Wildunfälle sind schreckliche Erlebnisse: Plötzlich taucht irgendwo seitlich im Blickfeld ein undefinierbarer Schatten im Scheinwerferkegel des Fahrzeugs auf, dann folgt fast zeitgleich ein harter Schlag gegen die Karosserie. Fassungslosigkeit! Als Fahrer ist man der Situation weitgehend machtlos ausgeliefert. Noch benommen vom Schock bringt man das Fahrzeug eher instinktiv als kontrolliert am Straßenrand zum Stehen. Sofern das Tier durch die Kollision sofort getötet wurde und keine weiteren Fahrzeuge unterwegs sind, herrscht eine beklemmende Stille in der Dunkelheit.
Täglich spielen sich bundesweit solche oder ähnliche Szenen ab. Wildunfälle lösen bei den Betroffenen meist tiefe emotionale Reaktionen aus, denn es ist häufig auch das erste Mal, am Tod eines größeren Lebewesens unmittelbar beteiligt zu sein. Noch viel dramatischer wird die Situation, wenn das angefahrene Tier nicht sofort getötet wurde und noch klagend auf seine Erlösung wartet. Im günstigsten Fall ist ein Jäger dann schnell zur Stelle.
Wildunfälle in Zahlen
Mit Wildunfällen werden gewöhnlich die Wildarten Reh, Wildschwein sowie Hirsche in Verbindung gebracht, die insbesondere wegen ihrer Größe, ihrer weiten Verbreitung und Häufigkeit ein erhebliches Gefährdungsrisiko im Straßenverkehr darstellen. Die Statistik des Deutschen Jagdschutzverbandes (DJV) weist bundesweit für das Jagdjahr 2009/2010 allein für Reh, Wildschwein, Rothirsch und Dammhirsch zusammen rund 240.000 Stück Fallwild aus, die ganz überwiegend den Verlusten durch den Straßenverkehr zugerechnet werden. Diese Größenordnung wird auch durch die Zahlen des Gesamtverbands der deutschen Versicherer (GDV) für die regulierte Zahl von Wildunfallschäden bei den KfZ-Versicherungsgesellschaften gestützt. Im Durchschnitt ereignet sich demnach also etwa alle zwei Minuten ein Wildunfall irgendwo auf Deutschlands Straßen.
Abb. 2: Für zwei Wolfs-Brüder endete ihre Reise auf baden-württembergischen Autobahnen tödlich: Der eine wurde im Juni auf der A5 bei Lahr, der andere auf der A8 bei Merklingen überfahren. Nach genetischen Untersuchungen ist auch die Herkunft der beiden Wolfsrüden bekannt: Demnach sind sie aus den Alpen nahe Chur/Ostschweiz zugewandert. Im Bild: Der überfahrene Wolfsrüde wird von den FVA-Mitarbeitern untersucht.
Erfassung von Wildunfällen
Diese Zahlen stellen sicherlich nur die untere Grenze des Konflikts Straßenverkehr-Wildtier dar. Die meisten Experten gehen von einer hohen bis sehr hohen Dunkelziffer aus, wonach es durchaus plausibel ist, dass jedes Jahr zusätzlich mehrere 100.000 Groß- und Mittelsäuger im Straßenverkehr verunglücken. Woran liegt das? Zum einen sind natürlich außer den vier genannten Arten auch alle anderen im Bundesgebiet anzutreffenden Wildtiere ähnlich von der Straßenmortalität betroffen. Diese Wildunfälle werden aber aus mehreren Gründen noch weniger genau erfasst.
Zum einen liegt es an der methodischen Erfassbarkeit. Beispielsweise wird ein Wildunfall mit einem Fuchs, bei dem kein Sachschaden entstanden ist, nirgendwo dokumentiert, weil der Fahrer ohne jemanden zu benachrichtigen einfach weiterfährt. Ein Jäger wird das tote Tier kaum finden. Das Gleiche gilt für Tiere, die zunächst schwer verletzt in die nächstgelegene Deckung flüchten und dort verenden. Viele tote Tiere werden als Aas gefressen. Zum anderen deckt die Haftpflichtversicherung generell keine Schäden bei Wildunfällen ab, weshalb Fahrer solch versicherter Fahrzeuge trotz Wildschaden häufig ohne Meldung an die Polizei oder den Jagdberechtigten den Unfallort verlassen, um sich die Mühe zu ersparen.
