Der grosse Bekanntheitsgrad des Eichhörnchens dürfte vier Gründe haben: Zum ersten, weil es recht häufig vorkommt, zum andern, weil es sich auffällig-possierlich benimmt, zum dritten, weil es – wie Schwalbe, Amsel, Spatz und Ratte – vor dem Menschen keinen allzu grossen Respekt hat, und zum letzten schliesslich, weil sein Tagesablauf dem unsrigen ungefähr entspricht, so dass man das Tierchen tatsächlich auch zu Gesicht bekommen kann, wesentlich einfacher jedenfalls als extreme Kulturflüchter oder gar nachtaktive Tiere.
Sommersiesta ja, Winterschlaf nein
Eichhörnchen sind ausgesprochene Tagtiere mit gewöhnlich zwei Aktivitätsphasen: Beim Morgengrauen werden sie munter, über Mittag halten sie Siesta, am Nachmittag sind sie wieder aktiv, und vor Sonnenuntergang gehen sie schlafen. Im Herbst verkürzt sich ihre Mittagsruhe zunehmend und wird schliesslich ganz aufgehoben, das heisst die beiden Aktivitätsphasen verschmelzen zu einer einzigen, die mit fortschreitendem Einwintern zusehends zusammenschrumpft und sich auf den späteren Morgen beschränkt.
Entgegen weitverbreiteter Meinung macht das Eichhörnchen – ganz im Gegensatz etwa zu dem ihm verwandten Murmeltier – keinen Winterschlaf. Allerdings schränkt es seine Aktivität in der kalten Jahreszeit stark ein und verlässt das Nest erst spätmorgens und lediglich für kurze Zeit. Dabei verrichtet es nur das Unvermeidliche: Nahrungssuche und Notdurft. Schnee und tiefe Temperaturen allein schrecken es nicht zurück, doch meidet es stürmische und niederschlagsreiche Schlechtwetterperioden.
Zum Klettern geboren
Noch gehört das Eichhörnchen zu den schlecht erforschten einheimischen Wildtieren. Löbliche Ausnahmen in unserem Land bilden Arbeiten aus dem Zoologischen Institut und der Ethologischen Station der Universität Bern sowie Untersuchungen an der Universität Neuenburg. Studien an Eichhörnchen in der freien Wildbahn sind deshalb nicht einfach, weil sich die Tiere meist unbeobachtbar in Baumkronen aufhalten, und weil Männchen und Weibchen sich bezüglich Aussehen, Färbung, Grösse und Gewicht kaum unterscheiden lassen.
Eindrücklich ist die Anpassung der Eichhörnchen ans Leben auf den Bäumen. Die anatomischen Proportionen mit dem geschmeidigen Körper, dem leichten Knochenbau, den sehr muskulösen Hinter- und den äusserst geschickten Vorderbeinen mit den langen, gebogenen Krallen an Zehen und Fingern machen die Eichkatzen zu wahren Kletterkünstlern, die sich nur selten am Boden aufhalten (ausser in Pärken, wo sie als zahme Tiere beim Futterbetteln atypisches Verhalten zeigen).
Steuer, Balance und Signal
So wie es beim Menschen eine Hamolstellung, so gibt es beim Eichhörnchen eine Kalenderblattpose: auf einem Ast aufrecht sitzend, manierlich eine Haselnuss oder einen Tannzapfen in den Vorderpfoten haltend und den buschigen Schwanz – einem Sonnenschirm gleich – S-förmig über den Rücken geschlagen. Die alten Griechen nannten diese lebende Statuette "Skiouros", zu Deutsch "der sich mit dem Schwanz Schattengebende". Diese poetische Umschreibung blieb dem Eichhörnchen in seinem Gattungsnamen (Sciurus vulgaris) bis heute verhaftet.
