Einleitung

Anfang der 1980er Jahre wurden Fachleute und die Öffentlichkeit durch flächige Waldschäden aufgeschreckt. Im Schwarzwald war es vor allem die Baumart Tanne, die massive Kronenschädigungen aufgrund von erhöhter Luftverschmutzung aufwies. Wissenschaftler wie Bernd Ulrich in Göttingen erkannten früh, dass der Stoffhaushalt der Wälder aus dem Gleichgewicht geraten war. Mit dem Sickerwasser wurden so hohe Nährelementmengen aus dem Wurzelraum der Bäume ausgetragen, dass die "nachschaffende Kraft des Bodens", die Verwitterung von Gesteinspartikeln und damit die Freisetzung von Nährelementen, diese Verluste nicht ausgleichen konnten. Gleichzeitig wurden unnatürlich hohe Säureeinträge mit dem Regen beobachtet, die eindeutig und überwiegend aus der Verbrennung schwefelhaltiger, fossiler Brennstoffe stammten. Dadurch wurden Nährstoffe, die bislang stabil im Boden gespeichert waren, ausgelaugt. Ulrich schloss sehr früh aus diesen Beobachtungen, dass eine langfristige Bodenversauerung und Schäden an den Waldbäumen durch Störung der Ernährungssituation unausweichlich seien.

Wie stellt man den Waldzustand fest?

Seit Beginn der Waldschadensdiskussion wird der Waldzustand anhand der gut nachvollziehbaren Merkmale des relativen Nadel-/Blattverlusts und der Vergilbung nach objektiven Regeln jährlich in einem gleichmäßigen Raster (in Baden-Württemberg 8x8 km) geschätzt (Abb. 1). Daneben werden im Rahmen einer umfangreichen Differentialdiagnose alle weiteren Baummerkmale erhoben, die einen Einfluss auf den Kronenzustand haben. Ziel der Waldschadensinventur ist es, aktuelle Informationen über den Waldzustand bereitzustellen und regionale Schadensschwerpunkte zu lokalisieren. Durch Veränderungen im zeitlichen Verlauf lassen sich Entwicklungen des Kronenzustandes für größere Waldregionen beziehungsweise einzelne Baumarten aufzeigen.

Eine kausale Interpretation des Kronenzustandes ist mit den Daten der Waldschadensinventur nur bedingt möglich. Hierfür bedarf es intensivere Untersuchungen auf speziell dafür angelegten Versuchsflächen (Level II). Jedoch eignet sich die Waldschadensinventur als objektiver Indikator für eine allgemeine Stressbelastung der Wälder, denn Bäume reagieren auf eingeschränkte Nährelement- und Wasserverfügbarkeit durch Anpassung der lebenden Kronenmasse an die Verfügbarkeit dieser lebenswichtigen Ressourcen. Bei Überfluss beschleunigen sie das Wachstum und bei Mangel reduzieren sie die Kronenmasse. Insofern ist der Nadel-/Blattverlust und die Vergilbung als schnell reagierende Frühwarnindikatoren für durch Umweltveränderungen ausgelöste Stressbelastungen zu werten, die ohne teure und zeitraubende Laboranalysen erfasst werden können. Insofern ist die Kronenzustandserfassung ähnlich wie das Fiebermessen in der Humanmedizin zu werten, das auch in einer hoch technisierten Medizin noch einen wichtigen Platz in der initialen Diagnose einnimmt.

Nachwirkungen des Sauren Regens und neuartiger Klimastress verstärken sich

Die Nachwirkungen der im Boden akkumulierten Wirkungen früherer Säureeinträge führen auch heute noch zu direkten und indirekten Belastungen der Wälder, obwohl die aktuellen Säureeinträge für sich genommen tolerabel wären. Das durch Bodenversauerung unnatürlich flachgründige Wurzelwerk der Bäume erfasst nur die oberen Bodenschichten, die verstärkt von durch Klimawandel bedingten Extremwetterlagen, wie zum Beispiel sommerliche Trockenphasen betroffen sind. Die Wirkungen der Bodenversauerung und die neu hinzugekommenen klimatischen Belastungen verstärken sich gegenseitig in ihrer Wirkung auf die Waldgesundheit.

Dem Wald geht es schlechter als vor 30 Jahren

Da mittlerweile mit gleichbleibenden Methoden Kronenzustandserfassungen seit Mitte der 1980er Jahre durchgeführt wurden, kann man jetzt die knapp 30-jährige Zeitreihe im Überblick interpretieren (Abb. 2). Die Zeitreihen wurden um Alterseffekte und regionale Effekte wie Regionalklima und Geologie bedingte Unterschiede bereinigt für die beiden Hauptbaumarten Buche und Fichte dargestellt. Für beide Baumarten ist in der bisherigen Aufnahmeperiode der Waldschadensinventur ein ansteigender Trend der Nadel-/Blattverluste festzustellen. In der Entwicklung der Kronenschäden über die Jahre ergeben sich jedoch deutliche Unterschiede. Während die Fichte zu Beginn der Erhebungsperiode gegenüber der Buche ein erhöhtes Schadniveau aufweist und der weitere Verlauf etwa bis zur Jahrtausendwende durch ein gleichbleibendes Niveau mit periodischen Schwankungen im Zehnjahresrhythmus gekennzeichnet ist, sind bei der Buche in der ersten Hälfte der Erhebungsperiode geringere Kronenschäden zu beobachten, die in deutlich kürzeren Abständen schwanken. Zu Beginn des neuen Jahrtausends nimmt der Schädigungsgrad der Baumkronen sowohl bei der Fichte als auch bei der Buche signifikant zu. Seither pendeln die Nadel-/Blattverluste wieder in den zuvor beobachteten Perioden weiter, jedoch nun auf einem erhöhten Schadniveau.

