Um es gleich vorwegzunehmen: Eine Waldexkursion bei professionellen Waldfachleuten, Waldbesitzenden oder Waldökologen ist wohl durch nichts zu ersetzen. Der reale Besuch im Wald, Diskussionen zu Eigentümerzielsetzungen oder die Überprüfung waldbaulicher Konzepte verbunden mit Übungen zu Auszeichnen für Pflegemaßnahmen bleiben der Goldstandard für gute Lehre in berufsqualifizierenden forstlichen B.Sc.- und M.Sc.-Studiengängen.

Die Bedingungen der Covid19-Pandemie boten allerdings Anlass und erzwangen es auch, Lehre neu zu denken und einige Lehrangebote in digitaler Form zugänglich zu machen. Auch forstliche Exkursionsveranstaltungen des internationalen Austausches konnten aufgrund von Reisebeschränkungen nicht wie gewohnt stattfinden. Alternativen zum realen Waldbesuch mussten entsprechend entwickelt werden (vgl. z.B. http://sostenible.palencia.uva.es/content/virtual-forest-tours). Im Rahmen des vom BMEL finanzierten Projektes „3-Pfeile“ zum deutsch-japanischen Walddialog wurde daher mit der Darstellung digitalisierter Wälder begonnen, um diese für die Besucher auch über eine ferne Distanz in einer 360°-Umgebung, mit VR/AR (virtuelle/angereicherte Realität) sowie in Stereo-3D erlebbar zu machen. Diese grundsätzlichen Erarbeitungen können nun im forstlichen Austausch und in der Lehre als Spin-off des Forschungsprojektes genutzt werden.

Thema: Plenterwälder

Beispielhaft für digitale Walderkundungen wurden Plenterwälder im Landkreis Freudenstadt/ Schwarzwald (Baden-Württemberg) mittels hochauflösender Fototechnik und Drohneneinsatz vermessen, aufbereitet, mit Lerninhalten ergänzt und auf der Plattform www.36o.de/plenterwald verfügbar gemacht. Mit dieser digitalen Plattform wird nun eine erste Waldexploration zur Vorbereitung von Exkursionen, zum Selbststudium oder auch zur Begleitung von Vorlesungen in Präsenz möglich.

Unter dem Titel „Plenterwald und Plenterbewirtschaftung – eine digitale Kurzeinführung in 3D, 360° & interaktiv“ wurden folgende Teilaspekte bearbeitet:

  • Örtlichkeit und Standort
  • Struktur und Dimensionen im Plenterwald – einschließlich der Rolle intermediärer Bäume
  • Interviews mit örtlichem Personal mit langjähriger Betriebsleitungserfahrung im öffentlichen Wald und bäuerlichen Privatwald

und Themen wie:

  • Naturverjüngung
  • Vergleich Entwicklungsphasen Plenterwald & Urwald
  • Auszeichnen im Plenterwald“, „Risiken im Plenterwald
  • Wachstum im Plenterwald

Technische Umsetzung

Alle oben genannten Inhalte werden entweder aus Flugperspektive oder aus Augenhöhe erfahrbar gemacht. Dabei sind Wahlmöglichkeiten je nach Thema zwischen z. B. 360°-Rundumblick, 3D-Ansicht, kurzen Erklärvideos (insg. 15 Stk.), Tabellen, Grafiken, Merksätzen gegeben. Die 360°-Umgebung oder Blickpunkte in einer 3D-Ansicht sind sowohl mit anspruchsvoller 3D-Brille nutzbar oder anhand einer einfachen Pappbrille für 3D-Handyanwendungen vollständig durch die Nutzenden steuerbar. Sie ermöglichen u. a. durch die hohe Auflösung eine immersive Erfahrung, bei der die Nutzer direkt in den Wald eintauchen.

Es ist möglich, sich umzuschauen und einen quasi-realistischen Eindruck der insgesamt acht Waldbilder zu erhalten. Dabei werden zu ausgewählten Bäumen spezielle Informationen abgebildet, z. B. die Baumart, dendrometrische Kenngrößen wie Ansatzhöhe des grün- bzw. totastfreien Schaftes oder auch das Derbholzvolumen. Diese Zusatzinformationen werden jedoch erst bei gezieltem Anklicken eines Fragezeichens auf dem betreffenden Baum sichtbar, sodass der Charakter eines Quizz sichtbar wird und als Angebot zum selbstgesteuerten Lernen genutzt werden kann. Informationen zum Wachstum von Einzelbäumen oder fotografische Details werden in Thementafeln auf den betreffenden Seiten eingeblendet.

Die inhaltliche Anschlussfähigkeit wird durch die offene Programmierungsstruktur der Plattform ermöglicht: Die Bearbeitung weiterer Fragen, auch mit anderer, auch nicht-forstfachlicher Ausrichtung ist dadurch im Lehrkonzept bereits verankert. Bei passenden Abwandlungen ist die Plattform somit auch prinzipiell für andere Fachrichtungen offen.

