Viele europäische Gebirgswälder sind Schutzwälder, die die Bevölkerung oder Infrastruktur vor Naturgefahren (Steinschläge, Lawinen, Murgänge) schützen sollen. Damit diese Schutzwirkung nachhaltig gewährleistet werden kann, muss insbesondere in diesen Wäldern ausreichend Verjüngung aufkommen können.

Vor 100 bis 200 Jahren wurde die natürliche Waldverjüngung durch Plünderungen und Beweidung zum Teil stark beeinträchtigt oder blieb ganz aus. Erst durch Weideverbot im Wald konnte sich die Verjüngung vielerorts wieder erholen. Leider führte es aber oft zu heute einförmigen Beständen mit einem geringen Totholzanteil.

Naturverjüngung im subalpinen Fichtenwald

Im subalpinen Fichtenwald erschweren Faktoren wie Wärmemangel, lang anhaltende und hohe Schneebedeckung, starke Sonneneinstrahlung, trockene Luft, dichte Bodenvegetation oder Wildverbiss das Aufkommen der Verjüngung. Daher hängt die erfolgreiche Verjüngung dort stark vom Vorhandensein günstiger Kleinstandorte ab. Dichte Fichtenverjüngung stellt sich hauptsächlich auf feuchtem Totholz und auf Mineralerde ein.

In zahlreichen Studien weltweit konnte gezeigt werden, dass Moderholz bei der Verjüngung in hohen Lagen eine wichtige Rolle spielt. In den Schweizer Gebirgswäldern ist Totholz für die Fichtenverjüngung besonders geeignet. Dies wird auch aus anderen Teilen Europas bestätigt. In den polnischen Karpaten findet man auf Totholz eine 20-mal höhere Verjüngungsdichte als auf dem Waldboden.

Zeitliche Entwicklung der Moderholzverjüngung

Die meisten Untersuchungen beziehen sich jedoch auf einen Aufnahmezeitpunkt. Nur wenige Studien berücksichtigen auch die zeitliche Entwicklung der Moderholzverjüngung.

2002 wurde die Situation im Fichten-Urwald Scatlè (Kanton Graubünden) erfasst. Auf 50 liegenden Totholzstücken wurden an 339 Untersuchungspunkten zahlreiche Faktoren gemessen, die die lokalen ökologischen Gegebenheiten sowie den Zustand der Verjüngung charakterisieren. 2012 wurden die Untersuchungspunkte erneut untersucht mit dem Ziel, Aussagen über die zeitliche Entwicklung der Fichtenverjüngung auf Totholz machen zu können.

Folgende Fragen sollten beantwortet werden:

  1. Wie haben sich die Umweltfaktoren im Urwald Scatlè von 2002 bis 2012 verändert?
  2. Welchen Einfluss haben dies Veränderungen auf die Verjüngung auf Moderholz?
  3. Welche Schlüsse für die Praxis können daraus abgeleitet werden?

Urwald Scatlè

Der nordexponierte Urwald wird seit dem 13. Jahrhundert nicht mehr genutzt und ist somit das älteste Waldreservat der Schweiz.
Das Klima dort ist feucht und kühl. Die Vegetationsperiode dauert von Mitte Mai bis Anfang September, wobei Schneefall ganzjährig vorkommen kann. Standortkundlich handelt es sich v.a. um eine Blockschuttausbildung des Alpenlattich-Fichten-Waldes (Homogyno-Piceetum). 1780 m ü. M. löst ein dichtes Gebüsch aus Grünerlen die Fichte (Picea abies) bis zur Baumgrenze ab. Die Krautschicht besteht aus Heidelbeere, Wollreitgras und Breitem Wurmfarn.

Datenerhebung

Die Daten wurden in der unteren Hälfte des Reservates bis 1800 m ü. M. erhoben, wo seit 1965 regelmässig waldkundliche Inventuren durchgeführt werden.

2002

50x50 cm grosse Untersuchungsflächen (Plots) wurden auf liegendem Totholz im Abstand von 3 m, auf Wurzeltellern und Wurzelstöcken eingerichtet.