Wildunfälle in der amtlichen Statistik
Von der Polizei aufgenommene Wildunfälle finden nur dann in der Statistik Berücksichtigung, wenn es sich um einen "Schwerwiegenden Unfall" bzw. "Schwerwiegenden Wildunfall mit Sachschaden" im Sinne des Straßenverkehrsunfallstatistikgesetzes (StVUnfStaG) handelt. Voraussetzung dafür ist ein Personenschaden, eine Ordnungswidrigkeit, eine Straftat, oder dass mindestens ein beteiligtes Fahrzeug den Unfallort nicht mehr aus eigener Kraft verlassen kann. Wildunfälle, bei denen nur leichter Sachschaden entsteht, so genannte Bagatellunfälle, werden nicht in der Statistik berücksichtigt. Glücklicherweise enden die meisten Wildunfälle im Vergleich zu anderen Verkehrsunfällen mehr oder weniger glimpflich, was häufig an der verbesserten Sicherheitstechnik liegt. Im Ergebnis zeigt sich das an der amtlichen Straßenverkehrsunfallstatistik: Für das Jahr 2006 weist sie beispielsweise bundesweit insgesamt 424.444 Unfälle mit Personenschaden bzw. schwerwiegendem Sachschaden aus, davon entfallen aber lediglich 2.712 oder 0,6 % auf Wildunfälle. Im Vergleich zur Jagdstatistik oder den Angaben der Versicherer werden aber noch nicht einmal 2 % der Wildunfälle aufgeführt. Die Straßenverkehrsunfallstatistik ist wegen der aktuellen selektiven Berücksichtigung von Unfällen im Straßenverkehr vollkommen ungeeignet, auch nur annäherungsweise ein realistisches Bild der Wildunfallsituation in Deutschland zu beschreiben. Und dass, obwohl bei der Einbeziehung aller Arten von Verkehrsunfällen, also auch solcher mit leichtem Sachschaden, in vielen Regionen Deutschlands der Wildunfall bereits unter allen Unfallarten im Verkehr die häufigste ist.
Schäden durch Wildunfälle
Exemplarisch für eine ganz typische jährliche Wildunfallbilanz weist das Bundesamt für Statistik für das schon oben aufgeführte Jahr 2006 für Verkehrsunfälle mit der Unfallursache "Wild auf der Fahrbahn" 2.851 verunglückte Personen aus, davon 2.279 Leichtverletzte, 562 Schwerverletzte und 10 Getötete. Unter Verwendung der Kostensätze für Personen-
sowie Sachschaden des Jahres 2004 (BASt-Info 02/06) ergibt sich dadurch ein volkswirtschaftlicher Schaden für Personenschäden durch Wildunfälle in Höhe von ca. 70 Mio. Euro. Hinzu kommen die Regulierungsleistungen der KfZ-Versicherer, die sich nach Angaben des Gesamtverbands der deutschen Versicherer beispielsweise für 2009 auf 518 Mio. Euro belaufen. Die monetäre Bewertung der Schäden durch Wildunfälle erreicht also in der Bundesrepublik leicht Dimensionen um 600 Mio. Euro und mehr jährlich, obwohl in dieser Bilanz immer noch zahlreiche Wildunfälle aus den dargelegten Gründen unberücksichtigt bleiben.
Schäden durch Wildtiere im Vergleich
Zum Vergleich dazu eine Zahl aus der Waldwirtschaft: Der Deutsche Forstwirtschaftsrat (DFWR) hat am 05.05.2010 zusammen mit dem Bundesamt für Naturschutz (BfN) und der Arbeitsgemeinschaft Naturgemäße Waldwirtschaft (ANW) ein Gutachten zur Wald-Wild-Problematik in der Bundesrepublik Deutschland veröffentlicht. Für den Zaunbau zur Begrenzung von Waldschäden durch Wildtiere entstehen demnach jährliche Kosten in Höhe von rund 90 Mio. Euro. Diese 90 Mio. Euro entsprechen einem täglichen Schaden von 246.575 Euro – im Vergleich dazu entstehen täglich durch Wildschäden im Straßenverkehr Kosten von mindestens 1.643.835 Euro. Trotz dieses in den Größenordnungen sicherlich korrekten Vergleichs wird der etwa um den Faktor sechs niedrigere Wildschaden im Wald weitaus kontroverser und schärfer diskutiert und behandelt als der Wildschaden im Straßenverkehr.
Schadensersatz beim Wildunfall
Abb. 4: Die Verkehrsinfrastruktur degradiert, fragmentiert und zerstört Lebensräume.