Allerdings: Das Schattenspenden dürfte wohl die unwichtigste Aufgabe dieses mächtigen Schwanzes sein. In erster Linie dient er als Steuerruder bei weiten Sprüngen oder als Balancierstange beim Klettern, dann auch als optischer Signalgeber bei der Balz (Liebesvorspiel) und schliesslich als Kälteschutz im Winter. Ein weiteres Typikum des Eichhörnchens sind die adretten Haarbüschel auf den Ohren. Ähnliche Ohrpinsel weist unter den einheimischen Wildtieren nur noch der Luchs auf.
Trittsiegel und Fährte
Die Roten und die Schwarzen
Auf dem besagten Kalenderbild prangt meist ein fuchsrotes Eichhörnchen. In Wirklichkeit variiert die Färbung von Rot über Braun bis Schwarz, jedoch stets mit weisser Körperunterseite. In tiefgelegenen Ländern (zum Beispiel Deutschland) überwiegt die rote, im hügeligen und Bergland dagegen die dunkle Varietät. Deshalb trifft man in der Schweiz – und dies bereits im Mittelland, noch deutlicher aber in der Bergen – vorwiegend dunkelbraune bis schwarze Individuen an.
Zudem wird, im Frühling und im Herbst, die Färbung durch den zweimaligen Haarwechsel beeinflusst. Beim Übergang vom Sommer- zum Winterfell verändern sich nicht nur Länge und Dichte der Haare, sondern es treten vermehrt weissgraue Haare auf, wodurch die Färbung gedämpft wird, so dass rote Tiere grauer und braun-schwarze heller erscheinen, mit silbergrauen Zonen besonders an den Flanken. Das Langhaar an Ohrbüscheln und Schwanz dagegen wird nur einmal im Jahr gewechselt, und zwar im Anschluss an den Frühlingshaarwechsel des Körperfells. Deshalb können Tiere mit Resten von Ohrbüscheln noch bis in den Sommer hinein angetroffen werden.
Frassspuren an Fichtenzapfen – wer war’s?
Abb. 5 - Eine ausgefaserte Zapfenspindel besagt, dass die Schuppen abgerissen wurden – vom Eichhörnchen (links). Sind die Schuppen dicht und sauber über der Spindel abgenagt, war es die Maus (mitte). Ist der Zapfen zerhackt und zerzaust und sind die Schuppen ausgedreht, stammen die Spuren aus der Spechtschmiede (rechts).
Ihr Heim – das Kugelnest
Da Freilandbeobachtungen an (nicht zahmen) Eichhörnchen überaus schwierig sind, weiss man – beispielsweise über ihre Lebensräume – noch recht wenig. Das Wohngebiet eines Männchens soll etwa zehn Hektaren, dasjenige eines Weibchens etwa halb so gross sein. Ungefähr in dessen Zentrum befindet sich das Nest von leicht abgeflachter Kugelgestalt, mit einem äusseren Durchmesser von zwanzig bis fünfzig Zentimetern, meist in einer starken Astgabelung direkt am Stamm und in der Regel fünf bis zehn Meter über dem Boden.
Die Nestkugel besteht aus einem Zweiggeflecht und ist innen mit Gras, Moos und Baumbast ausgepolstert. Die Nesthöhle weist einen Durchmesser von zehn bis zwanzig Zentimetern auf und ist durch ein fünf Zentimeter weites Schlupfloch zugänglich. Der Bau eines solchen Nestes dauert wenige Tage. Meist besitzt ein Tier neben dem Hauptnest noch Reservenester, die als Unterschlupf bei Störungen rund ums Hauptnest oder auf der Futtersuche dienen.
Männer – nur gut zur Hochzeit
Eichhörnchen gelten als nichtsoziale Tiere, die als Einzelgänger leben, mit wenig Kontakt zu Artgenossen. Jedes erwachsene Tier hat sein eigenes Nest, das es gegen andere verteidigt. Dieses Verhalten ändert sich erst zur Paarungszeit. Wenn der Winter das Zepter nicht mehr fest in der Hand hält, wird der Wald zum Schauplatz der verrückten Eichhörnchenhochzeit. Zuerst verjagt das Weibchen das werbende Männchen, dann flieht es vor ihm, was zu wilden Verfolgungsjagden während mehrerer Tage führt, bis sich das Weibchen in seinem Hauptnest begatten lässt. Nach erfolgter Paarung verjagt das Weibchen das Männchen wieder, und beide leben erneut getrennt. Kurz gesagt: Eichhörnchenfrauen brauchen ihre Männer nur zur Hochzeit!