2012

244 der 339 Plots aus dem Jahr 2002 konnten 2012 wieder aufgefunden werden und es wurden einige Parameter wie Zersetzungsgrad des Totholzes, prozentualer Anteil der Rinden- und Moosbedeckung, Höhe der Moosschicht, Substrat unter dem Stamm, Pilzfruchtkörper Holzabbauender Pilze etc. erneut aufgenommen (Details siehe Originalartikel SZF). Zusätzlich wurden Letztere noch makroskopisch und genetisch bestimmt.

Dank der Waldinventuren konnte der Fallzeitpunkt der Stämme bestimmt werden. Zudem wurden der Kronenöffnungsgrad, die mittlere Sonnenscheindauer im Juni und die prozentuale Sonneneinstrahlung mittels Fischaugenfotografie ermittelt.

Veränderungen der Umweltfaktoren und deren Einfuss auf die Verjüngung

In den 10 Jahren zwischen der ersten und zweiten Untersuchung hat sich die ökologische Nische für die Fichtenverjüngung nur wenig verändert. Allerdings scheint die Stärke des Einflusses der einzelnen Faktoren im Laufe der Zeit zu variieren. Allein die Moosbedeckung hatte in beiden Untersuchungsjahren einen signifikanten Einfluss auf das Verjüngungsgeschehen.

Einen signifikanten Einfluss auf das Vorhandensein der Verjüngung hatten:

2002

  • Zersetzungsgrad der Stämme
  • Moosbedeckung der Plots
  • Deckungsgrad der Vegetation.

2012

  • Stammdurchmesser
  • Moosbedeckung der Plots.

Keinen signifikanten Einfluss auf das Vorhandensein der Verjüngung hatten dagegen:

  • Rindenbedeckung
  • Substrat unter dem Stamm
  • Distanz zum Boden
  • Fallzeitpunkt
  • mittlere Sonnenscheindauer

Zum Teil beeinflussten diese Faktoren aber die Vegetationsdichte:

2002: 410 Verjüngungspflanzen auf den 244 Plots

2012: 2336 Verjüngungspflanzen auf den 244 Plots

Die Anzahl der Verjüngungspflanzen nahm innerhalb von 10 Jahren um das 5,5-fache zu.

Die Zunahme der Moosbedeckung aller Plots ist auf die dunkleren und somit feuchteren Bedingungen zurückzuführen. Japanische Untersuchungen zeigen, dass die Moosdicke einen positiven Einfluss auf die Verjüngung hat, da Moose Wasser zurückhalten und somit ein feuchteres Mikroklima auf den Plots schaffen. Für die Fichte ist dies von grosser Bedeutung, insbesondere auf dicht überschirmten Plots oder solchen, die stark der Sonne ausgesetzt sind, weil dort die Wasserverfügbarkeit zum limitierenden Faktor wird. Die Resultate von Scatlè zeigen eindeutig, dass der Einfluss der Moosbedeckung verjüngungsfördernd wirkt. Möglicherweise liegt es daran, dass es sich mit durchschnittlich 2 cm Höhe eher um eine niedrige Moosschicht handelt.

Während 2002 der Deckungsgrad der Vegetation und der Zersetzungsgrad der Stämme signifikanten Einfluss nahm, war es 2012 der Stammdurchmesser. Zwischen beiden Untersuchungsjahren hat die mittlere Sonnenscheindauer im Juni signifikant abgenommen. Sie ist abhängig vom Kronenöffnungsgrad, der sich durch Störungen sehr schnell ändern kann. Sofern Totholz vorhanden ist, kann der Kronenöffnungsgrad einen starken Einfluss auf das Vorkommen von Verjüngung haben. Ungünstige Lichtverhältnisse limitieren das Wachstum der Fichte. Dabei ist nur ein ziemlich schmaler Bereich zwischen "zu wenig" und "zu viel" Sonne für die Moderholzverjüngung förderlich.

Die Zersetzung der Stämme nahm innerhalb der 10 Jahre signifikant zu. Eine weitere signifikante Veränderung zwischen beiden Aufnahmejahren ist die Abnahme der Distanz der Stämme zum Waldboden. Mit zunehmendem Zersetzungsgrad wird das Holz brüchiger, beginnt sich abzusenken und passt sich nach und nach der Geländeform an. Auf den Vivian-Windwurfflächen in Disentis (GR) zeigte sich, dass stark erhöht liegende Stämme einen für die Verjüngung ungünstigen Wasserhaushalt besassen. Verjüngung war hier wie auch in Scatlè vermehrt auf bodennahen Stämmen zu beobachten. So wird deutlich, dass es relativ lange dauert, bis Moderholz ein günstiges Substrat für die Fichtenverjüngung wird.

