Baustellen als Goldgruben für die Wissenschaft
1999 begannen die Arbeiten für die Autobahn-Westumfahrung der Stadt Zürich. Die Baustellen an den Tunnelportalen des Zürcher Uetlibergs erwiesen sich als regelrechte Goldgruben. Die im Lehmboden gefundenen "Goldklumpen" waren etwa einen Meter lang, rund, wiesen teilweise Durchmesser von bis zu 80 cm auf und wogen ungefähr 150 kg. Es waren Baumstümpfe aus der Endphase der letzten Eiszeit, des Spätglazials, mit einem Alter von 12'700 bis 14'300 Jahren vor heute (cal BP).
Im Frühling 2013 entdeckten Jahrringforscher der Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL in einer Baugrube im Stadtzürcher Quartier Binz, unweit des ersten Fundortes entfernt, erneut subfossile Föhrenstümpfe (Abb. 1 und 2).
Abb. 2 - Dieser spätglaziale Föhrenstumpf war bis zu seiner Entdeckung ca. 14'000 Jahre in den Lehmschichten des Uetlibergs luftdicht konserviert und daher gut erhalten geblieben. Foto: Gottardo Pestalozzi (WSL)
Mit Hilfe der Radiokarbonmethode (C14-Datierung) liess sich bei einigen Holzproben ein Alter zwischen 12‘846 und 13‘782 Jahren (BP) ermitteln. Die neu entdeckten Hölzer sind also ungefähr gleich alt wie diejenigen von 1999. Bis Juni 2013 förderten die Bauarbeiten gegen 200 Kiefernstümpfe zu Tage. Mit Unterstützung der Bauleitung erreichten die WSL-Forscher die Bergung der Föhren und liessen sie in mehreren Lastwagenladungen an die Forschungsanstalt transportieren (Abb. 3).
Abb. 3 - Von der Baugrube in die Forschungsanstalt: Eine Autoladung voller späteiszeitlicher Stammscheiben. In den nächsten Jahren dürften sich Forscher aus aller Welt dafür interessieren. Foto: Daniel Nievergelt (WSL)
BP = Before Present, bezeichnet eine Zeitskala, die in der Archäologie, der Geologie und anderen Wissenschaften benutzt wird, um Ereignisse der Vergangenheit zu datieren. Weil sich das Heute zeitlich stets verändert, wurde in internationaler Übereinkunft der 1. Januar 1950 bzw. das Kalenderjahr 1950 als Bezugszeitpunkt der Skala gewählt. (Quelle: Wikpedia)
cal BP = kalibrierte Zeitskala. Die Kalibrierung ist nötig, weil der 14C-Gehalt der Atmosphäre im Verlauf der Erdgeschichte erheblichen Schwankungen unterworfen war. (Quelle: Wikipedia)
subfossil = Organismen aus prähistorischer Zeit, die sich nicht oder nur teilweise versteinert haben. Im Unterschied zu Fossilien können diese mit der C14-Methode datiert werden. (Quelle: Wikipedia)
Lücken in der Jahrring-Chronologie schliessen
Für die Jahrring- und Klimaforschung sind die im Zürcher Lehmboden über Jahrtausende konservierten Föhrenstümpfe tatsächlich Gold wert. Jahrringe sind die genausten geologischen Uhren; zuverlässig zeichnen sie Jahr für Jahr die Klimaentwicklung auf.
Deutsche Wissenschafter haben in den letzten Jahrzehnten für Mitteleuropa eine Jahrring-Chronologie erstellt, die 12'594 Kalenderjahre (cal BP) zurückreicht, also bis ins Jahr 10’644 v. Chr. Forscher der Eidg. Forschungsanstalt WSL und des Geographischen Instituts der Universität Zürich (GIUZ) konnten dank den 1999 gefundenen Zürcher Föhren zudem für den Zeitraum zwischen 12'700 und 14'300 vor heute (cal BP) zusätzliche Chronologien mit Funden aus der Schweiz aufbauen (vgl. Abb. 4).
Anhand der 2013 neu gefundenen Baumstümpfe werden die Wissenschafter nun versuchen, die mitteleuropäische Jahrring-Chronologie zu ergänzen. Durch akribischen Vergleich von Jahrringmustern versuchen sie, die Überlappungen zu finden, die es für eine absolute Datierung braucht. Vielleicht lässt sich mit den neu gefundenen Hölzern die vorhandene Lücke schliessen, was die absolut datierte Chronologie um rund 2000 Jahre verlängern würde.
Jahrringe enthalten Informationen zum vergangenen Klima
Das Spätglazial war eine klimatisch bewegte Zeit. Die Temperaturen schlugen von Eiszeit auf heutiges Niveau um. Diese Erwärmung verlief nicht stetig, sondern mit Ausschlägen nach oben und nach unten. So fiel die Temperatur für einen Zeitraum von nur 30 Jahren um 2 bis 6 Grad Celsius, um dann genau so rasch wieder zu steigen. Die Jahrringe der Bäume aus dem Zürcher Lehmboden können neue Erkenntnisse liefern, wie sich der Klimawechsel abgespielt hat. Jahrringe, Zustand und Lage der gefundenen Baumstrünke erlauben Schlüsse über vergangene Temperatur- und Niederschlagsschwankungen und zeugen von Störungen wie Feuer, Stürmen oder Erdbeben.
Die neusten Funde reihen sich in eine weltweite Sammlung von Umweltarchiven ein und können wichtige Puzzleteile zur Beantwortung von Forschungsfragen beitragen: Wie war das Klima nach der letzten Eiszeit? Welche Ereignisse haben die Landschaft um Zürich, aber auch jene der Erde, geprägt? In welcher genetischen Beziehung stehen die subfossilen Zürcher Kiefern mit ihren heutigen Verwandten?
(TR)