Biologische Nussknackersuite
Auch Nussknacken will gelernt sein! Jungen, unerfahrenen Eichhörnchen gelingt dies erst nach mühsamen Versuchen, wobei sie anfänglich ganz unsystematisch an der Haselnuss herumnagen, bis irgendwo ein Loch entsteht. Erwachsene Eichhörnchen dagegen gehen gezielt vor: Dem Faserverlauf der Nussschale folgend nagen sie zuerst eine Rille. Wenn an deren tiefster Stelle ein Loch entsteht, führen sie dort die unteren Schneidezähne ein und sprengen - die Kerbwirkung ausnützend - die Schale mit einer Hebelbewegung, indem sie den Kopf ruckartig hochreissen.
Rosa, nackt und blind
Nach 38 Tagen Tragzeit werfen jüngere Weibchen einmal im Jahr zwei bis drei, ältere oft zweimal jährlich drei bis fünf Junge, so dass also Nachwuchs von Ende Februar bis Ende August eintreffen kann. Eichhörnchen kommen als ausgesprochene Nesthocker zur Welt, rosafarben, nackt, blind, kaum sechs Zentimeter lang und knapp zehn Gramm schwer. Nach ein paar Tagen beginnen sie sich zu färben; eine komplette Jugendbehaarung tragen sie nicht vor zwei Wochen, und die Augen öffnen sich erst nach rund einem Monat.
Wenn sie ungefähr sechs Wochen alt sind, verlassen die munzigen, jetzt über hundert Gramm schweren Eichkätzchen das Nest, trinken aber noch bei der Mutter (insgesamt etwa neun Wochen lang). Von ihr lernen sie auch, was essbar ist, indem sie sich Nahrungsbrocken aus ihrem Maul angeln. Auf ihren Ausflügen erkunden sie den Baum, auf dem sie geboren sind, dann die benachbarten Bäume und schliesslich das ganze Revier. Die Mutter zieht sich nun zunehmend zurück und überlässt die Jungen dem Schicksal. Mit etwa sieben Monaten sind die Eichkätzchen erwachsen, und mit acht bis zehn Monaten sind junge Weibchen bereits geschlechtsreif, werfen aber gewöhnlich erst im zweiten Lebensjahr.
Überleben ist Glückssache
Die scheinbar grosse Nachwuchsrate der Eichhörnchen ist notwendig, weil, wie man vermutet, nur etwa ein Viertel bis ein Fünftel der Jungen ein Jahr alt wird und offenbar weniger als ein Prozent (!) aller Tiere fünf Lebensjahre erreicht. Ein Hinweis mehr, wie grausam hart der Überlebenskampf in der Natur ist, und wie wenig wir uns eigentlich dessen bewusst sind – sein wollen. Noch fehlen genaue Untersuchungen über die Gründe dieser hohen Selektion. Als sicher nimmt man an, dass die klassischen „Erbfeinde“ Baummarder und Habicht höchstens regulierend, nicht aber dezimierend eingreifen.
Gravierender wirken sich die durch den Menschen hervorgerufenen Umweltveränderungen aus, früher allenfalls auch die Jagd; doch eine Jagdstatistik bezüglich Eichhörnchen gab es nie. Inzwischen ist diese Überlegung ohnehin müssig geworden, seitdem das neue Jagdgesetz die lustigen Kobolde des Waldes gesamtschweizerisch und ganzjährig unter Schutz gestellt hat. Wichtiger als jagdliche Aspekte waren wohl schon immer umweltbedingte. Höchst wahrscheinlich ist es so, dass externe Einflüsse (Fressfeinde, Umwelt, Klima, Futter) in enger Wechselbeziehung stehen zu internen Regulationsmechanismen (Verminderung der Nachkommenzahl, Abwanderung, stressbedingte Krankheiten, schwächebedingter Parasitenbefall) und dass dann die letzteren hauptsächlich dezimierend wirken.
