Wie würde der Wald langfristig ohne menschliche Eingriffe aussehen? Das beschreibt die Potenzielle Natürliche Vegetation (PNV), die eine wichtige Grundlage forstlicher Planung und Hilfsmittel zur Beurteilung der Naturnähe von Wäldern ist. Bisher wurde die klimadynamische Entwicklung der Potenzielle Natürliche Vegetation nicht berücksichtigt. Doch mit den Klimaveränderungen verändern sich auch die natürlichen Gegebenheiten im Wald. Die Dynamik infolge der Klimaveränderungen muss beim aktiven Waldumbau und den langfristigen Naturschutzstrategien einbezogen werden.

Konzept der Potenziellen Natürlichen Vegetation

Das von Reinhold Tüxen 1956 definierte Konzept der Potenziellen Natürlichen Vegetation (PNV) ist heute, trotz einiger Kritikpunkte, eine wichtige Basis forstlicher Planungen und zur Beurteilung von Naturnähe.

Ein Kritikpunkt bei diesem Konzept ist der statischer Ansatz: In der Definition der PNV bleibt die zwangsläufige Anpassungen der Vegetation an klimatische Änderungen unberücksichtigt. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass die vorliegenden PNV-Karten nicht systematisch reproduzierbar modelliert sind, sondern gutachterlich aus Standorts-, Boden-, Vegetationskunde und Klimatologie bestimmt werden. 
Zur Bestimmung der vorherrschenden Vegetationsklassen wurden vorhandene Standortsdaten ausgewertet und mit Vegetationsdaten überlagert [2]. Daraus entstanden erste PNV-Entwurfskarten, die anschließend mit Expertenwissen abgeglichen und stichprobenhaft im Gelände überprüft wurden. Bei diesem Vorgehen werden die PNV-Klassen also nicht parametrisch/quantitativ voneinander abgegrenzt.
Es gibt auch keine Formeln oder Algorithmen, mit denen quantitativ bestimmt wird, welche PNV-Klasse bei welcher Kombination aus Standorts- und Klimafaktoren vorliegt. 

Um sagen zu können, wie Klimaveränderungen die PNV beeinflussen, müssen erst noch Modelle gebildet werden, die diese in den vorliegenden PNV-Karten systematisch darstellen – abhängig von heutigen Standortsfaktoren und Zuordnungen zu den PNV-Klassen. Diese Modelle eignen sich dann zu Einschätzungen der PNV unter sich verändernden Umweltbedingungen.

Datengrundlage und Bildung des klimadynamischen Modells

Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung waren die Veränderungen der Vegetationspotenziale im Bezugsraum Deutschland. Um ein PNV-Modell zu entwickeln, wo sich im Klimawandel auch bisher im Bezugsraum noch nicht vorhandene Vegetationsklassen ausbreiten können, wurden Daten aus ganz Europa einbezogen. Bereits seit über zwanzig Jahren gibt es eine Karte der natürlichen Vegetation Europas [3]. Diese Karte ist die Grundlage für die aktuelle Verbreitung der PNV-Klassen. Als Standortsparameter wurden bioklimatische Variablen [4] aus dem frei verfügbaren CHELSA-Datensatz (deutsch: Klimatologien mit hoher Auflösung für die Landflächen der Erde) [5] sowie Bodenparameter aus den ebenso frei abrufbaren Daten von OpenLandMap.org [6] verwendet (Tab. 1).

Für die vorliegende Modellierung wurde nur zonale – überwiegend durch klimatische Standortsfaktoren geprägte – Vegetation berücksichtigt. Vegetation, mit besonderen standörtlichen Eigenheiten im Unterschied zum sonstigen Pflanzenbestand der Klimazone (azonal,  z. B. Moore, Auen) wird nur in geringerem Maße von den klimatischen Faktoren bestimmt, die hier Gegenstand der Untersuchung sind.

