Zeitabschnitt ab 1500
Der Oberrhein hat schon früh den Charakter einer von Menschen unbeeinflussten Naturlandschaft verloren. Auch die volle Bewaldung der Auen als Voraussetzung für die Ausbildung natürlicher Waldgesellschaften wurde vor Jahrtausenden aufgegeben. Im Folgenden wird die Landschaftsentwicklung des Oberrheins am Beispiel der deutsch-französischen Rheinaue des Ortenaukreises bei Offenburg/Straßburg gezeigt.
An der Ausprägung der Kulturlandschaft Rheinaue um 1500 waren 4.500 Jahre Landschaftsgeschichte vom Neolithikum (3.000 v. Chr.) bis zur Neuzeit (1.500 n. Chr.) maßgeblich beteiligt. Dieser Zeitabschnitt der sogenannten älteren Kulturaue wird im Teil II: 5.000 Jahre Wälder am Oberrhein beschrieben.
Die Kulturlandschaft um 1500
Abb. 2: Rheinaue des Ortenaukreis; historische Auewaldflächen (nach Specklin 1573, modifiziert, Quelle: Reproduktion Specklin-Karte).
Wichtige historische Karten, die großräumige Einblicke in die Landschaft des Oberrheins erlauben, sind die Oberrheinkarte von Waldseemüller von 1513 und die Elsass-Karte von Specklin von 1573.
Die farbigen Reliefdarstellungen in der Waldseemüller Karte deuten auf die Stufen der Bewaldung hin (Abb. 1). Fast rein landwirtschaftlich genutzte Gebiete gab es im Südschwarzwald im Münstertal, um den Titisee und im Elztal; ferner zwischen Baden-Baden und dem Kinzigtal sowie am Abhang der Ostvogesen. Stärker entwaldete Gebiete waren der gesamte Schwarzwald und die Vogesen (Abb. 1).
Bedeutsam ist diese Karte auch für große Waldgebiete der Rheinebene wie den Bienwald, den Hagenauer Wald und den Hardtwald bei Colmar; sie sind hier mit einer Einzelbaumsignatur dargestellt. Damit wird der Charakter dieser Wälder treffend gekennzeichnet: Sie waren um 1500 und in den Jahrhunderten danach stark aufgelichtete, mit Wiesen und Äckern durchsetzte Weide-Wälder, so genannte Hardtwälder, in denen geschlossene Waldpartien mit dichtem Baumbestand die Ausnahme waren (Abb. 1).
Zur Entschlüsselung der Landschaftszustände in der Rheinaue und benachbarter Bereiche auf der Niederterrasse des Rheintales dient die Karte von Specklin: Für die Auewälder des Ortenaukreises lassen sich Ortsbezeichnungen sowie Verbleib und Verschwinden von Auewald näherungsweise festhalten. Den Auewald des Naturschutzgebietes Taubergießen gab es zu diesem Zeitpunkt nicht. Geographisch lag das heutige Naturschutzgebiet vor 450 Jahren im unkorrigierten Vollrhein. Es bestand aus Gewässern, Kiesbänken und plantagenartig genutzten Inseln mit Weichholzgebüsch. Aus der Landschaft verschwunden sind historische Auewaldbereiche bei Rhinau Süd, Kappel/Wittenweier, Altenheim, Straßburg und Gerstheim (Abb. 2).
In der Karte von Specklin sind folgende, heute unbekannte Waldarten zu finden: der Hardtwald – meist als Niederwald genutzt; der Kulturwald in der Umgebung von Auedörfern mit Obstbäumen; sowie der Kulturwald der Vorbergzonen mit Nussbäumen und Esskastanien (Abb. 2).
Die Zeit der Rheinverlegung (1690-1840)
Abb. 3: Prinzip der Rheinverlegungen 1690-1840 (nach Seutter-Karte 1720, modifiziert).
Abb. 4: Links: Rheinverlegungen nach 1690 südlich Straßburg: Verlegung 1730-1788. Rechts: Gebietsgewinn Frankreichs 1788-2014 (nach Cours du Rhin 1788, modifiziert).
Mit dem 30jährigen Krieg (1618-1648) beginnt eine 200 Jahre dauernde Phase der kriegsbedingten Landschaftsveränderungen. Während der Kriege beanspruchten der Festungsbau, der Ausbau von ständig zu unterhaltenden, neuen Verteidigungslinien in der Rheinaue sowie die häufig wiederkehrenden Reparationshiebe riesige Holzmengen. Eine nachhaltige und planmäßige Wiederverjüngung der Wälder war nicht möglich. Ausnahmen bildeten nur wenige Wälder in der Rheinaue und an Zuflüssen zum Rhein, deren Eichen und Ulmen dem Militär für Verteidigungs- und Siedlungszwecke vorbehalten waren.