Nicht zu vergessen – heutzutage – die Verkehrstoten! Vor allem aber scheinen negative klimatische Einflüsse (langfristige Schlechtwetterperioden) und, oft indirekt dadurch gefördert, Parasitosen unter Umständen drastische Folgen zu haben. Schon junge Eichhörnchen sind häufig von Zecken und Milben, gelegentlich auch von Flöhen und sehr oft sogar von Eingeweidewürmern befallen. Ein einzelliger Darmparasit mit dem exotischen Namen „Eimeria sciurorum“ beispielsweise, der eine ansteckende und meist tödlich verlaufende Krankheit (Kokzidiose) hervorruft, kann katastrophale Auswirkungen haben. So fielen beispielsweise 1943 in Finnland rund eine Million Eichhörnchen der Kokzidiose anheim. Grausam harte Sitten der Natur!
Notvorräte: geplanter Zufall
Im Wald gibt es kaum etwas Geniessbares, was Eichhörnchen nicht fressen: Hauptsächlich mögen sie Samen, Früchte und Knospen verschiedener Bäume. Magenuntersuchungen an Tieren aus dem Schweizer Mittelland zeigten, dass an erster Stelle und ganzjährig Samen (Zapfen) von Kiefern und Fichten stehen, Ende Sommer ergänzt durch Buchnüsse, im Winter und Frühling aufgebessert durch Knospen und Blüten der Nadelhölzer. Auf dem Menüplan stehen natürlich auch Beeren, Haselnüsse, Pilze, Blätter und Wurzeln, ja selbst tierische Nahrung wie Ameisenpuppen, Käfer, Insekten aller Art, gelegentlich sogar Vogeleier oder Jungvögel.
Im Herbst, wenn das Nahrungsangebot gross ist, legen die Eichhörnchen fleissig Futtervorräte an, durch Vergraben in Wurzelnähe oder Lagern in Baumhöhlen. Da sie sich all diese Verstecke nicht merken können, suchen sie im Winter an solch typischen Stellen nach dem Zufallsprinzip, werden mal fündig, mal nicht, wodurch sie nebenbei zur Samenverbreitung beitragen.
Am intakten Lebensraum hängt alles
Aus all dem Gesagten ergibt sich: Der optimale Lebensraum für Eichhörnchen ist ein Mischwald mit engem Kronenschluss und dichter Strauchschicht. Entmischte, unterholzarme, in Parzellen zerschnittene und von Strassen durchpflügte Waldungen bieten kaum mehr eine Lebensgrundlage.
Speziell wichtig für die Sicherstellung der Ernährung ist das Vorhandensein verschieden alter Waldbäume; denn Samen (Zapfen) werden erst nach zehn oder mehr Jahren getragen und auch nur in unregelmässigen Abständen von mehreren Jahren. Arten- und Altersmonokulturen, die bei uns mehr und mehr die Mischwälder verdrängen, können, so vermutet man heute, zu eigentlichen Hungerfallen werden; denn einmal bieten sie Futter im Überfluss und führen dadurch zur Vergrösserung der Eichhörnchenbestände, ein andermal bewirken sie durch extremen Futtermangel Populationszusammenbrüche.
Kein Wunder, wenn gelegentlich Schäden auftreten, weil die Eichhörnchen auf Ersatznahrung umsteigen und Bäume schälen, um an das saftige Gewebe unter der Rinde heranzukommen. Überstürzte Abschussaktionen, wie sie früher gelegentlich vorkamen, waren deshalb auch hier nichts anderes als glücklose Symptombekämpfung.
(TR)