Während im Jahr 2002 nur Plots mit Zersetzungsgrad 4 signifikant mehr Verjüngung aufwiesen als Plots mit weniger Zersetzung, beherbergten 2012 auch Plots mit Zersetzungsgrad 3 signifikant mehr Verjüngung als schwächer zersetztes Holz. Ähnliches zeigen auch Untersuchungen in Polen und Japan.

Zersetzungsgrad und Fallzeitpunkt der Stämme sind nicht korreliert. Der Holzabbau erfolgt je nach Umweltbedingungen kleinräumig unterschiedlich schnell. Auf einzelnen Stämmen konnte sich bereits sechs Jahre nach dem Umstürzen erste Verjüngung etablieren. Am meisten Verjüngung wiesen jedoch Stämme auf, die vor mindestens 23 Jahren abgestorben waren. Die geringe Verjüngungsdichte auf Stämmen, die vor 1965 umgefallen waren, ist damit zu erklären, dass bereits eine starke natürliche Ausdünnung der Jungbäume stattfand.

Die starke Zunahme der Verjüngung zwischen 2002 und 2012 ist mit grosser Wahrscheinlichkeit auf die Veränderung der standörtlichen Faktoren in Richtung verjüngungsfreundlicher Kleinstandorte zurückzuführen:

  1. Fortschreitende Zersetzung von Totholz
  2. Sonnenscheindauer im Juni von 50 bis 120 Minuten pro Tag
  3. Absenken der Plots in Richtung Boden, solange noch wenig Konkurrenz mit der Bodenvegetation herrscht
  4. Zunahme der feuchtigkeitsspeichernden Moosbedeckung.
  5. Auch die Samenjahre 2009 und 2011 könnten für die Verjüngung auf Moderholz durchaus förderlich gewesen sein.

Wertvoller Beitrag zur Biodiversität

Als positiver Nebeneffekt werden mit dem Belassen von Totholz die von Totholz abhängigen Organismen stark gefördert, was einen wertvollen Beitrag zur Biodiversität leistet. Vor allem in Nutzwäldern ist die Artenvielfalt holzzersetzender Pilze relativ gering. Im Urwald von Scatlè konnten insgesamt 15 Pilzarten, darunter auch Rote Liste Arten, nachgewiesen werden. Häufigster Holzzersetzer war der Braunfäuleerreger Rotrandiger Baumschwamm (Fomitopsis pinicola), gefolgt von der Reihigen Tramete (Antrodia serialis). Der ebenfalls relativ häufig gefundene Rosaporige Baumschwamm (Fomitopsis rosea) ist ein Urwaldzeiger.

Empfehlungen für die Praxis

Auch unter günstigsten Bedingungen ist die Verjüngung im subalpinen Fichtenwald ein langwieriger Prozess. Für eine nachhaltige Verjüngung braucht es in Nadelwäldern der subalpinen Stufe ein kontinuierliches Angebot an Totholz unterschiedlichen Alters.

Mögliche Massnahmen:

  • Verjüngungsfreundliche Kleinstandorte können dabei gezielt gefördert werden, indem sie eine direkte Sonneneinstrahlung von mindestens zwei Stunden pro Tag im Juni erhalten. Erreicht werden kann dies durch: schlitzförmige Bestandesöffnungen zur Verjüngungseinleitung
  • Eine einfache und preisgünstige Methode zur Förderung der Moderholzverjüngung besteht darin, tote und absterbende Einzelbäume im Bestand zu belassen, sofern die Borkenkäfersituation dies zulässt und die Sicherheit von Menschen und Infrastruktur gewährleistet ist.
  • Durch die teilweise oder vollständige Entrindung oder das Einschneiden der gefallenen Stämme kann man Borkenkäferbefall vorbeugen.
  • Über den Umgang mit grösseren Mengen an Totholz nach Störungen durch Käferbefall, Windwurf, Feuer, Lawinen oder Murgängen muss hingegen situationsbedingt entschieden werden.