Besonderes Augenmerk verdienen die drastischen Landschaftsveränderungen in der Rheinaue durch großflächige Rheinverlegungen. Ludwig der XIV und seine Nachfolger verfolgten das Ziel, den ganzen Rhein unter französische Oberhoheit zu bringen. Die Staatsgrenze im Rhein zwischen Frankreich und dem Alten Kaiserreich wurde durch überörtlich durchgeführte Dammbauten am elsässischen Rheinufer und dauerhaft unterhaltene Ablenkbauwerke im Rhein künstlich nach Osten verschoben. Ein wesentliches Prinzip der Rheinverlegung bestand auch darin, stark ausgebildete Hauptarme im Westen des Flusses durch Dämme abzutrennen. Das Ostufer zwischen Basel und Karlsruhe wurde durch die Wassermassen in weiten Bereichen zum Nachteil der badischen Auegemeinden abgeschwemmt, die auf diese Weise viel Wiesen-, Acker- und Waldgelände verloren. Die Rheinverlegungen dauerten 150 Jahre, bis 1840 (Abb. 3).
Verlegungen des Flusses um mehrere hundert Meter waren die Regel. Spektakuläre Verschiebungen um bis zu 1,5 Kilometer nach Osten gab es beispielsweise bei Steinenstadt, Neuenburg, Breisach, Rhinau/Wittenweier und im Süden und Norden von Straßburg. Mit der Flussverlegung war ein Kulturlandschaftsprogramm im Elsass verbunden, das dort die abgeschnittenen Flussteile standörtlich veränderte und zu Wiesen, Äckern, Obstbaumflächen und Wald umwandelte. Für das Gebiet des Ortenaukreises südlich von Straßburg sind die langfristigen Veränderungen in Abb. 4 zusammengefasst. Ausgangspunkt ist die Landschaft von 1788: Anhand der von Nord nach Süd verlaufenden, damaligen Gemarkungsgrenzen und der Flussarme des Rheins sind Ergebnisse der Flussverlegung erkennbar. Die gelbe Nord-Süd-Linie der Gemarkungsgrenzen gibt den Verlauf des Hauptflusses von ca. 1730 wieder (Abb. 4 links).
Bereits 1788 ist der Schifffahrtsweg um 300 bis 500 Meter nach Osten verschoben (Abb. 4, links). Bis 1840 beziehungsweise heute ist ein beträchtlicher Gebietsgewinn im Elsass durch die Rheinverschiebung eingetreten (Abb. 4 rechts). Einen Sonderfall der Verschiebung stellt das Naturschutzgebiet Taubergießen dar (Abb. 4, gemeindefreies Gebiet Rhinau). Auch dort fanden Verschiebungen nach Osten statt. Frankreich erreichte aber, dass die Gemarkungsgrenzen von Rhinau auf heute deutschem Gebiet über die Jahrhunderte unverändert blieben. Das Schutzgebiet wurde durch die Rheinkorrektion vom Fluss zum Festland verändert. Die orchideenreichen Gschlederwiesen und der Auewald Taubergießen, die wesentlichen Teile des heutigen Naturschutzgebietes, sind somit Früchte der Flussverlegungen und der Rheinkorrektion (Abb. 4).
Das Jahrhundert der Rheinkorrektion (1800-1885)
Abb. 5: Oben: Die Rheinaue vor der Rheinkorrektion 1840; unten: nach der Korrektion 1885 (nach Lauf des Rheins 1838, Honsell 1885, modifiziert).
Abb. 6: Rheinkorrektion 1840-1885: Melioriertes Flussgebiet, Rodung Auewald, Altauewald (nach Honsell 1885, modifiziert).
Die Landschaftsveränderung der Offenburg/Straßburger Rheinaue durch die Rheinkorrektion wird häufig auf den Bau der Dämme am neuen Rhein (Tulla Rhein) reduziert. Damit wird man dem Jahrhundertwerk der Rheinkorrektion nicht gerecht. Mit fast 100 Jahren dauerte die Korrektion wesentlich länger als der Bau des begradigten Tulla Rheins. In der ersten Phase (1800 bis 1840) wurde die Begradigung des Flusses vorbereitet. In der zweiten Phase wurden der Fluss verengt und begradigt sowie die Standorte der heutigen Auewälder künstlich geschaffen (1840-1885).