Aus Sicht eines Fahrers stellt sich vor allem die Frage, ob und wer mögliche Schäden bei einer Kollision mit einem Wildtier übernimmt. Spätestens ab hier wird es kompliziert; je nach Sichtweise wird dabei sehr fein unterschieden. Es beginnt damit, dass der bei einer Kollision eines Fahrzeugs mit einem Wildtier entstehende Schaden im juristischen Sinne eigentlich kein Wildschaden ist, sondern als Wildunfall bezeichnet wird. Mit Wildschaden wird juristisch nur der durch Wild verursachte Schaden in der Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft bezeichnet. Bei den KfZ-Versicherungen wird in der Regulierung wiederum zwischen Teil- und Vollkasko unterschieden. Rechtsgrundlage dafür ist § 12 der Allgemeinen Kraftfahrzeugbedingungen (AKB). In der AKB ist jedoch nicht mehr die Sprache vom Wildunfall sondern vom "Wildschaden". Der Wildunfall ist hier also der Wildschaden im Straßenverkehr. Ein Wildunfall liegt einschränkend jedoch nur bei einem Zusammenstoß zwischen einem in Bewegung befindlichen Fahrzeug mit Haarwild gem. § 2 BJagdG vor. Dies bedeutet, dass Wildunfälle mit Arten nicht nach § 2 BJagdG wie Wölfe, Biber oder Bären im Rahmen der Teilkasko ausgenommen sind, obwohl sie aufgrund ihres Aussehens mit Haarwild vergleichbar sind. Gleiches gilt für Zusammenstöße mit Federwild oder Nutztieren. Die Versicherung kann sich bei einem Zusammenstoß mit solchen Tierarten auf Leistungsfreiheit berufen (OLG Frankfurt, R+S 05, 102). Der Begriff "Haarwild" i. S. v. § 2 Nr. 1 des Bundesjagdgesetzes ist nicht auslegungsfähig (LG Köln, VersR 91, 222). Hier hilft nur eine Vollkaskoversicherung weiter, die einen Wildunfall wie einen sonstigen Verkehrsunfall einstuft, jedoch anders als bei einem Teilkasko jede Regulierung auf den Schadensfreiheitsrabatt anrechnet. Viel komplizierter wird es bei einem Schaden ohne Wildberührung. Verunglückt ein Fahrer beim Ausweichen eines Tieres, liegt kein Wildschaden im eigentlichen Sinne vor, sondern es besteht bestenfalls die Möglichkeit, den Schaden als Rettungskostenersatz (§§ 62, 63 VVG; ab 01.01.08 § 90 VVG n. F.) geltend zu machen, wobei die volle Beweislast, auch die der wirtschaftlichen Angemessenheit, vollständig bei Versicherungsnehmern liegt.
Wildunfälle und Ökologie
Wildunfälle haben auch beträchtliche ökologische Auswirkungen. Der Mensch beansprucht für seine Verkehrsinfrastruktur enorme Flächen. Dabei degradiert, fragmentiert oder zerstört er die Lebensräume von Wildtieren in einem bisher nie dagewesenen Ausmaß. In Folge der Konkurrenz kommt es so zu verschiedenen Konflikten. Ziel muss daher sein, nicht nur die Folgen für den Menschen im Auge zu behalten, sondern auch die Auswirkungen auf die Wildtiere und die Ökosysteme zu berücksichtigen. In diesem Sinne ist es wesentlich sinnvoller, als Wildunfall jede Kollision eines beliebigen wildlebenden Tieres mit einem Kraftfahrzeug zu bezeichnen. Während im Regelfall das Tier dabei nämlich umkommt, entsteht am Fahrzeug meist noch nicht einmal ein Schaden. Es ist vielfach wissenschaftlich belegt, dass die Straßenmortalität von wildlebenden Tieren eine der Hauptursachen für deren immer häufiger existenzielle Gefährdung ist. Speziell diese dramatischen ökologischen Auswirkungen können nicht durch eine Konzentration von Lösungen auf die in Wildunfälle häufiger verwickelten jagdbaren Arten z. B. durch Erhöhung des Abschusses minimiert werden. Dies reduziert die gesamte Problematik in ungerechtfertigter Weise nur auf die wenigen aus menschlicher Sicht mit hohem Schadensrisiko behafteten Arten und kann im Gegenteil sogar noch zu einer Verschärfung der ökologischen Auswirkungen, z. B. durch Reduzierung des Vektortransports (Verbreitung durch andere Tiere), beitragen. Solche Lösungen können all den von Natur aus in geringeren Dichten vorkommenden Wildtieren wie Wildkatze, Luchs oder vielen kleineren und weniger mobilen Arten überhaupt nicht helfen. Angesichts von 850 Mill. Fahrzeugkilometern pro Jahr in der BRD (das entspricht etwa 2,25 Mio. Reisen zum Mond) und einem der am dichtesten ausgebauten Straßennetze der Welt ist der Umgang mit dem Straßentribut unter wildlebenden Tieren durch den Verkehr eine der großen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit.
Gesamtökologische Lösungsansätze
Abb. 7: Ein Rehbock überquert eine Wildbrücke, dokumentiert von einer Fotofalle.
Zum Erhalt vielfältiger vitaler Populationen sind deshalb alle Möglichkeiten zur Wiedervernetzung von Lebensräumen (z. B. Tierquerungshilfen) sowie zur Reduzierung der Fragmentierung von Landschaften (z. B. kein Neubau von Straßen in sensiblen Bereichen, Straßenrückbau) auszuschöpfen.
Hier hat ForstBW im Auftrag des Landes Baden-Württemberg mit der Entwicklung des Generalwildwegeplans durch die FVA wesentlich zur Einführung zielführender Instrumente zur Bewältigung der Fragmentierungsfolgen durch den Verkehr beigetragen. Als nächster Schritt ist eine Umsetzung dieses Instruments durch die ForstBW mittels fachlich kompetenter Begleitung zu forcieren. Letztlich kann aber jede beispielsweise schon durch den Verzicht auf die eine oder andere Fahrt mit dem eigenen Auto oder durch angepasste, langsamere Fahrweise insbesondere zu den Dämmerungs- und Nachtsstunden, ganz wesentlich zur Verringerung des Kollisionsrisikos mit Wildtieren beitragen.