Über die gesamte Fläche Europas wurde ein gleichmäßiges Punktenetz mit 4-km-Abständen gelegt. Für jeden Punkt wurden die Werte der Klima- und Bodenkarten sowie die PNV-Klasse bestimmt. So gab es für jede der untersuchten 38 zonalen PNV-Klassen mehrere Hundert bis mehrere Tausend Punkte der jeweiligen PNV-Klasse mit zugehörigen Standortsdaten. 
Aus Übersichtsgründen werden in dieser Arbeit nur die sechs für Deutschland flächenbezogen wichtigsten PNV-Klassen dargestellt. Mit dieser Datenmenge aus über 500.000 Datenpunkten erfolgte mithilfe des Machine-Learning-Algorithmus Random Forests (deutsch: Maschinen-Lern-Algorithmus mit Entscheidungsbaum) [7] die Berechnung eines Klassifizierungsmodells. Dieser Modell-Algorithmus bietet die Möglichkeit, den Effekt jedes Parameters auf jede Klasse anzuzeigen. Somit ließ sich das Modell sehr gut analysieren und plausibilisieren. Das überprüfte Modell wurde dann auf Datensätze mit Klimaprojektionen für den Zeitraum 2061 bis 2080 (2070) aus dem CHELSA Datensatz angewendet.

Basis dieser Klimaprojektionen sind zwei verschiedene Representative Concentration Pathways – RCPs (deutsch: Repräsentative Konzentrationspfade) als Klimaszenarien: 

  • Szenario RCP 4.5 steht für eine sehr optimistische Entwicklung, bei welcher der Ausstoß von anthropogenen CO2-Äquivalenten ab 2040 im Sinne der internationalen Klimaschutzbemühungen stark abnimmt. Das führt zu der Annahme, dass bis zum Ende des 21. Jahrhunderts die globale Erwärmung lediglich ~2,6 °C gegenüber dem vorindustriellen Wert erreicht. 
  • Szenario RCP 8.5 gilt in der öffentlichen Kommunikation als drastischeres Szenario, bei dem ein weiter ungebremster Anstieg der CO2-Emmissionen zu einer globalen Erwärmung von ~4,3 °C führen würde [8].

Güte und Zukunftsprojektionen des klimadynamischen Modells

Angewendet auf einen Testdatensatz konnte das entwickelte klimadynamische Modell zur Klassifikation der PNV die in den bestehenden PNV-Karten ausgewiesenen PNV-Klassen auf über 80 % der geprüften Fläche korrekt bestimmen (Cohens Kappaa) 0,81; Accuracyb) 0,82), Das stellt eine sehr hohe Modellgüte dar. Die Vorhersagegüte der für Deutschland relevanten Vegetationsklassen zeigt Tabelle 2.

Die Modell-Simulationen mit dem Klimaszenario RCP 4.5 ergaben eine Änderung der potenziellen Vegetationsklassen auf 69 % der Landfläche Europas bis 2070. Simulationen mit RCP 8.5 für den gleichen Zeitraum zeigen sogar eine noch drastischere Änderung der Vegetationspotenziale auf 73 % der Fläche (Abb. 2).

Europaweit betrachtet verlieren boreale (kaltgemäßigte Klimazone; nördliche Erdhalbkugel) sowie montane (Höhenstufe vieler Gebirge) Nadel- und Laub-Nadel-Wälder das meiste Flächenpotenzial. Bei der Simulation mit RCP 8.5 sind aber auch sommergrüne Laubwälder wie die Buchen- und Buchen-Mischwälder deutliche Verlierer.
Flaumeichenwälder und Hainbuchen-Eichen-Mischwälder in Mitteleuropa sowie Steppen und Wüsten in Süd-und Südosteuropa würden nach unserer Modellierung die größten potenziellen Flächenzuwächse verbuchen [1].
Schon in einer anderen Studie mit Europabezug – bei etwas geringerem Detaillierungsgrad der Vegetationsklassen – wurden ähnliche erwartbare massive Veränderungen gefunden [9].

a) Maß für die Übereinstimmung zweier abhängiger kategorialer Stichproben; dient der Feststellung, ob die Messung von zwei Personen übereinstimmt.
b) Genauigkeit: Anzahl der richtigen Klassifizierungen durch alle zu tätigenden Klassifizierungen bei ausgewogenen Klassen.

