Wohnungsbau, Ausweitung des Strassennetzes und das Vordringen des Waldes: Dies sind die drei Faktoren, welche in den Augen der einheimischen Bevölkerung die Landschaft in Gündlischwand und Grindelwald BE im Lütschinental in den letzten 30 Jahren am stärksten verändert haben. So jedenfalls äusserten sich mehrere Bewohner der beiden Berner Oberländer Gemeinden, als sie von zwei Geografiestudierenden der Uni Bern interviewt wurden. Diese gingen der Frage nach: Wie wirkt sich der Rückzug der Berglandwirtschaft auf die Natur aus, und wie werden die landschaftlichen Veränderungen wahrgenommen?

Im Lütschinental verbuschen insbesondere die kleinen, steilen und abgelegenen Wiesen und Weiden, welche die bewaldeten Flanken mosaikartig durchsetzen. Die Entwicklung schmerzt. "Die Vorderen (Vorfahren) mussten das mit ihren Händen erarbeiten. Mich dünkt, man sollte zu dem Sorge tragen", mahnte ein Landwirt.

Gewinner und Verlierer bei Flora und Fauna

Gündlischwand ist überall. Die Waldfläche der Schweiz nimmt zu, besonders in den Alpen. Neu ist diese Entwicklung nicht. In den Südalpen begann der Rückzug der Landwirtschaft bereits vor Generationen. Wo Wiesen nicht mehr gemäht, Weiden nicht mehr bestossen werden, nimmt die natürliche Entwicklung zum Wald ihren Lauf.

Dabei gibt es Gewinner und Verlierer. So auch in der Vogelwelt: "Einige Arten profitieren von zunehmenden Waldflächen, andere werden von genau demselben natürlichen Prozess verdrängt", erklärt Niklaus Zbinden von der Schweizerischen Vogelwarte Sempach. Für das Haselhuhn kommen die Pionierwälder wie gerufen, die Feldlerche hingegen hat das Nachsehen.

Differenziert beurteilt auch Raimund Rodewald von der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz SL die Entwicklung: "Mehr Naturdynamik ist grundsätzlich begrüssenswert. Waldeinwuchs wird aber dort zum Problem, wo ökologisch und kulturhistorisch wertvolle Landschaften bedroht sind – wenn Terrassenlandschaften von der Bildfläche verschwinden oder Trockenwiesen und -weiden einwachsen." Letzteres ist verbreitet der Fall. Etwa zehn Prozent der Trockenwiesen und -weiden, die zurzeit als Objekte von nationaler Bedeutung aufgelistet sind, liegen brach.

Artenverlust auf verbuschten Trockenwiesen

Für die Artenvielfalt steht hier einiges auf dem Spiel. Nirgendwo blühen auf kleiner Fläche so viele verschiedene Gräser und Kräuter wie auf trockenen, mageren Wiesen und Weiden. Ein Grossteil der ansässigen Arten – darunter etliche Orchideen – sind auf diesen Lebensraum spezialisiert und anderswo ohne Chancen.

Schätzungsweise 20 bis 40 Prozent der Trockenwiesen und -weiden der Schweiz sind allein in den letzten zwanzig Jahren verschwunden. Ein Grossteil davon hat sich in Buschwald verwandelt. "Wenn auf mehr als 20 Prozent der Fläche Gehölz aufkommt, nimmt die Artenvielfalt vor allem der lichtliebenden Arten stark ab", sagt Christine Gubser von der Abteilung Artenmanagement im BAFU. Dosierte Verbuschung ist andererseits ein Gewinn. "Ein kleinräumiges Mosaik mit Bäumen, Büschen und offenen Flächen ist ideal für die Lebensgemeinschaft der Trockenwiesen und -weiden", betont die Fachfrau.

Der Trend zurück zum Wald eröffnet somit auch Chancen für die Biodiversität. "Zurzeit dürfte ein erheblicher Teil des Grünlandes im Berggebiet bezüglich Verbuschungsgrad für die Artenvielfalt im optimalen Zustand sein oder wird ihn demnächst erreichen", schätzt Hans Ulrich Gujer, der im BAFU das Landwirtschaftsdossier betreut. Solche Flächen zu erhalten, wäre ein lohnendes Ziel. Sie müssten dazu weiterhin gemäht oder beweidet und bei Bedarf entbuscht werden. Als Weidetiere könnten hier Ziegen gute Arbeit leisten.

Rodungsverbot bleibt nötig

Auch wenn der Wald flächenmässig zunimmt - das Rodungsverbot soll deswegen nicht gelockert werden. Ein aufkommender Jungwald kann einen gereiften Baumbestand, der für eine Skipiste gerodet wird, nicht ersetzen. Andererseits sind die einwachsenden Waldflächen für die Erfüllung der Waldfunktionen vielerorts nicht unbedingt nötig. Gemäss Vernehmlassungsentwurf zur Revision des Waldgesetzes soll hier die Anwendung des "statischen Waldbegriffs" (siehe Kasten) möglich werden. An der Situation wird dies wenig ändern. Damit Wiesen- und Weideflächen offen bleiben, muss die landwirtschaftliche Nutzung gewährleistet sein. Dafür ist nicht die Waldpolitik alleine zuständig.

Waldgesetzrevision: statischer statt dynamischer Waldbegriff

Das geltende Waldgesetz geht vom "dynamischen Waldbegriff" aus: Eine einwachsende Fläche wird nach zehn bis zwanzig Jahren Wald im rechtlichen Sinn, und fortan gilt das Rodungsverbot. Dies soll sich nun ändern: In Gebieten mit unerwünschter Waldflächenzunahme soll künftig auch der "statische Waldbegriff" möglich sein. Die Kantone hätten dann die Option, Wald von anderen Zonen planerisch abzugrenzen.

Eine Wiese bliebe eine Wiese, auch wenn Bäume von ihr Besitz ergriffen haben. Dies würde bedeuten, dass der Eigentümer darüber verfügen und namentlich die Bäume entfernen darf, wenn er die landwirtschaftliche Nutzung wieder aufnehmen will. Rodungen bleiben grundsätzlich verboten, auch bezüglich Ausnahmebewilligungen soll sich nichts ändern. Anders gehandhabt werden soll hingegen die Ersatzpflicht: Bei bewilligten Rodungen fordert das Waldgesetz die Aufforstung einer entsprechenden Fläche in der Nähe. In Gebieten mit zunehmender Waldfläche ist dies wenig sinnvoll. Ersatzmassnahmen im Natur- und Landschaftsschutz sind hier eine bessere Kompensation.

(TR)