Die Waldfläche der Schweiz nimmt seit über 120 Jahren zu. Dies belegen Statistiken des Bundes und der Kantone. Eine regionale Betrachtung der Veränderungen ist mit diesen Zahlen allerdings nur begrenzt möglich. Aus diesem Grund haben Wissenschaftler der Forschungsanstalt WSL mit Hilfe des Topographischen Atlasses der Schweiz (sogenannte Siegfriedkarte) zu den Zeitschnitten 1880, 1915 und 1940 sowie anhand der Ausgabe der Landeskarte zum Zeitschnitt 2000 die Waldfläche erhoben.
Obwohl Karten die Landschaft generalisieren und sehr vom Zeitgeist und der Interpretation des Bearbeiters beeinflusst werden, erlauben sie eine räumliche Analyse der Landschaft der Vergangenheit. Sie stellen eine flächendeckende Abbildung der Wirklichkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt dar.
Methoden
Das computergestützte Erkennen der Waldsymbole der Siegfriedkarte (kleine, schwarze, kreisartige Symbole und Punkte, die unregelmässig verteilt sind) mittels automatischer Bilderkennung war nicht möglich. Die Gründe lagen neben der Heterogenität der Kartenblätter und der unterschiedlichen Qualität vor allem in den Mischsignaturen der Gebirgskartenblätter im Massstab 1:50'000. Der kleinere Massstab dieser Kartenblätter und das Mosaik der Signaturen für Schutt, Fels und Wald liessen keine zuverlässige Extraktion der Waldsignaturen zu.
Deshalb wählten die Wissenschaftler einen anderen Ansatz und legten "manuell" am Bildschirm fest, ob ein Stichprobenpunkt im jeweiligen Jahr im Wald lag. Die Kriterien für Wald entsprechen mit Ausnahme des Deckungsgrades der Walddefinition des Schweizerischen Landesforstinventars (LFI). Das Entscheidungsdiagramm für den Wald-Nichtwald-Entscheid ist in Abbildung 2 dargestellt. Dank diesem klar definierten Vorgehen liess sich der Spielraum des Interpretierenden klein halten und zugleich die Interpretation möglichst reproduzierbar machen.
Das Aufnahmenetz entspricht demjenigen der terrestrischen Erhebungen des LFI, einem regelmässigen Raster mit einer Maschenweite von 1.4 km × 1.4 km. Die Anzahl der Probeflächen beträgt 20'638. Auf jeder Probefläche, d.h. in einem Interpretationsfenster von 50 m × 50 m, wurde die Kartensignatur beurteilt (Abb. 3).
Die Interpretation der einzelnen Zeitschnitte erfolgte unabhängig voneinander, das heisst der Wald-Nichtwald-Entscheid von anderen Zeitschnitten war nicht bekannt. Um Pseudoveränderungen durch vorhandene Lageungenauigkeiten zu vermeiden, kontrollieren die Forscher alle Probeflächen nach Abschluss der Interpretationen gutachterlich, indem sie alle Zeitschnitte simultan betrachteten.
Abb. 3 - Beispiele des Wald-Nichtwald-Entscheides für Probeflächen in der Siegfriedkarte. Rot: Probefläche von 50 m × 50 m mit dem mit einem Kreuz markierten Probeflächenzentrum. Grün: Waldrandlinie. A) Nichtwald: Das Probeflächenzentrum liegt ausserhalb der Waldsignatur. Eine Waldrandlinie ist in der Kartensignatur vorhanden, sie wird digitalisiert. B) Wald: Die Probefläche enthält Waldsignatur, das Probeflächenzentrum liegt innerhalb der Waldsignatur. Eine Waldrandsignatur ist nicht vorhanden. Die äussersten Waldsignaturen werden verwendet, um eine Waldrandlinie zu digitalisieren. C) Wald: Die gesamte Probefläche ist mit Waldsignatur gefüllt.