Auch in Deutschland sind im Klimawandel drastische Auswirkungen auf die Potenziale der vorherrschenden Vegetationsklassen zu erwarten. So nimmt das Potenzial der hier dominierenden Buchen- und Buchenmischwälder bei zunehmender Erwärmung und Sommertrockenheit immer weiter ab. Unter dem RCP-8.5-Szenario könnte das Potenzial der Buchenwälder dabei bis 2070 von aktuell 74 % auf 8 % der Fläche Deutschlands schrumpfen (Tab. 3). Ähnlich steht es um das erwartete Potenzial für artenarme Eichenmischwälder und Eichen-Hainbuchen-Mischwälder. Auch diese Vegetationsklassen würden unter RCP 8.5 in den nächsten 50 Jahren 80 % bzw. über 90 % ihrer potenziellen Flächen einbüßen.
Aufgrund von Temperaturanstieg und verminderten Sommerniederschlägen wird aber erwartet, dass deutschlandweit mediterrane Flaumeichenwälder das größte Potenzial erlangen und bis 2070 auf bis zu 75 % der Fläche den Vegetationstyp mit der besten Klimaanpassung darstellen könnten.

Nach unseren Simulationen mit RCP 8.5 würde das zukünftige Klima im Nordwesten Deutschlands großflächig mediterrane Hartlaubwälder begünstigen. Aktuell ist dieser Vegetationstyp die dominierende natürliche Vegetation Zentralspaniens! Von Nadelbäumen geprägte Vegetationsklassen verlieren bereits unter dem moderaten Klimawandel-Szenario RCP 4.5 fast vollständig ihr Potenzial in Deutschland. Betrachtet man die Gesamtfläche Deutschlands, finden sich vor allem bei einem weiter ungebremsten Klimawandel in 50 Jahren kaum noch Gebiete, in denen sich das Vegetationspotenzial nicht (drastisch) verändert.

Konsequenzen für die Waldbewirtschaftung

Unsere Simulationen zeigen, dass bereits innerhalb der nächsten 50 Jahre europaweit markante Verschiebungen in den standörtlichen Voraussetzungen für die heute verbreiteten Vegetationsklassen zu erwarteten sind, besonders für den Bereich Deutschlands. Allerdings zeigen Sukzessionsanalysen, dass sich Übergänge von einer Waldgesellschaft in eine andere durch eigendynamische Entwicklungen nicht selten jahrhundertelang hinziehen [10].

In jüngster Vergangenheit lassen sich vielerorts bei den vorherrschenden Waldtypen anhaltend virulente Schäden in erheblichem Maße feststellen. Eine Folgerung daraus könnte sein, dass der Klimawandel die gegenwärtigen Wälder über ihre Resilienz belastet, bevor sich dereinst eine besser klimaangepasste Artenzusammensetzung durch natürliche Sukzession einfindet. Großflächige Störungen gefährden massiv die nachhaltigen Ökosystemleistungen des Waldes. Um sie abzufedern, erscheint eine laufende aktive Weiterentwicklung der Baumartenzusammensetzung zu besser klimaangepassten Waldtypen unumgänglich.
Explizit schließt dies auch die Einführung heute noch nicht heimischer, aber stärker trockenheits- und hitzeresistenter Arten aus europäischen Nachbarregionen und/oder zukunfts-analogen Klimaräumen nicht aus. So kann eine zwischenzeitliche Entmischung oder Entwaldung von Waldorten verhindern werden. Im Interesse einer naturnah orientierten Weiterentwicklung bietet sich die Anreicherung der Wälder mit Baumarten an, die in den Vegetationsklassen vorkommen, die bei den vorliegenden Modellierungen als zukunftsfähig eingestuft wurden.

Aufgrund der allfälligen Unsicherheiten erscheint aber ein flächendeckender Ersatz der aktuellen durch potenziell aussichtsreiche Baumarten weder erforderlich noch sinnvoll. Der Schwerpunkt sollte auf einer standortsspezifischen Ergänzung des Baumartenspektrums in angemessenem Umfang liegen, um der Walddynamik zusätzliche Ansatzpunkte für stabilisierende Anpassungsprozesse zu bieten. Sicher würden die Umbaubemühungen gemäß unseren Ergebnissen deutschlandweit in substanziellem Umfang erfolgen, ohne dass jedoch konkrete Prozentwerte oder Flächensummen für erforderliche Pflanzungen abgeleitet werden können.