Zur Vorbereitung der Korrektion gehörten die Neuregelungen von Staatsgrenze, Hoheit, Eigentum und Nutzung am Rhein und in der Aue. In diese Zeit fielen auch die Denkschriften von Oberst Tulla, in denen die Schaffung neuer Auewälder im Gebiet des alten Flusses erwähnt wird.
Eine wichtige Vorarbeit vor der Flusskorrektion war die Neugestaltung und die Verbesserung der landseitigen Dammsysteme an den Ufern des unkorrigierten Rheins. Die ausgedehnten Lücken im landseitigen Dammsystem mussten vor der Korrektion geschlossen sein, um die Hochwassersicherheit in der Rheinaue während der Korrektion zu gewährleisten (Abb. 5 oben). Frankreich dagegen hatte schon lange vor der Korrektion ausgedehnte und überörtlich geplante Schutzdämme gebaut. In deren Schutz konnte die Acker- und Wiesenzone in der elsässischen Aue im 18. Jahrhundert bedeutend erweitert werden.
Während der Vorbereitungszeit der Begradigung war der über zwei Kilometer breite Rhein mit seinen Inseln und Uferstreifen intensiv genutzt. Die Bevölkerung zog den besten Nutzen aus Inselabtrag und Inselneubildung aus den landschaftsprägenden Weichholz-Plantagen für Faschinen und Brennholzgewinnung sowie Gebieten mit landwirtschaftlicher Nutzung (Abb. 5 oben). Auf großen Strecken des Südlichen Oberrheins begannen die Korrektionsarbeiten erst nach 1850. Jetzt erst wurden die Dämme des neuen Rheins gebaut und in gut drei Jahrzehnten zum 200 Meter breiten Fluss ausgebildet.
Die extremen Landschaftsveränderungen durch die Flussbegradigung lassen sich kurz zusammenfassen: Das ganze alte Flussgebiet wird verlandet (Abb. 5, unten). Aus Flussstandorten werden Landstandorte, mehrheitlich in der Qualität von Hartholzwäldern, geeignet unter anderem für Eiche, Esche, Ulme, Ahornarten, Kirsche, Buche, Robinie und Schwarznuss. Vor der Korrektion waren die wenigen Auewald-Standorte des Flussgebietes vor allem für Weiden und Pappeln geeignet, die als Faschinengebüsche genutzt wurden.
Während der Korrektion wurden beträchtliche Waldteile mit besserer Standortqualität ausgesucht, gerodet und in landwirtschaftliche Nutzung überführt. So erhielt die landwirtschaftliche Nutzung bis 1885 den höchsten je erreichten Flächenanteil. Außerhalb der landseitigen Dämme, im Bereich der Altaue, konnten einige Waldteile durch Pflanzung zu Mittelwäldern umgewandelt werden. Am Ende der Korrektion gab es weniger Dämme in der Aue als am Beginn (Abb. 6).
Verstädterung der Rheinaue (1885-2014)
Abb. 7: Verstädterung Rheinaue 1885-2014: Siedlungsexpansion und Auewald-Rodung. (nach topografischen Karten 1: 25 000, Landesvermessungsamt Baden-Württemberg, modifiziert).
Besonders stark war die Siedlungs- sowie die Verkehrs- und Energie-Infrastrukturerweiterung in der Aue. Neben Straßburg und Kehl sind weitere Auedörfer beträchtlich angewachsen. Während die Siedlungsfläche von 2 % Anteil an der Auefläche im Jahre 1885 mit steigender Tendenz auf heute über 14 % anstieg, reduzierte sich durch starke Rodungen von Auewald der Waldanteil im gleichen Zeitraum von 35 % auf 24 %. Beispiele für große Auewaldverluste sind der Auewald von Rhinau, Erstein/Plobsheim, Straßburg und Altenheim/Kehl sowie das Naturschutzgebiet Taubergießen. Diese Verluste gingen insbesondere an Hafenanlagen und Kiesgruben. Der Rheinausbau im 20. Jahrhundert mit den Staustufen hat die flussbegleitenden Auewälder vollends zu dienenden Elementen der Zivilisationslandschaft gemacht (Abb. 7).
170 Jahre Aufbau der Auewälder
Abb. 8: 170 Jahre Aufbau der Auewälder während und nach der Rheinkorrektion.