Didaktisches Konzept

Die Herangehensweise ist mehrstufig: zunächst kann die Plattform wie erwähnt als Exkursionsersatz und Vorbereitung für Präsenzformate eingesetzt werden. Im konkreten Fall wurde dabei jedoch schon im Prozess der Erstellung didaktisches Neuland beschritten: In einem studiengangübergreifenden Kooperationsformat erarbeiteten Studierende des HFR-Masterstudiengangs Forstwirtschaft aus der Literatur diejenigen Inhaltsbausteine z. B. in Form von Grafiken und Merksätzen, die sich auf die Wachstumszusammenhänge beziehen, um den jüngeren B.Sc.-Kommilitonen die Besonderheiten der Plenterwaldbewirtschaftung näher zu bringen (Lehrformat „Lernen durch Lehren“). Zudem war es Aufgabe der Master-Studierenden, den B.Sc.-Studierenden die Plenterbewirtschaftung mithilfe der neuen durch sie selbst inhaltlich angereicherten digitalen Plattform und einer von ihnen erstellten Präsentation im Rahmen einer Online-Veranstaltung eigenständig vorzustellen. Im weiteren Studienablauf wird dann für die B.Sc.-Studierenden (wenn/ da jetzt Exkursionen wieder möglich sind) eine Vor-Ort-Erkundung folgen, mit der die digital gewonnenen Eindrücke überprüft und vertieft werden können.

Dieser mehrstufige Lehransatz spricht sehr unterschiedliche Kompetenzen an (z. B. systemisches Denken im komplexen Ökosystem Wald, vorausschauendes Denken angesichts langsamer Wachstumsprozesse, kritisches Denken im gesellschaftlichen Diskurs um die Naturressource Wald oder die selbstkritische Wahrnehmung, d. h. die Wirkung der starken visuellen Reize auf sich selbst und andere). Es werden dabei vertiefende, diskursfördernde Informationen zu den Gegebenheiten auf den jeweiligen Plattformbereichen bereitgestellt. Zudem werden intensive Lernerfahrungen angestoßen und die Motivation über einen spielerischen Erkundungsansatz (auch kooperativ zwischen Studierenden sowie in Interaktion von Lehrenden und Lernenden) geweckt. Für das Selbststudium ist die Plattform so gestaltet, dass die Eigenmotivation und Selbststeuerung der Studierenden angeregt werden und so im besten Fall der Lernerfolg gesichert wird. Die digitale Waldplattform ist zusätzlich in zentrale Themenbereiche (sog. Lerneinheiten) gegliedert, die als mehrperspektivische Betrachtungskategorien zur Waldbeurteilung dienen und gleichzeitig auch Lernziele darstellen.

Bezug zu UN-Nachhaltigkeitszielen

Gleichfalls erfüllt diese neue Art des Lernens eine Reihe von Zielen für eine nachhaltige Entwicklung, den von den UN entworfenen 17 SDGs (Sustainable Development Goals) und kann somit zur „Transformation unserer Welt“ beitragen. Zentrale ökologische Aspekte, wie das nachhaltige Bewirtschaften von natürlichen Ressourcen (SDG 15) können jetzt durch den erleichterten Zugang zu Wissen (SDG 4) sogar klimaneutral, bzw. emissionsreduziert (SDG 12) sowie global (SDG 17) abgerufen und zumindest ansatzweise vermittelt werden. Dieser neue Zugang wird aktuell nicht nur für die eigenen Studierenden wichtig, sondern insbesondere auch für internationale Gäste, die z. B. im Rahmen von Summer-Schools gerne Wälder in Deutschland besuchen möchten und denen eine Reise zurzeit nicht möglich ist. Im besonderen Fokus standen bei dieser beispielhaften Erarbeitung zur Einführung in die Plenterwaldbewirtschaftung vor allem die mehr als 50 Studierenden und Professoren aus Japan, die alljährlich im Herbst zu einer forstlichen Exkursionswoche die Wälder im Südwesten „live“ erleben wollten und nun mittels der digitalen 360o-Waldplattform zumindest eine realitätsnahe Alternative erleben können.

Pfade zur Weiterentwicklung

Weitere Waldaufbauformen oder Bewirtschaftungen werden künftig in diesem Format präsentiert. Die Plattform wurde dabei auch auf Mehrsprachigkeit (u. a. Englisch, Japanisch) ausgelegt, die sich auf alle o. g. Darstellungsformen erstreckt (d. h. auch Film, Foto, Tabelle, Grafik, Text, Quizz, usw.). Die bisherigen Erfahrungen zeigen zudem, dass mit dieser Plattform weitergehende Bildungserfahrungen in BNE-Folgeprojekten (z. B. Studiengänge Nachhaltiges Regionalmanagement mit naturnahem Tourismus und Gesundheitsförderung) unter verschiedenen Fragenstellungen (z. B. Audio-Erlebnisse, kontemplative Achtsamkeit, Sensorik über Gerüche) entwickelt werden können.

Auch wird in Zukunft die Plattform als Gegenstand hochschuldidaktischer Forschung genutzt (z. B. durch intensivere & wiederholte studentische Evaluationen, sowie durch Gegenüberstellungen des Lehr-Lern-Erfolges von studentischen Kohorten „digitale/3D-VR-360° vs. Präsenz/Exkursions-Lehre“), auch mit Integration erziehungswissenschaftlicher Fachkollegen. Diese Frage könnte in einer folgenden Lehrveranstaltung aufgegriffen werden, wenn in Nach-Corona-Zeiten auch wieder alle Lehrfahrten möglich sind.

Spannend wird es künftig sein, genau zu beobachten, wie mithilfe dieser neuen digitalen Technologien die Erfahrungen und das Studium von „Wald“ ergänzt und vermittelt werden kann. Die neue Technologie soll dabei jedoch eher als Erweiterung von Präsenz-Besuchen und nicht als deren genereller Ersatz verstanden werden. Die Plattform wurde inzwischen im November 2021 beim "Digital Award" der Bundeskampagne „50 Jahre HAWs" mit dem 1. Platz sowie mit dem Publikumspreis ausgezeichnet. Sie ist in zwischen inkl. aller Kurzvideos als Open Educational Ressource (OER) auf ZOERR.DE mit der Lizenz CC-BY bzw. CC-BY-ND verfügbar.