .

Die Ausbreitung des Wurzelsystems wird nur zum Teil nach mechanischen Gesichtspunkten gesteuert. Sie erfolgt entsprechend den Hauptfunktionen des Wurzelsystems: Neben der Verankerung im Boden sind dies die Absorption von Wasser und Nährstoffen und der Transport dieser Stoffe über den Stamm zu den Blättern . Die Dominanz einer der drei Hauptfunktionen kann zu einem asymmetrischen Aufbau des Wurzelsystems führen. So verhindert häufig schon der Aufbau des Untergrundes oder eine unregelmässige Nährstoffverteilung eine gleichmässige Ausbreitung der Wurzeln (z. B. felsiger Untergrund).

Auch der Standort selbst spielt bei der Wurzelausbreitung eine Rolle. Ein Baum an einem Steilhang ist im Allgemeinen durch die Ausbildung von Anker- und Stützwurzeln in Richtung des Hanggefälles optimal stabilisiert , einer plötzlichen seitlichen Belastung durch einen Sturm aber hätte er nichts entgegenzusetzen. Es stellt sich darum die Frage, wie sich die unterschiedliche Ausprägung der Wurzelsysteme in Abhängigkeit des Bodens und der Stamm- und Astfläche auf die Stabilität der Bäume auswirkt .

Wiederholung des Baumschlagversuchs mit speziellem Blick auf die Wurzeln

2012 ergab sich im Münstertal (GR) die Gelegenheit, erneut ein Baumschlagexperiment durchzuführen. Im Vorfeld des Versuchs musste dafür ein geeigneter Baum ausgewählt werden. Dieser sollte für einen Schutzwald typisch sein und in einer entsprechenden Höhenlage stehen. Der Baum sollte gerade gewachsen sein und eine kurze Krone aufweisen. Grosse Verletzungen sollte er auch keine davongetragen haben, und die nächsten Nachbarbäume sollten nicht zu dicht stehen. Ein Brusthöhendurchmesser von 30 bis 50 cm wäre dabei sehr gut. Um den Versuch durchführen zu können, gibt es im Idealfall auch eine (Forst-)Strasse zwischen der Startposition des Wagens und des Testbaumes. So kann das bis zu 900 kg schwere Gefährt besser installiert werden. Das Gelände sollte ausserdem steil genug sein, damit der Wagen gut beschleunigen kann, ohne dabei unterwegs hängenzubleiben.

Im nächsten Schritt wurde vom Münstertaler Förster Jörg Clavadetscher und seinem Waldarbeiterteam die Seilbahn für den Wagen installiert. Im Wesentlichen braucht man hierfür zwei zueinander parallele Seile, die den Testbaum zu beiden Seiten passieren (Abb. 3). An diesen wird dann der Anprallwagen angehängt. Wenn das untere Ende der Seilbahn in der Höhe variabel installiert ist, kann die Anprallhöhe des Wagens am Baum präzise eingestellt werden. Der Wagen wird entlang der Führungsseile mit einer Seilwinde zur Startposition gezogen.

Vor dem Test wird auch die Messtechnik installiert. Hauptelemente sind die Beschleunigungsmessungen am Wagen, am Baumstamm und an (teilweise freigelegten) Hauptwurzeln (Abb. 4). Parallel dazu filmt eine Hochgeschwindigkeitskamera den Abbremsprozess mit 500 Bildern pro Sekunde. Eine zweite derartige Kamera ist auf den Wurzelballen gerichtet. Vor und nach dem Versuch wird zudem das gesamte Setup mit einem Vermessungsgerät (Tachymeter) erfasst.

Bei der Wahl der richtigen Startposition kommt es in erster Linie auf den Höhenunterschied h zur Einschlagstelle und die Gesamtmasse m des Wagens an. Die Masse kann hierbei über mehr oder weniger zusätzliche Stahlgewichte variiert werden. Die gespeicherte Höhenenergie beträgt damit E = mgh. Die Energie wird hierbei in der Regel mit der Einheit kJ (Kilojoule) angegeben. Nimmt der Wagen entlang der Führungsseile Anlauf, beträgt seine theoretische Bewegungsenergie am Baum letztendlich ohne allfällige Reibungsverluste letztendlich E = ½ mv2. Die Einschlaggeschwindigkeit wird also mit etwa v = √2gh abgeschätzt.

Erster Einschlag

Der ausgewählte Testbaum war eine Fichte und hatte einen Brusthöhendurchmesser von 39 cm. Von den früheren Baumschlagversuchen wussten wir, dass der Baum bei einer Einschlagenergie von ca. 80 kJ brechen würde (zum Vergleich: Der aktuelle Rekord für den Rückhalt von Steinschlägen durch Schutznetze liegt bei 8000 kJ). Da wir bei unserem Versuch den Baum nicht einfach fällen, sondern möglichst viel messen wollen, sollte unsere Einschlagenergie im Idealfall knapp unter der kritischen Versagensenergie liegen.