Erstaunlich ist, dass die in den vergangenen 10 bis 12 Jahren eingetretene Ver­schlechterung des Kronenzustands der Bäume mit den höchsten Nadel–/Blattverlusten in der gesamten Beobachtungsperiode zu keinem anhaltendes Echo in der öffentlichen Wahrnehmung geführt hat, das der Waldsterbensdiskussion Anfang der 1980er Jahre vergleichbar wäre. Der ansteigende Trend der Schadensintensität in den Wäldern steht vordergründig im Widerspruch zu dem starken Rückgang der Säureeinträge. Alle Indizien sprechen dafür, dass das Zusammenwirken der im Boden verbliebenen Bodenversauerung und dem durch häufigere und sich verstärkende Witterungsextreme die Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Wälder verursacht hat.

Die belastenden Umweltfaktoren wandeln sich

Die Ergebnisse der Waldschadensinventur der letzten 30 Jahre belegen einen Wandel der Umweltfaktoren, die auf den Waldzustand wirken. Standen Anfang der 1980er Jahre vor allem die Belastungen durch Schadstoffeinträge aus der Luft im Vordergrund, die zu einer langfristigen Versauerung und Stickstoffeutrophierung der Waldböden führten, treten in den letzten 15 Jahren verstärkt klimabedingte Belas­tungen auf. Neben hohen Frühjahrstemperaturen, einer längeren Vegetationszeit und milden Wintern, auf die sich die Waldökosysteme einstellen müssen, sind es vor allem die Zunahme von Witterungsextremen, insbesondere von Trocken- und Hitze­perioden sowie häufiger auftretenden Sturmereignissen, die zu erhöhten Schäden in den Wäldern führen. Daneben erhöht eine warm-trockene Witterung die Anfälligkeit der Bäume gegenüber biologischen Schaderregern wie zum Beispiel des Borkenkäfers oder blattfressender Insekten. Und auch die Ausbreitung neuer Schaderreger wie etwa das Eschentriebsterben kann zu einer existentiellen Bedrohung der betroffenen Bestände führen.

Verändertes Blühverhalten der Bäume

Zusätzlich ändert sich durch den Klimawandel das Blüh- und Fruchtverhalten der Waldbäume. Die Anlage von Blütenknospen wird maßgeblich durch warm-trockene Sommer gefördert, aus denen sich im Folgejahr Fruchtstände entwickeln können. Eine Häufung stärkerer Fruktifikationsjahre in den letzten eineinhalb Jahrzehnten, die eine deutliche Belastung des Kronenzustandes bewirken, ist anhand der Daten der Waldschadensinventur zu beobachten. Insbesondere bei der Baumart Buche ist in den letzten Jahren eine deutliche Zunahme von Jahren starker Fruktifikation festzustellen. Die Fruktifikationsrate der Buchen wird im Rahmen der Waldschadensinventur seit 1991 aufgenommen. Seither fallen die drei stärksten Mastjahre auf die Jahre 2009, 2011 und 2014.

Altlasten wirken nach

Neben den klimabedingten Umweltfaktoren und deren unmittelbaren Auswirkungen sind die Wälder weiterhin durch eine nach wie vor bestehende Bodenversauerung – ausgelöst durch hohe Schadstoffeinträge – belastet. Auch wenn die Gesamtsäureeinträge in die Wälder Baden-Württembergs in den letzten Jahren deutlich reduziert werden konnten, was nicht zuletzt als Erfolg der durch die Waldschadensdiskussion ausgelösten Umweltdebatte Anfang der 1980er Jahre angesehen werden kann, sind viele Waldböden weiterhin durch die "Altlast" Bodenversauerung geschädigt.

Widerstandsfähigkeit der Wälder weiter stärken

Unter dem Einfluss einer zunehmenden und neuen Belastung der Wälder aufgrund von sich verschärfenden Klimabedingungen ist es heute wichtiger denn je die Wider­standsfähigkeit der Wälder weiter zu stärken. Neben der Fortführung einer konse­quenten Luftreinhaltepolitik zur weiteren Reduzierung von Luftschadstoffen, insbe­sondere von Stickstoffverbindungen aus Verkehr und Landwirtschaft, ist es notwen­dig, auf anthropogen versauerten Standorten im Rahmen des langfristigen Kalkungskonzepts weiterhin Bodenschutzkalkungen bis zur vollständigen Regeneration der natürlichen Bodenfunktionen durchzuführen. Daneben wird in Baden-Württemberg seit langem das Konzept der naturnahen Waldbewirtschaftung angewandt, welche die Wälder zusätzlich gegenüber anderen Umweltfaktoren stabilisieren sollen. Durch den Aufbau naturnaher Mischwälder, eine standortsgerechte Baumartenwahl und Maßnahmen des integrierten Waldschutzes wird die Stabilität der Wälder gegenüber schädlichen Umwelteinflüssen gestärkt und ihre Anpassungsfähigkeit erhöht. Zusätzlich wird hinsichtlich der Baumartenwahl eine gezielte Beteiligung wärmeliebender und trockenheitstoleranter Baumarten (z. B. Eiche, Douglasie) angestrebt.