In Deutschland leben ca. 1.400 xylobionte (=totholzbewohnende) Käferarten, von denen 115 Arten als "Urwaldreliktarten" bezeichnet werden. In Bayern sind aktuell 66 Arten dieser Liste bestätigt. Ein Drittel davon wurde auch bei der Erfassung der Artenvielfalt in bayerischen Naturwaldreservaten nachgewiesen. Darunter befinden sich auch drei Arten mit ihren zur Zeit einzig bekannten Vorkommen in Deutschland oder Bayern (s.u.). Die Erkenntnisse über das Vorkommen von Reliktarten in den Reservaten geben wertvolle Hinweise für die Entwicklung von Naturschutzkonzepten in Wirtschaftswäldern und unterstreichen den hohen Wert der Reservate für besonders anspruchsvolle totholzbewohnende Arten.
Zeugen unserer Waldgeschichte
Die 115 Urwaldreliktarten kommen nur noch vereinzelt in Mitteleuropa vor. Sie sind stark gebunden an Strukturkontinuität bzw. Habitattradition der Waldbestände sowie an die Kontinuität der Alters- und Zerfallsphase und stellen hohe Ansprüche an Totholzqualitäten und -quantitäten. In den kultivierten Wäldern Mitteleuropas sind diese Arten akut vom Aussterben bedroht oder bereits verschwunden. In Folge der langen Kulturtätigkeit des Menschen in Mitteleuropa existieren in Deutschland keine echten Urwälder mehr. Allerdings gibt es noch Waldbestände oder auch nur Altbaum-Ansammlungen, die eine weit zurückreichende Tradition an Habitatstrukturen aufweisen, die in Urwäldern häufiger, in der Kulturlandschaft aber besonders selten sind. Diese Habitattradition ermöglichte vielen xylobionten Käferarten das Überleben. Im Zuge der Ausweisung bayerischer Naturwaldreservate wurden bisher etliche dieser exklusiven Bestände mit ungebrochener Habitattradition als Naturerbe gesichert.
Urwaldreliktarten in Bayern
Naturwaldreservat | nach 1985 nachgewiesene Urwaldreliktarten |
Fasanerie – München | Corticeus fasciatus, Euryusa coarctata, Abraeus parvulus, Osmoderma eremita, Xylita livida |
Eichhall – Rohrbrunn | Corticeus fasciatus, Trox perrisii, Osmoderma eremita, Ceruchus chrysomelinus, Elater ferrugineus, Crepidophorus mutilatus, Megapenthes lugens, Gasterocercus depressirostris |
Waldhaus – Ebrach | Osmoderma eremita, Mycetochara flavipes, Allecula rhenana |
Wettersteinwald – Mittenwald | Ampedus auripes, Cryptolestes abietis, Xestobium austriacum, Corticaria lateritia, Bius thoracicus, Xylita livida |
Jacklberg – Garmisch | Ampedus auripes |
Friedergries – Garmisch | Rosalia alpina |
Kienberg – Berchtesgaden | Rosalia alpina |
Donauhänge – Kelheim | Gasterocercus depressirostris |
Platte – Kelheim | Corticaria lateritia |
Dürrenberg – Bodenwöhr | Ipidia binotata |
Mooser Schütt – Neuburg a.d.D. | Neatus picipes |
Schwarzwihrberg – Neunburg v.W. | Hadreule elongatulum |
Tab. 1: Liste der 22 Urwaldreliktarten in bayerischen Naturwaldreservaten |
Von 115 deutschen Urwaldreliktarten sind 86 Arten historisch und rezent für Bayern belegt. Von 20 Arten existieren nur Nachweise vor 1950, sie gelten als ausgestorben oder verschollen. Somit sind 66 Arten aktuell in Bayern nachgewiesen. In zwölf bayerischen Naturwaldreservaten wurden bisher 22 Reliktarten gefunden (Tab. 1), das ist ein Drittel des bayerischen Gesamtbestandes. Vergleichsweise sind in Thüringen 38 Urwaldreliktarten nachgewiesen, wobei lediglich von 17 Arten aktuelle Vorkommen bekannt sind. In acht der bayerischen Reservate wurde bisher nur eine Reliktart gefunden. Herausragend sind die Naturwaldreservate "Eichhall" im Spessart mit acht Arten, "Fasanerie" im Norden Münchens und "Wettersteinwald" bei Mittenwald-Elmau mit jeweils sechs Arten sowie "Waldhaus" bei Ebrach im Steigerwald mit drei Arten.
Reservate mit Vorkommen mehrerer Reliktarten sind durch eine ungebrochene Habitattradition auf Grund ihrer besonderen Nutzungsgeschichte charakterisiert. Die Bau- und Wertholzproduktion mit bis über 400-jährigen Umtriebszeiten bei der Traubeneiche zeichnet die Abteilung "Eichhall" im Hochspessart aus. In der "Fasanerie" sicherten die Reliktbestockungen aus der Hute- und Mittelwaldzeit den Urwaldreliktarten ihr Überleben, im "Wettersteinwald" die bis 275-jährigen Alpendost-Fichten-Waldbestände und im "Waldhaus" die Buchen-Starkholzzucht mit bis zu über 300-jährigen Altbuchen.
Abb. 2: Der boreomontan (Zusammenfassung der borealen Zone mit den warm-gemäßigten Gebirgszonen) verbreitete Schwarzkäfer (Bius thoracicus) galt in Deutschland bereits als ausgestorben. 1987 wurde er im Naturwaldreservat Wettersteinwald wieder gefunden. Inzwischen gelangen zwei weitere Einzelnachweise in den Nationalparken Berchtesgaden und Bayerischer Wald (Foto H. Bußler).
Die Letzten ihrer Zunft
Innerhalb Deutschlands ist der Raubplattkäfer (Cryptolestes abietis) nur aus dem Naturwaldwaldreservat "Wettersteinwald" belegt, für Deutschland wurden sieben Exemplare 1987 erstmals nachgewiesen. Im Naturwaldreservat "Mooser Schütt" westlich Neuburg an der Donau liegt der einzige autochthone bayerische Fundort des Schwarzkäfers (Neatus picipes). Als ausgestorben oder verschollen galt in Bayern Glanz-Knochenkäfer (Trox perrisii). Dieser "Untermieter" von Hohltauben- und Waldkauzhöhlen in urständigen Wäldern wurde 2003 im Naturwaldreservat "Eichhall" wieder gefunden. Die Naturwaldreservate in Bayern sind wichtige Refugial- und Spenderflächen für die Artenvielfalt unserer Wälder. Obwohl ihr Anteil an der Waldfläche nur 0,27 Prozent beträgt, beherbergen sie ein Drittel des Gesamtbestands der in Bayern nachgewiesenen "Urwaldreliktarten" xylobionter Käfer. Diese Reliktarten sind aber nur eine Facette des besonderen Wertes der Naturwaldreservate, denn mit ihnen ist eine Vielzahl weiterer gefährdeter Organismen assoziiert. Den bayerischen Naturwaldreservaten kommt daher hinsichtlich der zu schützenden und zu bewahrenden biologische Vielfalt eine große Verantwortung zu.