Wir wählten eine Starthöhe des Wagens von 13,5 m bei einem Wagengewicht von 620 kg, was einer theoretischen Einschlagenergie von 82 kJ bei einer theoretischen Einschlaggeschwindigkeit von 16,3 m/s entspricht. Die Auswertung der Hochgeschwindigkeitsfilme ergab eine maximale Geschwindigkeit von 14 m/s (= 50 km/h), was einer Energie von etwa 61 kJ entspricht. Das heisst, etwa 25 % der maximal möglichen Energie wurde durch Reibung am Wagen abgebaut. Diese Abweichung gibt uns nun bei zukünftigen Experimenten einen Anhaltspunkt zum Einstellen der Startposition.

Dem Baum wurde wie erwartet ein starker Schlag versetzt (Abb. 5). Die seitliche Verformung an der Einschlagstelle breitete sich bis zur Spitze aus, und durch die dünnere dortige Stammdicke nimmt die Auslenkung Richtung Wipfel zu (Peitscheneffekt), bis dieser auf einer Länge von etwa 2,5 m abbricht. Betrachtet man die gemessenen Grössen, so erkennt man im Detail deutlich mehr als nur den mit blossem Auge erkennbaren Stammbruch.

Die Beschleunigungsmessung ergab, dass der Wagen innerhalb von 7 Hundertstelsekunden (0,07 s) gestoppt wurde. Diese Zeitspanne ist zu kurz, als dass wir sie mit blossem Auge erfassen könnten (Zum Vergleich: Im Kino beträgt die Zeit zwischen zwei Bildern z. B. 0,04 s). Wir sind daher auf die Aufnahmen der Hochgeschwindigkeitskamera angewiesen, die in dieser Zeit insgesamt 15 Bilder liefert. In Abbildung 5 sieht man davon den Moment des ersten Kontakts zwischen Wagen und Baum und den Baum bei seiner maximalen seitlichen Auslenkung von 12 cm. Der Wagen bewegte sich in der gleichen Zeit um insgesamt fast 20 cm senkrecht zum Baumstamm, sodass sich aus der Videomessung eine Eindringung des Keiles in den Baum von 8 cm ergibt.

Die Auswertung der gemessenen Beschleunigungen ergab am Baumstamm gegenüber der Einschlagstelle einen Wert von rund 240 g, also dem 240-Fachen der Erdbeschleunigung (zum Vergleich: Ein Pilot im Düsenjet darf maximal 10 g ausgesetzt sein). Diese Beschleunigung ist deshalb so hoch, weil es sich trotz Eindringung des Wagens in den Baumstamm trotzdem um einen sehr abrupten Abbremsvorgang handelt. Da diese hohe Beschleunigung nur sehr kurze Zeit wirkt, bewegt sich der Baum letztendlich nur sehr wenig. Wenn man die gemessenen Beschleunigungen nun zweimal über die Zeit integriert, verschob sich der Baum um 14 cm, was einigermassen mit der entsprechenden Videomessung korreliert.

Deutlich geringer fallen die Beschleunigungen unten an den Wurzeln aus. Hier messen wir horizontal in Einschlagrichtung "nur" rund 20 g auf der Talseite und etwa 50 g auf der Einschlagseite. Auch die erwartete und gefilmte Aufwärtsbewegung der bergseitigen Wurzeln können wir mit den vertikal ausgerichteten Beschleunigungssensoren bei etwa 10 – 25 g messen. Die Vermessung mit dem Tachymeter hat ergeben, dass sich der Baum wieder bis auf 2 – 5 mm an seine ursprüngliche Position zurückbewegt.

Zweiter Einschlag

Dadie Fichte nach dem ersten Einschlag noch wie erhofft stehen blieb, konnten wir unmittelbar im Anschluss einen zweiten Versuch durchführen. Durch die Erstbelastung mussten wir jedoch davon ausgehen, dass der Wurzelballen als solches nicht mehr die volle Verankerung haben wird. Wir erhöhten die Einschlagenergie darum etwas, um dadurch eine grössere Belastung auf den Baumstamm selbst zu erreichen. Der Wagen traf den Baum mit einer effektiv gemessenen Energie von 83 kJ und einer Einschlaggeschwindigkeit von 59 km/h.

Das Resultat war, dass der Stamm – wie für genau diese Energie erwartet – an der Einschlagstelle abscherte (Abb. 7). Der Stamm blieb jedoch noch stehen, da sich die Baumkrone am Nachbarbaum abstützen konnte. Der oben beschriebene Peitscheneffekt im Wipfelbereich der Stammverformung liess noch ein weiteres 1,9 m langes Stück des Baumwipfels abbrechen. Die maximale Auslenkung des Stammes betrug nun 21 cm bei einer maximalen horizontalen Beschleunigung des Stammes von 180 g unmittelbar vor dem Bruch.

Fazit

Mit dem demonstrierten Baumschlagversuch gewinnt die Forschung mit den zu erwartenden Beschleunigungen im Wurzelbereich ein wichtiges Resultat. Dies ermöglicht der Forschungsanstalt WSL, für zukünftige Versuche die optimalen Sensoren einzusetzen. Wichtig ist auch, dass wir die Messrate mit z. B. 5 – 10 000 Messwerten pro Sekunde sehr hoch ansetzen, um in der sehr kurzen Abbremszeit eine ausreichende Anzahl von Messwerten zu erhalten. Zukünftige Versuche im Schweizer Bergwald würden uns ermöglichen, die bei Steinschlagereignissen ablaufenden Prozesse genauer zu erfassen und daraus mögliche Schutzmassnahmen abzuleiten.

(TR)