Waldflächenzuwachs
Die Waldfläche der Schweiz hat in 120 Jahren um 21.6% zugenommen. Die Differenz der Waldflächen aus der Erstausgabe der Siegfriedkarte zum Zeitschnitt 1880 und der Landeskarte zum Zeitschnitt 2000 (Pixelkarte) zeigt einen Anstieg des Waldanteiles von 21.7% auf 26.5% der Landesfläche (Tabelle 1).
Die anhand der Kartensignatur festgestellten Änderungen der Waldfläche sind regional sehr unterschiedlich (Abb. 4). Generell lässt sich ein Trend von Norden nach Süden und von Ost nach West feststellen. Im zentralen und östlichen Mittelland ist die Waldfläche, trotz gebietsweisen Abnahmen in tiefer gelegenen und agglomerationsnahen Lagen, in den letzten 120 Jahren praktisch gleich geblieben. Im westlichen Mittelland fand währenddessen eine Zunahme um 10.7% statt. In den Voralpen ist der Trend ähnlich, im westlichen Jura dagegen wechseln Gebiete mit Zunahmen und Abnahmen ab. Die grössten Zunahmen finden sich in den Alpen und vor allem auf der Alpensüdseite mit einer Verdoppelung des Waldareals. Zunahmen von 100% und mehr gibt es stellenweise in der Zentralschweiz, in den Einzugsgebieten von Hinterrhein und Maggia sowie im zentralen Tessin zwischen Biasca und Lugano.
Die Gründe für die Waldzunahme liegen zur Hauptsache in der natürlichen Wiederbewaldung ehemaliger landwirtschaftlicher Weideflächen. Gemäss Umfrage beim Forstdienst sind in der Schweiz nur 51'000 ha aus Aufforstungen entstanden, hauptsächlich in den Voralpen und im Jura. Dabei wurde ein Viertel dieser Wäder schon vor 1880 begründet.
Abb. 4 - Veränderung der Waldfläche zwischen den Zeitschnitten 1880 und 2000 pro Forstkreis (Stand: 1996, teilweise zusammengefasst). Angaben in Prozent der Fläche von 1880. Quelle: LFI. Für die Bezeichnung der Wirschaftsregionen siehe Tabelle 1.
Vergleich mit anderen Erhebungen
Der vorliegende Kartenvergleich ermöglicht erstmals regional differenzierte Aussagen zur Waldflächenentwicklung der Schweiz über einen Zeitraum von mehr als 100 Jahren. Gesamtschweizerische Aussagen zur Waldfläche gehen aber bis in das Jahr 1843 zurück (Abb. 5). Verschiedene statistische Einzelerhebungen und Zeitreihen dokumentieren eine kontinuierliche Waldflächenzunahme mit Zuwachsraten von jährlich 0.1% bis 0.7%, je nach Zeitabschnitt und Datenquelle. Die Siegfriedkarte zeigt über einen Zeitraum von 60 Jahren die geringste langjährige Zuwachsrate. Da objektive Walddefinitionen bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts fehlten, wurden die subjektiven Waldsignaturen der Erstkartierer bei den Nachführungen vermutlich zurückhaltend geändert.
Auffallend ist demgegenüber, dass die Waldfläche gemäss der Interpretation der Erstausgabe der Siegfriedkarte um 1880 rund 120'000 ha über den Angaben aus anderen Quellen liegt. Erst um 1910 erreichen diese Werte eine ähnliche Grössenordnung wie in der Siegfriedkarte. Eine Erklärung zu den statistischen Daten von 1870 bis 1910 aus dem Etat der schweizerischen Forstbeamten liefert der ehemalige ETH-Professor und eidgenössische Oberforstinspektor Decoppet (1912):
"Was die Vermehrung des Waldareals um 130'000 ha während der letzten 40 Jahre anbetrifft, liegt ohne Zweifel eine blosse Fiktion vor. Diese scheinbare Zunahme verdanken wir den genaueren Vermessungs- und Schätzverfahren sowie der Ausscheidung der Kulturen, wobei die Wytweiden zum Wald geschlagen werden, statt wie früher zum landwirtschaftlich genutzten Boden."
