Die Dendrochronologie, die Wissenschaft der Baumjahrringe, liefert Grundlagen für unterschiedlichste Disziplinen. So lassen sich anhand der unregelmässigen Abfolge der Jahrringbreiten beispielsweise jahrhundertealte Holzstücke aus archäologischen Funden aufs Jahr genau datieren. Auch für die Rekonstruktion des Klimas vergangener Zeiten sind die in den Jahrringen gespeicherten Informationen von grösstem Interesse.
Im Gegensatz zur Dendrochronologie ist die Analyse der Jahrringe von Kräutern viel weniger etabliert. Der Basler Botaniker Heinrich Zoller veröffentlichte zwar um 1950 eine Arbeit über das Vorkommen von Jahrringen bei Kräutern und machte Altersangaben zu einigen Pflanzen der Walliser Trockensteppe. Seine Publikation stiess jedoch auf wenig Interesse.
Breites Alterssprektrum
Den Jahrringen von Kräutern habe man lange Zeit keine Beachtung geschenkt, weil ihnen keine Bedeutung für die Datierung von archäologischen Funden zukomme, erklärt Fritz Schweingruber, der sich an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) während vieler Jahre mit Baumjahrringen befasst hat.
Erst kurz vor seiner Pensionierung wandte sich Schweingruber den mehrjährigen Kräutern zu. Er bestätigte Zollers Beobachtung und fand bei den überdauernden Teilen zweikeimblättriger Kräuter ähnliche Strukturen wie bei den Bäumen. So sind etwa im Frühjahr die wasserleitenden Gefässe grösser als im Spätsommer. Diese Differenzierung ist laut Schweingruber zwar nicht bei allen, aber doch bei sehr vielen Arten deutlich erkennbar - allerdings braucht es dazu eine gute Lupe, denn die Jahrringe sind lediglich 0,04 bis 0,5 Millimeter breit.
Sind bei einer Pflanze mit einer Pfahlwurzel Jahrringe vorhanden, so lässt sich auch deren Alter bestimmen. Schweingruber stellte auf diese Weise fest, dass viele Kräuter ein erstaunlich hohes Alter erreichen. Ein Silbermantel (Alchemilla alpina) etwa kann bis zu 40 Jahre alt werden; beim Bewimperten Steinbrech (Saxifraga aizoides) wurden bis zu 22, bei der Kleinen Glockenblume (Campanula cochleariifolia) bis zu 19 Jahrringe gezählt.
Die Bestimmung des Alters von Kräutern erlaubt es, neue Erkenntnisse über die Entstehung und Dynamik von Pflanzengesellschaften zu gewinnen. So decken Arten, die zusammen eine Pflanzengesellschaft bilden, oft ein sehr breites Altersspektrum ab. In einem subalpinen Rasen kommen etwa einjährige Augentroste (Euphrasia stricta), zweijährige Enziane (Gentiana ciliata), zehnjährige Katzenpfötchen (Antennaria dioeca) und siebzigjährige Erikas (Erica carnea) vor. Erstaunlicherweise sind selbst in den wichtigen botanischen Werken kaum Angaben über das potenzielle Alter dieser Kräuter zu finden.
Als Schweingruber vor einigen Jahren begann, die Jahrringe von Kräutern zu untersuchen, war zunächst gar nicht klar, ob es sich bei den beobachteten Strukturen im Gewebe wirklich um Jahrringe handelte. Von solchen kann nur gesprochen werden, wenn die Ringe auch im Jahresrhythmus angelegt werden.
Mit Feldversuchen konnten Hansjörg Dietz und Georg von Arx vom Geobotanischen Institut der ETH Zürich zeigen, dass die meisten krautigen Pflanzen aber tatsächlich echte Jahrringe ausbilden. Dazu säten die Forscher unter kontrollierten Bedingungen Samen aus und wussten dadurch genau, wie alt die Pflanzen waren, die sie untersuchten.
Dietz interessiert sich für die Bestimmung des Alters von Kräutern, weil diese Methode nützlich ist, um das Besiedelungsmuster einer Art in einem Gebiet retrospektiv zu erfassen. Bei invasiven Arten - eingeschleppten Pflanzen, die sich stark vermehren und einheimische Arten bedrohen können - hat Dietz diesen Ansatz bereits erfolgreich angewandt. Lässt sich die Ausbreitung einer invasiven Art an einem bestimmten Ort über einige Jahre zurückverfolgen, so können auch Prognosen über die zukünftige Weiterverbreitung dieser Art gemacht werden.
Abb. 3 - Beim Bewimperten Steinbrech (Saxifraga aizoides) wurden bis zu 22 Jahrringe gezählt. Foto: Thomas Reich (WSL)
Kräuter reagieren schneller als Bäume
Die Jahrringbreite ist auch ein Indikator für gute und schlechte Jahre. So stellten Dietz und von Arx bei Kräutern der Schweizer Alpen fest, dass diese 1998 breite Jahrringe ausbildeten. Sie führen dies auf die warme Witterung zurück. Ein Jahr später waren die Bedingungen schlechter; auf den Wiesen lag bis spät in den Frühling viel Schnee. Somit setzte 1999 das Wachstum spät ein, was zu schmalen Jahrringen führte.
Weil die Kräuter den Launen des Klimas stärker ausgesetzt sind als Bäume, vermuten die Forscher, dass extreme Ereignisse sich in den Jahrringen von Kräutern auch stärker widerspiegeln als in denjenigen von Bäumen. So reichen beispielsweise die Wurzeln von Kräutern oft weniger tief in den Boden, und als Folge davon leiden Kräuter rascher unter einer Austrocknung der obersten Bodenschichten. Wie sich der Hitzesommer 2003 bei mehrjährigen Kräutern ausgewirkt hat, ist jedoch noch nicht untersucht.
Weitere Informationen
- Schweingruber F.H., Poschlod P., 2005: Growth Rings in Herbs and Shrubs: life span, age determination and stem anatomy. For. Snow Landsc. Res. 79, 3: 195-415.
- Schweingruber, F.H., Börner A., Schulze E.-D., 2006: Atlas of Woody Plant Stems: Evolution, Structure, and Environmental Modifications. Springer, 230 p., plus de 700 illustrations.
(TR)