Konsequenzen für den Naturschutz

Die Simulationen zeigen, dass die heutige PNV im Klimawandel nicht mehr als Leitbild für naturnahe Wälder geeignet ist. Die klimabedingten Verschiebungen der Potenziale der Vegetationsklassen sind so drastisch, dass sich die aktuelle PNV überwiegend nicht mit den in Zukunft zu erwartenden Potenzialen deckt. Aus naturschutzfachlicher Sicht ergeben sich hieraus große Herausforderungen. 
Beispielsweise leben viele geschützte Arten im Bereich nacheiszeitlicher Reliktstandorte. Prägend sind hier vergleichsweise kühle Klimabedingungen, wie sie derzeit z. B. (noch) in Hochlagen vorherrschen. Die anhaltende Erwärmung verringert das Areal solcher Kaltstandorte zusehends oder lässt sie vollständig verschwinden [11]. In den vorliegenden Modellierungen wird dies erkennbar, weil sich die Vegetationspotenziale mit zunehmendem Klimawandel in höhere Lagen verschieben. Diese Verschiebungen sind vor allem für den Artenschutz eine immense Herausforderung. Damit Artenschutz faktisch wirksam sein kann, muss er die Verschiebung rechtlich geschützter Lebensräume in langfristige Schutzkonzepte einbringen. [12].

“Deutschlandweit müssen wir mit markanten Verschiebungen der standörtlichen Voraussetzungen und somit der Potenziale für die heute verbreiteten Vegetationsklassen der PNV rechnen.” JONAS HINZE

Die derzeit flächenbezogen größte Herausforderung dürfte der Umgang mit dem Schutzgebietssystem Natura 2000 in den Lebensraumtypen der FFH-Gebiete darstellen. In Mitteleuropa spielen hierbei die nach heutiger Sachlage naturnahen Buchenwaldökosysteme der Klassen 9110, 9130 und 9150 die größte Rolle. Spätestens in der 2. Hälfte des Jahrhunderts werden die im Szenario RCP 8.5 zu erwartenden Klimabedingungen in diesem Bereich dazu führen, dass Buchenwälder nicht mehr als „naturnah“ d. h. standortsangepasst beurteilt werden können.

Notwendige Folgerungen daraus könnten sein:

  • Dynamische Anpassung der Flächenzuschnitte der Wald-Lebensraumtypen
  • Neudefinition der Zusammensetzung der in Deutschland als erhaltenswert zu entwickelnden Waldgesellschaften. 

Beides hätte weitreichenden Änderungsbedarf in den Managementplänen zur Folge, lässt sich aber bei anhaltendem Klimawandel nicht mehrgrundsätzlich vermeiden.

Fazit

  • Vor dem Hintergrund, dass auch naturnahe Wälder in den letzten Jahren Waldschäden in relevantem Umfang zeigten, wurde ein klimadynamisches Modell einer Potenziellen Natürlichen Vegetation (PNV) erstellt und auf zukünftige Klimaszenarien angewandt.
  • Großflächige Änderungen der klimatischen Bedingungen verschieben die Potenziale für eine natürliche Vegetation in den nächsten Jahrzehnten deutlich [1]. Heute von Buche dominierte Vegetationsklassen der PNV könnten ihre Flächenschwerpunkte nach Norden verlagern.
  • Die Ergebnisse legen nahe, dass die wichtigen waldnaturschutzfachlichen Bezugssysteme, natürliche Waldgesellschaften und Naturnähe einer Dynamisierung oder Revision bedürfen, um den Klimawandel zu berücksichtigen.

Bisher ist die PNV statisch, d. h. unveränderlich über der Zeit. Das trifft aber in Zeiten des Klimawandels nicht mehr zu. Deshalb ist eine klimadynamische Abschätzung der PNV und damit der Naturnähe unbedingt erforderlich.