In der Naturschutz- und Hochwasserschutzdiskussion blieb der Aufbau der heutigen Auewälder in 170 Jahren bisher ohne Einfluss auf ihre Bewertung. Das sollte nicht so bleiben, denn ohne waldbauliches Handeln gäbe es die Auewälder in ihrer Biodiversität nicht. Die Aufbauarbeiten in den Auewäldern begannen 1840 mit der Rheinkorrektion. Dabei wurde der plantagenartige Faschinenwald kultiviert und bis 1890 perfektioniert. Die Produktion gewaltiger Faschinenmengen, die Brennholzversorgung und der Erhalt baumloser Weideflächen bestimmten das Geschehen (Abb. 8).
Um 1880 ließ der Bedarf an Faschinen nach. Die Korrektion hatte ihren Höhepunkt überschritten und die Faschine zur Ufersicherung wurde zunehmend durch Flussbausteine ersetzt, weshalb mit dem Aufbau von Mittelwäldern begonnen wurde. Der Anteil von Eichen, Eschen und Ulmen blieb jedoch gering (Abb. 8). Von 1890 bis 1924 wurden in den meliorierten Auewäldern Harthölzer jeder Art angepflanzt: vornehmlich Eichen, Eschen und Ulmen, ergänzt mit Ahornarten und Hainbuchen. Das Baumartenspektrum wurde systematisch erweitert. Dem neuen Auewald galt die forstliche Sorgfalt.
Die Gemeinden entschlossen sich zusammen mit der Forstverwaltung, die Bewirtschaftung der Auewälder in Form der Mittelwälder zu verlassen. Durch Beschluss des Badischen Landtags von 1924 wurde der Hochwald als neue Form der künftigen Auewälder eingeführt, was bis heute beibehalten wurde.
Baumhöhen über 30 Meter konnten jetzt erreicht werden, was früher unmöglich war. Die jedem Mittelwald eigenen Kahlflächen wurden geschlossen. So entstand der heutige Vielfalts-Auewald mit reicher Struktur, weil auch Sträucher und Lianen in die Auewälder durch Pflege integriert wurden (Abb. 8).
Der Kulturwald als Maßstab für Flussauen
Die durch Waldbau erzeugte Vielfalt ist das wesentliche Element. Natürliche Waldgesellschaften oder die potenzielle natürliche Vegetation können nur einen Bruchteil dieser Vielfalt erklären. Sie verleiten auch dazu, die Möglichkeiten der Natur ohne den Menschen zu überschätzen. Seit 500 Jahren kann im Detail nachgewiesen werden, dass die Menschen sich nie mit dem begnügen konnten, was die Natur zufällig hinterließ. Immer wurde die Natur mit naturnaher Pflanzung, Erosionssicherung und Dammbau zu größerer Biodiversität und Nachhaltigkeit gebracht. Auch heute leisten die Vielfalts-Auewälder deutlich mehr für Wasser-, Boden- und Naturschutz sowie naturnahe Erholung als Stilllegungen es mit dem Ziel "natürliche Waldgesellschaften" oder "potenzielle natürliche Vegetation" könnten.
Auch im forstlich begleiteten Waldnaturschutz kommt der Kulturwald zu kurz. Es wird zu wenig betont, dass Leitvorstellungen von "Regionalen Waldgesellschaften" oder "natürlichen Waldgesellschaften" nur Hilfskonstruktionen für den Aufbau naturnaher Wälder sind. In einer uralten Kulturlandschaft dürfen solche Leitbilder nicht zum alleinigen Naturschutz Maßstab werden, der den Kulturwald in Schutzkonzepten für Nationalparke, Biosphärenreservate, Natura 2000 Gebiete und Naturschutzgebiete ausschließt.
Die Ergebnisse solcher Naturschutz-Konzepte werden noch zu wenig hinterfragt. Seit 1500 sind in der Rheinaue vier Kulturlandschaften geschaffen worden. Die Theorie der Naturlandschaft, vertreten durch die Vegetationskunde, meint dagegen, bis zur Rheinkorrektion habe sich die Urnatur in der "Wildstromlandschaft" erhalten können. Deshalb hätten Pflanzensoziologen Reste der Urnatur in Gestalt natürlicher Waldgesellschaften im 20. Jahrhundert gefunden. Die Geschichte zeigt, dass Kulturwälder eine jahrtausendealte Tradition haben. Nicht die Vorstellungen von natürlichen Waldgesellschaften als Abbilder des Urwaldes, sondern die Kulturwälder stellen das Naturerbe dar, weswegen diese Vielfalt und Seltenheit heute in europäischem Rahmen geschützt werden kann.