Die Kartierer der ersten Siegriedkarte hatten dagegen ungeachtet der Bodennutzung die effektive Bestockung kartiert.
Die heutige Landeskarte 1:25'000 weist im Vergleich zu den statistischen Erhebungen die geringste Waldfläche auf. Bei der Nachführung der Landeskarte haben Bestockungen nicht die höchste Priorität. Vor allem im Gebirge wird generalisiert und die Bestockung unterschätzt (siehe auch Tabelle 1). In Regionen mit sehr klaren Nutzungsgrenzen spielen die Walddefinition und die Erhebungsmethode eine geringe Rolle. Dort sind die Ergebnisse vergleichbar. Dies zeigt sich in den Waldflächen aus der Pixelkarte (Zeitschnitt 2000) und dem LFI3 (Tabelle 1) in der Wirtschaftsregion Jura Ost und in allen Regionen des Mittellandes.
Je unklarer die Nutzungsgrenzen in der Landschaft und je aufgelöster die Bestockungen sind, desto entscheidender wird die Walddefinition. In den Wirtschaftsregionen Voralpen und Alpen findet man Waldflächenunterschiede zwischen der Pixelkarte und den terrestrischen Aufnahmen des LFI von bis zu 24%, auf der Alpensüdseite sogar von 25%. In der Pixelkarte sind viele Probeflächen, die terrestrisch die LFI-Walddefinition erfüllen, als Fels, Geröll und übriges Gebiet kartiert. Zum Beispiel zeigt auf der Alpensüdseite die Landeskarte im Jahr 2000 auf 21% der Waldprobeflächen des LFI3 keine Waldsignatur (Abb. 6).
Abb. 6 - Auf der Alpensüdseite zeigt ein Fünftel aller Probeflächen, die gemäss Landesforstinventar als Wald gelten, auf der Landeskarte des Jahres 2000 keine Waldsignatur. Foto: Thomas Reich (WSL)
Schlussfolgerungen
Topografische Karten sind eine generalisierte Abbildung der Realität. Sowohl die Zeitperiode als auch der Kartenmassstab geben vor, was wichtig ist und was wie dargestellt werden muss. Eine Karte widerspiegelt daher nicht die Realität, sondern die Abstraktion der Realität und ist vom Weltbild der jeweiligen Zeit, vom subjektiven Empfinden des Kartografen, von den technischen Möglichkeiten, den Kartieranleitungen und schliesslich dem Kartenmassstab geprägt. Selbst in der modernen Kartografie können kleine Änderungen in der Anleitung Veränderungen vortäuschen, die in Wahrheit nicht existieren. Bei der Quantifizierung von Ressourcen anhand der Kartensignaturen muss dies berücksichtigt werden.
Der Vorteil von Kartenwerken liegt, im Vergleich zu Statistiken oder Stichprobenerhebungen, in ihrer hohen räumlichen Auflösung und dem lückenlosen Überblick nach einheitlichen Gesichtspunkten. In der Kombination von Karte und Stichprobe bieten sich – wie im vorliegenden Beispiel gezeigt – effiziente Möglichkeiten zur quantitativen räumlichen Analyse von Kartenwerken. Für die Interpretation sind die Kenntnis der Objektdefinitionen und Informationen aus anderen Datenquellen unerlässlich. Die systematische Analyse von historischen Ansichtskarten und deren Verwendung als Referenz liefern beispielsweise wertvolle Hinweise darauf, wie stark die Landschaft bei der Kartierung generalisiert worden ist. Der vorliegende Ansatz, den Topographischen Atlas der Schweiz mittels Stichprobeninterpretation zu analysieren, lässt sich auch auf andere Signaturen übertragen. So lassen sich auch Feuchtgebiete, Reben, Gewässer, Verkehrswege und Gebäude gut identifizieren.
(TR)